Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

im Geist. Und seine Hand greift zum Pinsel und schafft
äußerlich aus Ölfarben auf einer fremden stofflichen Fläche
einen Abglanz dieses erhabenen ästhetischen Traums. Welche
Aufgabe hätte jener schaffende Paradiesvogel ihm aber gestellt?
Er selber als lebendiger Mensch müßte sich in sein Kunstideal
verwandelt haben, und die Sixtinische Madonna müßte fortan
als lebende Gestalt auf dieser Erde gewandelt sein. Die Ver¬
drehtheit des Gedankens scheint so handgreiflich, daß es nicht
verlohnt, darauf einzugehen. Und unsere ganze Betrachtung
scheint über Dresden, Neu-Guinea und den australischen Busch
hinweg nun doch noch im wahren Wolkenkuckucksheim zu enden.
Was aber bloß not thut, ist, daß wir abermals eine Weile
die graue Theorie über Bord werfen und noch einige weitere
Wirklichkeiten unseres Museums in Augenschein nehmen.

[Abbildung]

Es ist eine alte Streitfrage in der Schönheitslehre: wer
schöner sei: -- Mann oder Weib? Die Maler und Bildhauer,
denen wir doch wohl in diesen Dingen das Recht des Fach¬
mannes zugestehen müssen, haben diese Frage stets praktisch
beantwortet. Sie sind für die absolute Gleichberechtigung ein¬
getreten.

Das Scherzwort bleibt ja wahr, daß ein schöner Mann
immer schöner sei als eine häßliche Frau und eine schöne
Frau schöner als ein häßlicher Mann. Aber von einer ge¬
wissen Höhe der Schönheit überhaupt an ist ein Unterschied
nicht mehr zu ziehen. Sobald Schön hier gegen Schön dort
steht, weibliches Ideal gegen männliches Ideal, die Venus
von Milo gegen den Hermes des Praxiteles, die Pieta des
Michel Angelo gegen Michel Angelos David und Moses, stellen
sich die Schalen der Wage gleich. Es bleibt der "schöne Mensch"

im Geiſt. Und ſeine Hand greift zum Pinſel und ſchafft
äußerlich aus Ölfarben auf einer fremden ſtofflichen Fläche
einen Abglanz dieſes erhabenen äſthetiſchen Traums. Welche
Aufgabe hätte jener ſchaffende Paradiesvogel ihm aber geſtellt?
Er ſelber als lebendiger Menſch müßte ſich in ſein Kunſtideal
verwandelt haben, und die Sixtiniſche Madonna müßte fortan
als lebende Geſtalt auf dieſer Erde gewandelt ſein. Die Ver¬
drehtheit des Gedankens ſcheint ſo handgreiflich, daß es nicht
verlohnt, darauf einzugehen. Und unſere ganze Betrachtung
ſcheint über Dresden, Neu-Guinea und den auſtraliſchen Buſch
hinweg nun doch noch im wahren Wolkenkuckucksheim zu enden.
Was aber bloß not thut, iſt, daß wir abermals eine Weile
die graue Theorie über Bord werfen und noch einige weitere
Wirklichkeiten unſeres Muſeums in Augenſchein nehmen.

[Abbildung]

Es iſt eine alte Streitfrage in der Schönheitslehre: wer
ſchöner ſei: — Mann oder Weib? Die Maler und Bildhauer,
denen wir doch wohl in dieſen Dingen das Recht des Fach¬
mannes zugeſtehen müſſen, haben dieſe Frage ſtets praktiſch
beantwortet. Sie ſind für die abſolute Gleichberechtigung ein¬
getreten.

Das Scherzwort bleibt ja wahr, daß ein ſchöner Mann
immer ſchöner ſei als eine häßliche Frau und eine ſchöne
Frau ſchöner als ein häßlicher Mann. Aber von einer ge¬
wiſſen Höhe der Schönheit überhaupt an iſt ein Unterſchied
nicht mehr zu ziehen. Sobald Schön hier gegen Schön dort
ſteht, weibliches Ideal gegen männliches Ideal, die Venus
von Milo gegen den Hermes des Praxiteles, die Pieta des
Michel Angelo gegen Michel Angelos David und Moſes, ſtellen
ſich die Schalen der Wage gleich. Es bleibt der „ſchöne Menſch“

