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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Die Empfindungen aller übrigen Menschen und Wesen um uns
her erraten wir stets nur auf Grund eines Analogie-Schlusses.

Ins Herz seiner Empfindungen selbst sehen wir keinem
anderen hinein. Immer ist ein Umweg über einen Schluß
nötig. Dich pikt einer mit einer Nadel und du schreist vor
Schmerz auf. Du pikst einen anderen Menschen und er schreit
auch. Schluß: er wird wohl auch Schmerz empfunden haben.
Aber die Empfindung selber gewahrst du niemals, es ist eben
nur ein Schluß, bei dem das wichtigste Glied ergänzt wird.

Wenn ich eine Sprechmaschine erfinde, die auf einen
Nadelstich hin Au! schreit, so ist der Schluß in dieser Nackt¬
heit schon bedenklich. Wenn ich fröhlichen Herzens und ver¬
liebt bin, singe ich. Wenn der Kuckuck im Sommerwalde
Kuckuck ruft, so schließe ich, daß er auch lustig und der Liebe
voll ist. Aber auch meine Kuckucksuhr zu Hause ruft zwölf¬
mal Kuckuck, wenn der Zeiger ihrer Maschine die Ziffer Zwölf
berührt. Ich muß offenbar für meinen Empfindungsschluß noch
anderes zu Hilfe nehmen.

Ich betrachte mich also im Spiegel und schaue dann die
anderen Menschen an. Und die Ähnlichkeit ist so frappant,
daß ich einen engeren Beweis zu haben glaube. Ich sehe doch
total anders aus als eine Kuckucksuhr, und du und der und
jener Mensch ebenso. Nur wer auch wie ich annähernd
wenigstens dreinschaut, der wird also wohl zwischen dem
Nadelpiken und der Luftwelle "Au!" eine Empfindung haben.
Aber der Kuckuck schaut ja schon keineswegs wie ein Mensch
aus. Nun so brauche ich eben noch eine Hilfe.

Ich habe erkannt, daß das Piken und das Au bei
den anderen Menschen in einem entschiedenen Zusammenhang
stehen mit einer gewissen grauen Zellmasse, die als Nerven¬
gerank, Rückenmark und Hirn im Körper dieser Menschen steckt.
Ich erkenne aber die sichersten Anzeichen dafür, daß solche
kuriosen Sächelchen auch in meinem eigenen liebwerten Körper
enthalten sind und daß sie hier gerade mit meiner Empfindung

Die Empfindungen aller übrigen Menſchen und Weſen um uns
her erraten wir ſtets nur auf Grund eines Analogie-Schluſſes.

Ins Herz ſeiner Empfindungen ſelbſt ſehen wir keinem
anderen hinein. Immer iſt ein Umweg über einen Schluß
nötig. Dich pikt einer mit einer Nadel und du ſchreiſt vor
Schmerz auf. Du pikſt einen anderen Menſchen und er ſchreit
auch. Schluß: er wird wohl auch Schmerz empfunden haben.
Aber die Empfindung ſelber gewahrſt du niemals, es iſt eben
nur ein Schluß, bei dem das wichtigſte Glied ergänzt wird.

Wenn ich eine Sprechmaſchine erfinde, die auf einen
Nadelſtich hin Au! ſchreit, ſo iſt der Schluß in dieſer Nackt¬
heit ſchon bedenklich. Wenn ich fröhlichen Herzens und ver¬
liebt bin, ſinge ich. Wenn der Kuckuck im Sommerwalde
Kuckuck ruft, ſo ſchließe ich, daß er auch luſtig und der Liebe
voll iſt. Aber auch meine Kuckucksuhr zu Hauſe ruft zwölf¬
mal Kuckuck, wenn der Zeiger ihrer Maſchine die Ziffer Zwölf
berührt. Ich muß offenbar für meinen Empfindungsſchluß noch
anderes zu Hilfe nehmen.

Ich betrachte mich alſo im Spiegel und ſchaue dann die
anderen Menſchen an. Und die Ähnlichkeit iſt ſo frappant,
daß ich einen engeren Beweis zu haben glaube. Ich ſehe doch
total anders aus als eine Kuckucksuhr, und du und der und
jener Menſch ebenſo. Nur wer auch wie ich annähernd
wenigſtens dreinſchaut, der wird alſo wohl zwiſchen dem
Nadelpiken und der Luftwelle „Au!“ eine Empfindung haben.
Aber der Kuckuck ſchaut ja ſchon keineswegs wie ein Menſch
aus. Nun ſo brauche ich eben noch eine Hilfe.

Ich habe erkannt, daß das Piken und das Au bei
den anderen Menſchen in einem entſchiedenen Zuſammenhang
ſtehen mit einer gewiſſen grauen Zellmaſſe, die als Nerven¬
gerank, Rückenmark und Hirn im Körper dieſer Menſchen ſteckt.
Ich erkenne aber die ſicherſten Anzeichen dafür, daß ſolche
kurioſen Sächelchen auch in meinem eigenen liebwerten Körper
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[294/0310] Die Empfindungen aller übrigen Menſchen und Weſen um uns her erraten wir ſtets nur auf Grund eines Analogie-Schluſſes. Ins Herz ſeiner Empfindungen ſelbſt ſehen wir keinem anderen hinein. Immer iſt ein Umweg über einen Schluß nötig. Dich pikt einer mit einer Nadel und du ſchreiſt vor Schmerz auf. Du pikſt einen anderen Menſchen und er ſchreit auch. Schluß: er wird wohl auch Schmerz empfunden haben. Aber die Empfindung ſelber gewahrſt du niemals, es iſt eben nur ein Schluß, bei dem das wichtigſte Glied ergänzt wird. Wenn ich eine Sprechmaſchine erfinde, die auf einen Nadelſtich hin Au! ſchreit, ſo iſt der Schluß in dieſer Nackt¬ heit ſchon bedenklich. Wenn ich fröhlichen Herzens und ver¬ liebt bin, ſinge ich. Wenn der Kuckuck im Sommerwalde Kuckuck ruft, ſo ſchließe ich, daß er auch luſtig und der Liebe voll iſt. Aber auch meine Kuckucksuhr zu Hauſe ruft zwölf¬ mal Kuckuck, wenn der Zeiger ihrer Maſchine die Ziffer Zwölf berührt. Ich muß offenbar für meinen Empfindungsſchluß noch anderes zu Hilfe nehmen. Ich betrachte mich alſo im Spiegel und ſchaue dann die anderen Menſchen an. Und die Ähnlichkeit iſt ſo frappant, daß ich einen engeren Beweis zu haben glaube. Ich ſehe doch total anders aus als eine Kuckucksuhr, und du und der und jener Menſch ebenſo. Nur wer auch wie ich annähernd wenigſtens dreinſchaut, der wird alſo wohl zwiſchen dem Nadelpiken und der Luftwelle „Au!“ eine Empfindung haben. Aber der Kuckuck ſchaut ja ſchon keineswegs wie ein Menſch aus. Nun ſo brauche ich eben noch eine Hilfe. Ich habe erkannt, daß das Piken und das Au bei den anderen Menſchen in einem entſchiedenen Zuſammenhang ſtehen mit einer gewiſſen grauen Zellmaſſe, die als Nerven¬ gerank, Rückenmark und Hirn im Körper dieſer Menſchen ſteckt. Ich erkenne aber die ſicherſten Anzeichen dafür, daß ſolche kurioſen Sächelchen auch in meinem eigenen liebwerten Körper enthalten ſind und daß ſie hier gerade mit meiner Empfindung

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/310>, abgerufen am 22.11.2024.