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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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der Passendsten" angeschaut unsere Kulturmenschheit eine an¬
scheinend verhängnisvolle Schwenkung gemacht hat. Indem
wir auch schwächliche Kinder mühsam aufpäppeln, Kranke er¬
halten, alle möglichen degenerierten Elemente aus ethischen
Gründen immer wieder in unseren lebendigen Gesellschaftskörper
hineinziehen, scheinen wir mit unserer Moral jenem Prinzip
der Ausmerzung des Schlechten zu Gunsten des Besten direkt ent¬
gegen zu arbeiten. Anderseits steckt aber gerade im allmählichen
Eingehen dieser Mitleidsmoral in Fleisch und Blut der Mensch¬
heit der höchste Triumph und Fortschritt aller Kultur.

Nun läßt sich ja darüber streiten, ob dieses Dilemma
nicht doch einen Fehler in der Logik enthält, so daß es vor¬
läufig bloß Weisheit am grünen Tisch, aber nicht am grünen
Baum des Lebens wäre. Es fragt sich, ob das Mitleid nicht
in weit rascherem Gange als Grundlage sozialer Besserungen
selber ungezählte Möglichkeiten der Degeneration und Krank¬
heit beseitigt und damit ein strahlendes Plus giebt, gegen das
jenes Minus doppelt und dreifach verschwindet. Und es fragt
sich ferner, wie viel wir denn im ganzen schon wissen von
den tiefsten Geheimnissen des Entwickelungsfortschrittes über¬
haupt, trotz des an sich zweifellos richtigen, aber erst nach¬
träglichen Zuchtwahlprinzips. Nach Darwins Prinzip liest
der Daseinskampf oder, allgemeiner, überhaupt die allgemeine
Lebenslage auf Erden aus so und so viel aufsteigenden Varie¬
täten einer Tier- oder Pflanzenart beständig die brauchbaren,
fortschrittlichen aus und wirft die unbrauchbaren unter den
Tisch. Dieses Prinzip ist gewiß ein eisern logisches. Aber
bis heute sind wir noch immer in voller Unkenntnis, welche
Ursache nun das ursprüngliche Prozentverhältnis der auftauchenden
brauchbaren und unbrauchbaren Lösungen unter den Varianten
an und für bestimme. Wir wissen nicht, ob es selber wächst
oder abnimmt und was in dieser Zu- und Abnahme für ein
Entwickelungsurgesetz steckt. Denn eine Ursache müssen diese
Varianten, aus denen gewählt wird, ja doch sämtlich für sich

der Paſſendſten“ angeſchaut unſere Kulturmenſchheit eine an¬
ſcheinend verhängnisvolle Schwenkung gemacht hat. Indem
wir auch ſchwächliche Kinder mühſam aufpäppeln, Kranke er¬
halten, alle möglichen degenerierten Elemente aus ethiſchen
Gründen immer wieder in unſeren lebendigen Geſellſchaftskörper
hineinziehen, ſcheinen wir mit unſerer Moral jenem Prinzip
der Ausmerzung des Schlechten zu Gunſten des Beſten direkt ent¬
gegen zu arbeiten. Anderſeits ſteckt aber gerade im allmählichen
Eingehen dieſer Mitleidsmoral in Fleiſch und Blut der Menſch¬
heit der höchſte Triumph und Fortſchritt aller Kultur.

