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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Goethe schaffen, der den Faust dichten soll. Das wäre etwas
viel verlangt. Der alte Fritz hat ja auch nicht nach dem
Wortlaut der Scherzlegende wirklich gesagt: Heute fängt der
siebenjährige Krieg an. Ich meine, man muß dem allgemeinen
Weltgeschehen, das denn doch noch etwas mehr ist als der
Wunsch und die sittliche Erkenntnis eines Urmenschen, sein
Recht da breiter und umfassender lassen. Dieses Weltgeschehen
regiert aber nach der Anschauung, die wir so oft jetzt besprochen
haben, thatsächlich durchaus im schlicht naturgesetzlichen Rahmen,
es fängt seine Fische mit den scheinbar nüchternsten Nützlich¬
keiten, -- Hechte bleiben's darum doch, ob der Weg so oder
so geht, denn das Resultat ist immerdar das nämliche.

Solche ganz kleinen Züge, Nützlichkeiten, Anpassungen,
Bevorzugungen im einfachsten Weltlauf, schlage ich vor, auch
hier zu suchen, statt daß wir dem Urmenschen zumuten, er
solle dies oder jenes gewählt haben, weil es im absoluten
Sinne "sittlicher" war und ihm auch schon so schien.

Ja was ist "sittlicher" in diesem abstrakten Sinne? Eine
ältere, heute hoffentlich langsam veraltende Anschauung hatte
es ja vor diesem Komparativ gut. Ihr war ein entscheidender
Fortschritt der Sittlichkeit schlechthin, wenn der Mensch eines
Tages erkannte: alles Natürliche, Frühere, dem Tiere noch
Ähnliche ist scheußlich, dämonisch, teuflisch. Es muß versteckt
werden als Erzgräuel. Also auch alles Erotische. Aber dieser
leidige Standpunkt ist im Kern ja selber grundfalsch! Im
Kampf um die rasche Höherentwickelung mag er zeitweise eine
gewisse pädagogische Rolle gehabt haben. Aber vor einem
wirklich großen, die Natur mit einbegreifenden Standpunkt
des Denkens und Wertens ist er der helle Unsinn. Gerade
vom Boden einer ganz hohen, dem "absoluten" sich nähernden
Sittlichkeit sind die Liebesdinge des Menschen in ihrem natürlichen
Verlauf eben gar nicht mehr unsittlich. Diese unsere ganzen
Betrachtungen hier wären unmöglich, wenn das nicht wäre,
denn ich will doch nicht der Unsittlichkeit Vorschub leisten.

Goethe ſchaffen, der den Fauſt dichten ſoll. Das wäre etwas
viel verlangt. Der alte Fritz hat ja auch nicht nach dem
Wortlaut der Scherzlegende wirklich geſagt: Heute fängt der
ſiebenjährige Krieg an. Ich meine, man muß dem allgemeinen
Weltgeſchehen, das denn doch noch etwas mehr iſt als der
Wunſch und die ſittliche Erkenntnis eines Urmenſchen, ſein
Recht da breiter und umfaſſender laſſen. Dieſes Weltgeſchehen
regiert aber nach der Anſchauung, die wir ſo oft jetzt beſprochen
haben, thatſächlich durchaus im ſchlicht naturgeſetzlichen Rahmen,
es fängt ſeine Fiſche mit den ſcheinbar nüchternſten Nützlich¬
keiten, — Hechte bleiben's darum doch, ob der Weg ſo oder
ſo geht, denn das Reſultat iſt immerdar das nämliche.

Solche ganz kleinen Züge, Nützlichkeiten, Anpaſſungen,
Bevorzugungen im einfachſten Weltlauf, ſchlage ich vor, auch
hier zu ſuchen, ſtatt daß wir dem Urmenſchen zumuten, er
ſolle dies oder jenes gewählt haben, weil es im abſoluten
Sinne „ſittlicher“ war und ihm auch ſchon ſo ſchien.