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0378" n="362"/>
im Gei&#x017F;t. Und &#x017F;eine Hand greift zum Pin&#x017F;el und &#x017F;chafft<lb/>
äußerlich aus Ölfarben auf einer fremden &#x017F;tofflichen Fläche<lb/>
einen Abglanz die&#x017F;es erhabenen ä&#x017F;theti&#x017F;chen Traums. Welche<lb/>
Aufgabe hätte jener &#x017F;chaffende Paradiesvogel ihm aber ge&#x017F;tellt?<lb/>
Er &#x017F;elber als lebendiger Men&#x017F;ch müßte &#x017F;ich in &#x017F;ein Kun&#x017F;tideal<lb/>
verwandelt haben, und die Sixtini&#x017F;che Madonna müßte fortan<lb/>
als lebende Ge&#x017F;talt auf die&#x017F;er Erde gewandelt &#x017F;ein. Die Ver¬<lb/>
drehtheit des Gedankens &#x017F;cheint &#x017F;o handgreiflich, daß es nicht<lb/>
verlohnt, darauf einzugehen. Und un&#x017F;ere ganze Betrachtung<lb/>
&#x017F;cheint über Dresden, Neu-Guinea und den au&#x017F;trali&#x017F;chen Bu&#x017F;ch<lb/>
hinweg nun doch noch im wahren Wolkenkuckucksheim zu enden.<lb/>
Was aber bloß not thut, i&#x017F;t, daß wir abermals eine Weile<lb/>
die graue Theorie über Bord werfen und noch einige weitere<lb/><hi rendition="#g">Wirklichkeiten</hi> un&#x017F;eres Mu&#x017F;eums in Augen&#x017F;chein nehmen.</p><lb/>
        <figure/>
        <p>Es i&#x017F;t eine alte Streitfrage in der Schönheitslehre: wer<lb/>
&#x017F;chöner &#x017F;ei: &#x2014; Mann oder Weib? Die Maler und Bildhauer,<lb/>
denen wir doch wohl in die&#x017F;en Dingen das Recht des Fach¬<lb/>
mannes zuge&#x017F;tehen mü&#x017F;&#x017F;en, haben die&#x017F;e Frage &#x017F;tets prakti&#x017F;ch<lb/>
beantwortet. Sie &#x017F;ind für die ab&#x017F;olute Gleichberechtigung ein¬<lb/>
getreten.</p><lb/>
        <p>Das Scherzwort bleibt ja wahr, daß ein &#x017F;chöner Mann<lb/>
immer &#x017F;chöner &#x017F;ei als eine häßliche Frau und eine &#x017F;chöne<lb/>
Frau &#x017F;chöner als ein häßlicher Mann. Aber von einer ge¬<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en Höhe der Schönheit überhaupt an i&#x017F;t ein Unter&#x017F;chied<lb/>
nicht mehr zu ziehen. Sobald Schön hier gegen Schön dort<lb/>
&#x017F;teht, weibliches Ideal gegen männliches Ideal, die Venus<lb/>
von Milo gegen den Hermes des Praxiteles, die Pieta des<lb/>
Michel Angelo gegen Michel Angelos David und Mo&#x017F;es, &#x017F;tellen<lb/>
&#x017F;ich die Schalen der Wage gleich. Es bleibt der &#x201E;&#x017F;chöne Men&#x017F;ch&#x201C;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[362/0378] im Geiſt. Und ſeine Hand greift zum Pinſel und ſchafft äußerlich aus Ölfarben auf einer fremden ſtofflichen Fläche einen Abglanz dieſes erhabenen äſthetiſchen Traums. Welche Aufgabe hätte jener ſchaffende Paradiesvogel ihm aber geſtellt? Er ſelber als lebendiger Menſch müßte ſich in ſein Kunſtideal verwandelt haben, und die Sixtiniſche Madonna müßte fortan als lebende Geſtalt auf dieſer Erde gewandelt ſein. Die Ver¬ drehtheit des Gedankens ſcheint ſo handgreiflich, daß es nicht verlohnt, darauf einzugehen. Und unſere ganze Betrachtung ſcheint über Dresden, Neu-Guinea und den auſtraliſchen Buſch hinweg nun doch noch im wahren Wolkenkuckucksheim zu enden. Was aber bloß not thut, iſt, daß wir abermals eine Weile die graue Theorie über Bord werfen und noch einige weitere Wirklichkeiten unſeres Muſeums in Augenſchein nehmen. [Abbildung] Es iſt eine alte Streitfrage in der Schönheitslehre: wer ſchöner ſei: — Mann oder Weib? Die Maler und Bildhauer, denen wir doch wohl in dieſen Dingen das Recht des Fach¬ mannes zugeſtehen müſſen, haben dieſe Frage ſtets praktiſch beantwortet. Sie ſind für die abſolute Gleichberechtigung ein¬ getreten. Das Scherzwort bleibt ja wahr, daß ein ſchöner Mann immer ſchöner ſei als eine häßliche Frau und eine ſchöne Frau ſchöner als ein häßlicher Mann. Aber von einer ge¬ wiſſen Höhe der Schönheit überhaupt an iſt ein Unterſchied nicht mehr zu ziehen. Sobald Schön hier gegen Schön dort ſteht, weibliches Ideal gegen männliches Ideal, die Venus von Milo gegen den Hermes des Praxiteles, die Pieta des Michel Angelo gegen Michel Angelos David und Moſes, ſtellen ſich die Schalen der Wage gleich. Es bleibt der „ſchöne Menſch“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/378
Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 2. Leipzig, 1900, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben02_1900/378>, abgerufen am 22.11.2024.