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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Heringe noch einmal vor Augen. Du stehst beim Fisch. Also
hoch über dem Wurm, mit beiden Beinen in der engeren
Reihe schon der Wirbeltiere. Schon sind Magen und After,
Rückenmark und Gehirn aufs schönste vorhanden, schon ist
jenes harte Brett, das Rückgrat, stützend in die Körperllänge
eingefügt, schon hat die Kapsel um das Gehirn sich zum
Schädel gefestigt und an diesem Schädel sich der beißende
Kiefernapparat zur Schnauze geformt. Mit den Flossen sind
die Gliedmaßen angedeutet und die Schwimmblase enthält
gleichsam prophetisch bereits die Möglichkeit einer Lunge.
Sicher: wenn du dich aufsuchst in all deinen tierischen Ahnen¬
stufen, so warst du als Fisch dem Menschen schon unvergleich¬
lich viel näher, als etwa die Urzelle es dem Fische gewesen
ist. Dein Menschenhaus, dort noch ein einsamer Grundstein,
stand hier im Rohbau schon völlig ausgezimmert. Und doch
siehst du bei solchen Fischen noch die ganze alte offene Zeugungs¬
methode in fröhlichem Gange, und du siehst im Gange auch
die üppigste Verschwendung der Geschlechtsprodukte.

Sie sind längst nicht mehr angewachsen, diese Heringe
unseres Bildes. Kein Wirbeltier ist es mehr. Das letzte
Volk von in diesem alten, pflanzenartigen Sinne seßhaften
Tieren, das deine Menschenlinie berührt, sind jene kuriosen
Ascidien, die gleichsam auf der Brücke zwischen Wurm und
Wirbeltier stehen, als junges Tierlein eine erste Anlage zu
einem Rückgrat besitzen, später aber wie faule Kartoffeln fest¬
hocken und sich so als stehen gebliebener Seitenzweig, als ge¬
fallene Engel gleichsam der Menschheitsentwickelung, erweisen.
Der Fisch also mag für gewöhnlich frei in seines Elementes
weitesten Provinzen hausen, wo er will. Zur Reifezeit seiner
Geschlechtsprodukte erst mag er sich dann näher zu seines
Gleichen gesellen, und wirklich siehst du jetzt die fidelen Hering¬
lein aus allen Tiefen ansteigen zum heiligen Zeugungsfest.
Es ist gewissermaßen der einzige große religiöse Moment ihres
Lebens. Denn die Religion stellt diejenige Stimmung ja

Heringe noch einmal vor Augen. Du ſtehſt beim Fiſch. Alſo
hoch über dem Wurm, mit beiden Beinen in der engeren
Reihe ſchon der Wirbeltiere. Schon ſind Magen und After,
Rückenmark und Gehirn aufs ſchönſte vorhanden, ſchon iſt
jenes harte Brett, das Rückgrat, ſtützend in die Körperllänge
eingefügt, ſchon hat die Kapſel um das Gehirn ſich zum
Schädel gefeſtigt und an dieſem Schädel ſich der beißende
Kiefernapparat zur Schnauze geformt. Mit den Floſſen ſind
die Gliedmaßen angedeutet und die Schwimmblaſe enthält
gleichſam prophetiſch bereits die Möglichkeit einer Lunge.
Sicher: wenn du dich aufſuchſt in all deinen tieriſchen Ahnen¬
ſtufen, ſo warſt du als Fiſch dem Menſchen ſchon unvergleich¬
lich viel näher, als etwa die Urzelle es dem Fiſche geweſen
iſt. Dein Menſchenhaus, dort noch ein einſamer Grundſtein,
ſtand hier im Rohbau ſchon völlig ausgezimmert. Und doch
ſiehſt du bei ſolchen Fiſchen noch die ganze alte offene Zeugungs¬
methode in fröhlichem Gange, und du ſiehſt im Gange auch
die üppigſte Verſchwendung der Geſchlechtsprodukte.