Ja was iſt „ſittlicher“ in dieſem abſtrakten Sinne? Eine
ältere, heute hoffentlich langſam veraltende Anſchauung hatte
es ja vor dieſem Komparativ gut. Ihr war ein entſcheidender
Fortſchritt der Sittlichkeit ſchlechthin, wenn der Menſch eines
Tages erkannte: alles Natürliche, Frühere, dem Tiere noch
Ähnliche iſt ſcheußlich, dämoniſch, teufliſch. Es muß verſteckt
werden als Erzgräuel. Alſo auch alles Erotiſche. Aber dieſer
leidige Standpunkt iſt im Kern ja ſelber grundfalſch! Im
Kampf um die raſche Höherentwickelung mag er zeitweiſe eine
gewiſſe pädagogiſche Rolle gehabt haben. Aber vor einem
wirklich großen, die Natur mit einbegreifenden Standpunkt
des Denkens und Wertens iſt er der helle Unſinn. Gerade
vom Boden einer ganz hohen, dem „abſoluten“ ſich nähernden
Sittlichkeit ſind die Liebesdinge des Menſchen in ihrem natürlichen
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[100/0114] Goethe ſchaffen, der den Fauſt dichten ſoll. Das wäre etwas viel verlangt. Der alte Fritz hat ja auch nicht nach dem Wortlaut der Scherzlegende wirklich geſagt: Heute fängt der ſiebenjährige Krieg an. Ich meine, man muß dem allgemeinen Weltgeſchehen, das denn doch noch etwas mehr iſt als der Wunſch und die ſittliche Erkenntnis eines Urmenſchen, ſein Recht da breiter und umfaſſender laſſen. Dieſes Weltgeſchehen regiert aber nach der Anſchauung, die wir ſo oft jetzt beſprochen haben, thatſächlich durchaus im ſchlicht naturgeſetzlichen Rahmen, es fängt ſeine Fiſche mit den ſcheinbar nüchternſten Nützlich¬ keiten, — Hechte bleiben's darum doch, ob der Weg ſo oder ſo geht, denn das Reſultat iſt immerdar das nämliche. Solche ganz kleinen Züge, Nützlichkeiten, Anpaſſungen, Bevorzugungen im einfachſten Weltlauf, ſchlage ich vor, auch hier zu ſuchen, ſtatt daß wir dem Urmenſchen zumuten, er ſolle dies oder jenes gewählt haben, weil es im abſoluten Sinne „ſittlicher“ war und ihm auch ſchon ſo ſchien. Ja was iſt „ſittlicher“ in dieſem abſtrakten Sinne? Eine ältere, heute hoffentlich langſam veraltende Anſchauung hatte es ja vor dieſem Komparativ gut. Ihr war ein entſcheidender Fortſchritt der Sittlichkeit ſchlechthin, wenn der Menſch eines Tages erkannte: alles Natürliche, Frühere, dem Tiere noch Ähnliche iſt ſcheußlich, dämoniſch, teufliſch. Es muß verſteckt werden als Erzgräuel. Alſo auch alles Erotiſche. Aber dieſer leidige Standpunkt iſt im Kern ja ſelber grundfalſch! Im Kampf um die raſche Höherentwickelung mag er zeitweiſe eine gewiſſe pädagogiſche Rolle gehabt haben. Aber vor einem wirklich großen, die Natur mit einbegreifenden Standpunkt des Denkens und Wertens iſt er der helle Unſinn. Gerade vom Boden einer ganz hohen, dem „abſoluten“ ſich nähernden Sittlichkeit ſind die Liebesdinge des Menſchen in ihrem natürlichen Verlauf eben gar nicht mehr unſittlich. Dieſe unſere ganzen Betrachtungen hier wären unmöglich, wenn das nicht wäre, denn ich will doch nicht der Unſittlichkeit Vorſchub leiſten.

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/114>, abgerufen am 21.11.2024.