auf einer gewissen Kulturhöhe scheint das Individuum umgekehrt eine ganze andere Erdbreite, ein ganz anderes festes Fußfassen zu besitzen, es ist zunächst und die fortschreitende Welle erscheint nebensächlich vor dieser Stationsgröße. Hat doch diese Mensch¬ heit auch endlich noch ganz andere, vergeistigte Mittel, vom Individuum auf die Nachwelt zu wirken, als bloß die Liebe. Sie hält ein Buch, eine Reihe Bände, Goethes Werke gegen einen Haufen Samentierchen. Wer solche Bücher schafft, der hat ein Recht, sich so lange nicht stören zu lassen durch die Welt dieser Samentierchen. Und wenn sie nicht anders aus dem Ge¬ sichtsfeld gebracht werden kann, als durch Verhüllung aller Nackt¬ heit im öffentlichen Leben, -- nun so falle diese Nacktheit.
Man muß im Querschnitt dieser Gedanken einen Moment wirklich durch die Kulturgeschichte schauen, um Extreme zu ver¬ stehen, die sonst völlig unbegreiflich blieben.
Durch die Menschheitskultur gehen immer wieder Ver¬ suche, geradezu einen "unerotischen Menschen" zu schaffen als besonderen Typus in den wachsenden geistigen Arbeitsforderungen. Dieser Mensch sollte auch im ideellen Sinne niemals mehr "nackt" sein. Es ist die Idee, den reinen Geistesmenschen zu schaffen wenigstens als Einzelerscheinung zwischen den hergebrachten Men¬ schen. Er geht so sehr auf in der rein geistigen Arbeitsleistung, daß er das Erotische für immer aus seinem Leben verliert.
Es ist diese Idee, die seit alten Kulturtagen in die Askese getrieben hat; wir reden davon noch. Es ist die Idee, die durchklingt bis in die groben Geschichten vom Cyniker Diogenes in seiner Tonne. Er onanierte auf offenem Markt vor den Leuten, heißt es, um seine Verachtung des Erotischen zu be¬ zeugen. Aber hinter dem grotesken Bilde steckt in dieser ganzen tiefen Strömung des Griechentums doch der Grundgedanke eben jenes Experimentes einer Trennung des einsamen, nur durch Gedanken mit der Menschheit verketteten Geistesmenschen vom Menschen, der sich als Mann oder Weib, als erotische Hälfte fühlt und den Weg zur Menschheit durch Samentierchen und
auf einer gewiſſen Kulturhöhe ſcheint das Individuum umgekehrt eine ganze andere Erdbreite, ein ganz anderes feſtes Fußfaſſen zu beſitzen, es iſt zunächſt und die fortſchreitende Welle erſcheint nebenſächlich vor dieſer Stationsgröße. Hat doch dieſe Menſch¬ heit auch endlich noch ganz andere, vergeiſtigte Mittel, vom Individuum auf die Nachwelt zu wirken, als bloß die Liebe. Sie hält ein Buch, eine Reihe Bände, Goethes Werke gegen einen Haufen Samentierchen. Wer ſolche Bücher ſchafft, der hat ein Recht, ſich ſo lange nicht ſtören zu laſſen durch die Welt dieſer Samentierchen. Und wenn ſie nicht anders aus dem Ge¬ ſichtsfeld gebracht werden kann, als durch Verhüllung aller Nackt¬ heit im öffentlichen Leben, — nun ſo falle dieſe Nacktheit.
Man muß im Querſchnitt dieſer Gedanken einen Moment wirklich durch die Kulturgeſchichte ſchauen, um Extreme zu ver¬ ſtehen, die ſonſt völlig unbegreiflich blieben.