Sie ſind längſt nicht mehr angewachſen, dieſe Heringe
unſeres Bildes. Kein Wirbeltier iſt es mehr. Das letzte
Volk von in dieſem alten, pflanzenartigen Sinne ſeßhaften
Tieren, das deine Menſchenlinie berührt, ſind jene kurioſen
Ascidien, die gleichſam auf der Brücke zwiſchen Wurm und
Wirbeltier ſtehen, als junges Tierlein eine erſte Anlage zu
einem Rückgrat beſitzen, ſpäter aber wie faule Kartoffeln feſt¬
hocken und ſich ſo als ſtehen gebliebener Seitenzweig, als ge¬
fallene Engel gleichſam der Menſchheitsentwickelung, erweiſen.
Der Fiſch alſo mag für gewöhnlich frei in ſeines Elementes
weiteſten Provinzen hauſen, wo er will. Zur Reifezeit ſeiner
Geſchlechtsprodukte erſt mag er ſich dann näher zu ſeines
Gleichen geſellen, und wirklich ſiehſt du jetzt die fidelen Hering¬
lein aus allen Tiefen anſteigen zum heiligen Zeugungsfeſt.
Es iſt gewiſſermaßen der einzige große religiöſe Moment ihres
Lebens. Denn die Religion ſtellt diejenige Stimmung ja

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[202/0218] Heringe noch einmal vor Augen. Du ſtehſt beim Fiſch. Alſo hoch über dem Wurm, mit beiden Beinen in der engeren Reihe ſchon der Wirbeltiere. Schon ſind Magen und After, Rückenmark und Gehirn aufs ſchönſte vorhanden, ſchon iſt jenes harte Brett, das Rückgrat, ſtützend in die Körperllänge eingefügt, ſchon hat die Kapſel um das Gehirn ſich zum Schädel gefeſtigt und an dieſem Schädel ſich der beißende Kiefernapparat zur Schnauze geformt. Mit den Floſſen ſind die Gliedmaßen angedeutet und die Schwimmblaſe enthält gleichſam prophetiſch bereits die Möglichkeit einer Lunge. Sicher: wenn du dich aufſuchſt in all deinen tieriſchen Ahnen¬ ſtufen, ſo warſt du als Fiſch dem Menſchen ſchon unvergleich¬ lich viel näher, als etwa die Urzelle es dem Fiſche geweſen iſt. Dein Menſchenhaus, dort noch ein einſamer Grundſtein, ſtand hier im Rohbau ſchon völlig ausgezimmert. Und doch ſiehſt du bei ſolchen Fiſchen noch die ganze alte offene Zeugungs¬ methode in fröhlichem Gange, und du ſiehſt im Gange auch die üppigſte Verſchwendung der Geſchlechtsprodukte. Sie ſind längſt nicht mehr angewachſen, dieſe Heringe unſeres Bildes. Kein Wirbeltier iſt es mehr. Das letzte Volk von in dieſem alten, pflanzenartigen Sinne ſeßhaften Tieren, das deine Menſchenlinie berührt, ſind jene kurioſen Ascidien, die gleichſam auf der Brücke zwiſchen Wurm und Wirbeltier ſtehen, als junges Tierlein eine erſte Anlage zu einem Rückgrat beſitzen, ſpäter aber wie faule Kartoffeln feſt¬ hocken und ſich ſo als ſtehen gebliebener Seitenzweig, als ge¬ fallene Engel gleichſam der Menſchheitsentwickelung, erweiſen. Der Fiſch alſo mag für gewöhnlich frei in ſeines Elementes weiteſten Provinzen hauſen, wo er will. Zur Reifezeit ſeiner Geſchlechtsprodukte erſt mag er ſich dann näher zu ſeines Gleichen geſellen, und wirklich ſiehſt du jetzt die fidelen Hering¬ lein aus allen Tiefen anſteigen zum heiligen Zeugungsfeſt. Es iſt gewiſſermaßen der einzige große religiöſe Moment ihres Lebens. Denn die Religion ſtellt diejenige Stimmung ja

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/218>, abgerufen am 24.11.2024.