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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

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Tieren, Leichen, Instrumenten und so weiter schließlich doch
keine ernsthafte Fortentwickelung erfuhr, wird endlich als
Faktor eingestellt in die Beziehungen zweier Menschen zu ein¬
ander, die von einem ganz anderen, seelischen Boden aus in
eine höhere Gemeinschaft, eine ganz bestimmte Individuums-
Bildung bereits eingetreten sind. Sie wird der rohe Natur¬
bursche zunächst auch solcher Alliance sein, zweifellos. Aber
es fragt sich, ob sie von hier nicht doch zu erziehen ist, --
sie, die von ihren Ur-Anfängen an eigentlich ein Harmonie-
Gefühl zwischen zwei körperlich verschmelzenden Individuen
war, -- die dann sich auf eine Distance-Ecke zu äußerst fest¬
setzte bei den Vielzellern, den Deck-Individuen Mann und
Weib, -- und die jetzt die Möglichkeit hätte, wieder in einen
echten geistigen Verschmelzungsversuch einzulenken.

Die Bahn dieser Entwickelung liegt zum Teil schon
offen in der Chronik der Einzelehe und alles dessen, was
damit zusammenhängt, vor. Zum besten Teil freilich steckt sie
in einer Ehe (cum grano salis), die noch nicht hinter uns
Menschen von heute liegt, sondern erst vor uns.

Das macht die Sache abermals grundschwierig.

Ein ganz neues, fernes, dämmerblaues Schneegebirge
taucht vor uns auf.

Alles meldet sich, was wir voreinst bereits über die Ehe-
Anfänge geredet haben. Das Wort fällt aber selber wie eine
Deckhülle von einem noch sehr viel tieferen Problem.

Wir haben vom Liebes-Individuum bisher immer nur
gesprochen als überhaupt "Mann und Weib". In dieser
Gegensätzlichkeit lag alles. Wir beobachteten ihre Mittel, sich
zu finden, zu binden, das höhere Individuum zu gründen, den
Misch-Akt einzuleiten und so weiter. Wie nun, wenn sich
in diesen Zusammenschluß von Mann und Weib nochmals viel
feinere Motive mischen?

Nicht mehr bloß Mann und Weib im Sinne des nötigen
Geschlechtsgegensatzes.

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Tieren, Leichen, Inſtrumenten und ſo weiter ſchließlich doch
keine ernſthafte Fortentwickelung erfuhr, wird endlich als
Faktor eingeſtellt in die Beziehungen zweier Menſchen zu ein¬
ander, die von einem ganz anderen, ſeeliſchen Boden aus in
eine höhere Gemeinſchaft, eine ganz beſtimmte Individuums-
Bildung bereits eingetreten ſind. Sie wird der rohe Natur¬
burſche zunächſt auch ſolcher Alliance ſein, zweifellos. Aber
es fragt ſich, ob ſie von hier nicht doch zu erziehen iſt, —
ſie, die von ihren Ur-Anfängen an eigentlich ein Harmonie-
Gefühl zwiſchen zwei körperlich verſchmelzenden Individuen
war, — die dann ſich auf eine Diſtance-Ecke zu äußerſt feſt¬
ſetzte bei den Vielzellern, den Deck-Individuen Mann und
Weib, — und die jetzt die Möglichkeit hätte, wieder in einen
echten geiſtigen Verſchmelzungsverſuch einzulenken.

Die Bahn dieſer Entwickelung liegt zum Teil ſchon
offen in der Chronik der Einzelehe und alles deſſen, was
damit zuſammenhängt, vor. Zum beſten Teil freilich ſteckt ſie
in einer Ehe (cum grano salis), die noch nicht hinter uns
Menſchen von heute liegt, ſondern erſt vor uns.

Das macht die Sache abermals grundſchwierig.

Ein ganz neues, fernes, dämmerblaues Schneegebirge
taucht vor uns auf.

Alles meldet ſich, was wir voreinſt bereits über die Ehe-
Anfänge geredet haben. Das Wort fällt aber ſelber wie eine
Deckhülle von einem noch ſehr viel tieferen Problem.

Wir haben vom Liebes-Individuum bisher immer nur
geſprochen als überhaupt „Mann und Weib“. In dieſer
Gegenſätzlichkeit lag alles. Wir beobachteten ihre Mittel, ſich
zu finden, zu binden, das höhere Individuum zu gründen, den
Miſch-Akt einzuleiten und ſo weiter. Wie nun, wenn ſich
in dieſen Zuſammenſchluß von Mann und Weib nochmals viel
feinere Motive miſchen?

Nicht mehr bloß Mann und Weib im Sinne des nötigen
Geſchlechtsgegenſatzes.

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[323/0339] Tieren, Leichen, Inſtrumenten und ſo weiter ſchließlich doch keine ernſthafte Fortentwickelung erfuhr, wird endlich als Faktor eingeſtellt in die Beziehungen zweier Menſchen zu ein¬ ander, die von einem ganz anderen, ſeeliſchen Boden aus in eine höhere Gemeinſchaft, eine ganz beſtimmte Individuums- Bildung bereits eingetreten ſind. Sie wird der rohe Natur¬ burſche zunächſt auch ſolcher Alliance ſein, zweifellos. Aber es fragt ſich, ob ſie von hier nicht doch zu erziehen iſt, — ſie, die von ihren Ur-Anfängen an eigentlich ein Harmonie- Gefühl zwiſchen zwei körperlich verſchmelzenden Individuen war, — die dann ſich auf eine Diſtance-Ecke zu äußerſt feſt¬ ſetzte bei den Vielzellern, den Deck-Individuen Mann und Weib, — und die jetzt die Möglichkeit hätte, wieder in einen echten geiſtigen Verſchmelzungsverſuch einzulenken. Die Bahn dieſer Entwickelung liegt zum Teil ſchon offen in der Chronik der Einzelehe und alles deſſen, was damit zuſammenhängt, vor. Zum beſten Teil freilich ſteckt ſie in einer Ehe (cum grano salis), die noch nicht hinter uns Menſchen von heute liegt, ſondern erſt vor uns. Das macht die Sache abermals grundſchwierig. Ein ganz neues, fernes, dämmerblaues Schneegebirge taucht vor uns auf. Alles meldet ſich, was wir voreinſt bereits über die Ehe- Anfänge geredet haben. Das Wort fällt aber ſelber wie eine Deckhülle von einem noch ſehr viel tieferen Problem. Wir haben vom Liebes-Individuum bisher immer nur geſprochen als überhaupt „Mann und Weib“. In dieſer Gegenſätzlichkeit lag alles. Wir beobachteten ihre Mittel, ſich zu finden, zu binden, das höhere Individuum zu gründen, den Miſch-Akt einzuleiten und ſo weiter. Wie nun, wenn ſich in dieſen Zuſammenſchluß von Mann und Weib nochmals viel feinere Motive miſchen? Nicht mehr bloß Mann und Weib im Sinne des nötigen Geſchlechtsgegenſatzes. 21*

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/339>, abgerufen am 22.11.2024.