Durch die Menſchheitskultur gehen immer wieder Ver¬ ſuche, geradezu einen „unerotiſchen Menſchen“ zu ſchaffen als beſonderen Typus in den wachſenden geiſtigen Arbeitsforderungen. Dieſer Menſch ſollte auch im ideellen Sinne niemals mehr „nackt“ ſein. Es iſt die Idee, den reinen Geiſtesmenſchen zu ſchaffen wenigſtens als Einzelerſcheinung zwiſchen den hergebrachten Men¬ ſchen. Er geht ſo ſehr auf in der rein geiſtigen Arbeitsleiſtung, daß er das Erotiſche für immer aus ſeinem Leben verliert.
Es iſt dieſe Idee, die ſeit alten Kulturtagen in die Askeſe getrieben hat; wir reden davon noch. Es iſt die Idee, die durchklingt bis in die groben Geſchichten vom Cyniker Diogenes in ſeiner Tonne. Er onanierte auf offenem Markt vor den Leuten, heißt es, um ſeine Verachtung des Erotiſchen zu be¬ zeugen. Aber hinter dem grotesken Bilde ſteckt in dieſer ganzen tiefen Strömung des Griechentums doch der Grundgedanke eben jenes Experimentes einer Trennung des einſamen, nur durch Gedanken mit der Menſchheit verketteten Geiſtesmenſchen vom Menſchen, der ſich als Mann oder Weib, als erotiſche Hälfte fühlt und den Weg zur Menſchheit durch Samentierchen und
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eine ganze andere Erdbreite, ein ganz anderes feſtes Fußfaſſen
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nebenſächlich vor dieſer Stationsgröße. Hat doch dieſe Menſch¬
heit auch endlich noch ganz andere, vergeiſtigte Mittel, vom
Individuum auf die Nachwelt zu wirken, als bloß die Liebe.
Sie hält ein Buch, eine Reihe Bände, Goethes Werke gegen
einen Haufen Samentierchen. Wer ſolche Bücher ſchafft, der hat
ein Recht, ſich ſo lange nicht ſtören zu laſſen durch die Welt
dieſer Samentierchen. Und wenn ſie nicht anders aus dem Ge¬
ſichtsfeld gebracht werden kann, als durch Verhüllung aller Nackt¬
heit im öffentlichen Leben, — nun ſo falle dieſe Nacktheit.
Man muß im Querſchnitt dieſer Gedanken einen Moment
wirklich durch die Kulturgeſchichte ſchauen, um Extreme zu ver¬
ſtehen, die ſonſt völlig unbegreiflich blieben.
Durch die Menſchheitskultur gehen immer wieder Ver¬
ſuche, geradezu einen „unerotiſchen Menſchen“ zu ſchaffen als
beſonderen Typus in den wachſenden geiſtigen Arbeitsforderungen.
Dieſer Menſch ſollte auch im ideellen Sinne niemals mehr „nackt“
ſein. Es iſt die Idee, den reinen Geiſtesmenſchen zu ſchaffen
wenigſtens als Einzelerſcheinung zwiſchen den hergebrachten Men¬
ſchen. Er geht ſo ſehr auf in der rein geiſtigen Arbeitsleiſtung,
daß er das Erotiſche für immer aus ſeinem Leben verliert.
Es iſt dieſe Idee, die ſeit alten Kulturtagen in die Askeſe
getrieben hat; wir reden davon noch. Es iſt die Idee, die
durchklingt bis in die groben Geſchichten vom Cyniker Diogenes
in ſeiner Tonne. Er onanierte auf offenem Markt vor den
Leuten, heißt es, um ſeine Verachtung des Erotiſchen zu be¬
zeugen. Aber hinter dem grotesken Bilde ſteckt in dieſer ganzen
tiefen Strömung des Griechentums doch der Grundgedanke eben
jenes Experimentes einer Trennung des einſamen, nur durch
Gedanken mit der Menſchheit verketteten Geiſtesmenſchen vom
Menſchen, der ſich als Mann oder Weib, als erotiſche Hälfte
fühlt und den Weg zur Menſchheit durch Samentierchen und
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/146>, abgerufen am 21.11.2024.
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