Nun läßt ſich ja darüber ſtreiten, ob dieſes Dilemma
nicht doch einen Fehler in der Logik enthält, ſo daß es vor¬
läufig bloß Weisheit am grünen Tiſch, aber nicht am grünen
Baum des Lebens wäre. Es fragt ſich, ob das Mitleid nicht
in weit raſcherem Gange als Grundlage ſozialer Beſſerungen
ſelber ungezählte Möglichkeiten der Degeneration und Krank¬
heit beſeitigt und damit ein ſtrahlendes Plus giebt, gegen das
jenes Minus doppelt und dreifach verſchwindet. Und es fragt
ſich ferner, wie viel wir denn im ganzen ſchon wiſſen von
den tiefſten Geheimniſſen des Entwickelungsfortſchrittes über¬
haupt, trotz des an ſich zweifellos richtigen, aber erſt nach¬
träglichen Zuchtwahlprinzips. Nach Darwins Prinzip lieſt
der Daſeinskampf oder, allgemeiner, überhaupt die allgemeine
Lebenslage auf Erden aus ſo und ſo viel aufſteigenden Varie¬
täten einer Tier- oder Pflanzenart beſtändig die brauchbaren,
fortſchrittlichen aus und wirft die unbrauchbaren unter den
Tiſch. Dieſes Prinzip iſt gewiß ein eiſern logiſches. Aber
bis heute ſind wir noch immer in voller Unkenntnis, welche
Urſache nun das urſprüngliche Prozentverhältnis der auftauchenden
brauchbaren und unbrauchbaren Löſungen unter den Varianten
an und für beſtimme. Wir wiſſen nicht, ob es ſelber wächſt
oder abnimmt und was in dieſer Zu- und Abnahme für ein
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[197/0213] der Paſſendſten“ angeſchaut unſere Kulturmenſchheit eine an¬ ſcheinend verhängnisvolle Schwenkung gemacht hat. Indem wir auch ſchwächliche Kinder mühſam aufpäppeln, Kranke er¬ halten, alle möglichen degenerierten Elemente aus ethiſchen Gründen immer wieder in unſeren lebendigen Geſellſchaftskörper hineinziehen, ſcheinen wir mit unſerer Moral jenem Prinzip der Ausmerzung des Schlechten zu Gunſten des Beſten direkt ent¬ gegen zu arbeiten. Anderſeits ſteckt aber gerade im allmählichen Eingehen dieſer Mitleidsmoral in Fleiſch und Blut der Menſch¬ heit der höchſte Triumph und Fortſchritt aller Kultur. Nun läßt ſich ja darüber ſtreiten, ob dieſes Dilemma nicht doch einen Fehler in der Logik enthält, ſo daß es vor¬ läufig bloß Weisheit am grünen Tiſch, aber nicht am grünen Baum des Lebens wäre. Es fragt ſich, ob das Mitleid nicht in weit raſcherem Gange als Grundlage ſozialer Beſſerungen ſelber ungezählte Möglichkeiten der Degeneration und Krank¬ heit beſeitigt und damit ein ſtrahlendes Plus giebt, gegen das jenes Minus doppelt und dreifach verſchwindet. Und es fragt ſich ferner, wie viel wir denn im ganzen ſchon wiſſen von den tiefſten Geheimniſſen des Entwickelungsfortſchrittes über¬ haupt, trotz des an ſich zweifellos richtigen, aber erſt nach¬ träglichen Zuchtwahlprinzips. Nach Darwins Prinzip lieſt der Daſeinskampf oder, allgemeiner, überhaupt die allgemeine Lebenslage auf Erden aus ſo und ſo viel aufſteigenden Varie¬ täten einer Tier- oder Pflanzenart beſtändig die brauchbaren, fortſchrittlichen aus und wirft die unbrauchbaren unter den Tiſch. Dieſes Prinzip iſt gewiß ein eiſern logiſches. Aber bis heute ſind wir noch immer in voller Unkenntnis, welche Urſache nun das urſprüngliche Prozentverhältnis der auftauchenden brauchbaren und unbrauchbaren Löſungen unter den Varianten an und für beſtimme. Wir wiſſen nicht, ob es ſelber wächſt oder abnimmt und was in dieſer Zu- und Abnahme für ein Entwickelungsurgeſetz ſteckt. Denn eine Urſache müſſen dieſe Varianten, aus denen gewählt wird, ja doch ſämtlich für ſich

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 197. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/213>, abgerufen am 24.11.2024.