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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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erotischen Organen noch nicht faßbaren Ideals, so hier im An¬
blick der sozusagen abstrakten Gegenständlichkeit überhaupt, --
des rein objektiven Seins, das ebenfalls durch eine geheimnis¬
volle diamantene Wand von unseren erotischen Wünschen wie
von all unserem subjektiven Lieben und Hassen getrennt bleibt.

Alle diese Wege deuten eben auf das gleiche: daß es im
höher steigenden Menschen immer stärkere Kräfte giebt, die, um
mit Schopenhauer zu sprechen, uns in bestimmten Fällen auf
die reine Vorstellung, die reine Anschauung konzentrieren unter
völligem Verzicht auf den begehrenden Willen. Tritt die
Nacktheit auf dieses Gebiet über, so kann sie bleiben, ohne daß
die Schutzlinie gegen das Erotische verletzt wird, also ohne
Gefahr für die Moral. Die Aufgabe wäre, diesen Übertritt
zu ermöglichen.

Auch da erheben sich freilich noch große Schwierigkeiten
durch Begleitumstände, von denen ich allerdings nicht wüßte,
wie sie heute noch in unzähligen Fällen zu vermeiden wären.

Zu jener hohen Harmonie des Geistes, die jene un¬
beirrbare Willenskraft allein verleihen könnte, gehörte eine
gewisse allseitige Beruhigung, eine Harmonisierung der Triebe
im Menschen, -- also auch des Erotischen. Ich kann von
etwas nur auf Momente bewußt absehen, wenn ich sicher bin,
daß ich es im richtigen Moment jederzeit zur Verfügung habe.
Bin ich dagegen krampfhaft gespannt, es zu suchen, so werde ich
vor jener Forderung als einer viel zu schweren erlahmen, es
wird mir fort und fort den Weg kreuzen, wird mich verfolgen,
wie ich es selber verfolge. Von einer schönen Harmonie
meiner Ernährungsverhältnisse aus kann ich die Traube auf
dem Gemälde genießen, ohne daß mir nur der Gedanke auf¬
taucht, danach zu greifen. Der zum Sterben Verhungerte
wird aber danach greifen; und wenn er fühlt, daß es eine
glatte Leinewand ist, die ihn geäfft hat, so wird er fluchen.

Im Zustande dieser ausgesprochensten Disharmonie befindet
sich für das Erotische nun ein ungeheuerer Teil unserer Kultur¬

erotiſchen Organen noch nicht faßbaren Ideals, ſo hier im An¬
blick der ſozuſagen abſtrakten Gegenſtändlichkeit überhaupt, —
des rein objektiven Seins, das ebenfalls durch eine geheimnis¬
volle diamantene Wand von unſeren erotiſchen Wünſchen wie
von all unſerem ſubjektiven Lieben und Haſſen getrennt bleibt.

Alle dieſe Wege deuten eben auf das gleiche: daß es im
höher ſteigenden Menſchen immer ſtärkere Kräfte giebt, die, um
mit Schopenhauer zu ſprechen, uns in beſtimmten Fällen auf
die reine Vorſtellung, die reine Anſchauung konzentrieren unter
völligem Verzicht auf den begehrenden Willen. Tritt die
Nacktheit auf dieſes Gebiet über, ſo kann ſie bleiben, ohne daß
die Schutzlinie gegen das Erotiſche verletzt wird, alſo ohne
Gefahr für die Moral. Die Aufgabe wäre, dieſen Übertritt
zu ermöglichen.

Auch da erheben ſich freilich noch große Schwierigkeiten
durch Begleitumſtände, von denen ich allerdings nicht wüßte,
wie ſie heute noch in unzähligen Fällen zu vermeiden wären.

Zu jener hohen Harmonie des Geiſtes, die jene un¬
beirrbare Willenskraft allein verleihen könnte, gehörte eine
gewiſſe allſeitige Beruhigung, eine Harmoniſierung der Triebe
im Menſchen, — alſo auch des Erotiſchen. Ich kann von
etwas nur auf Momente bewußt abſehen, wenn ich ſicher bin,
daß ich es im richtigen Moment jederzeit zur Verfügung habe.
Bin ich dagegen krampfhaft geſpannt, es zu ſuchen, ſo werde ich
vor jener Forderung als einer viel zu ſchweren erlahmen, es
wird mir fort und fort den Weg kreuzen, wird mich verfolgen,
wie ich es ſelber verfolge. Von einer ſchönen Harmonie
meiner Ernährungsverhältniſſe aus kann ich die Traube auf
dem Gemälde genießen, ohne daß mir nur der Gedanke auf¬
taucht, danach zu greifen. Der zum Sterben Verhungerte
wird aber danach greifen; und wenn er fühlt, daß es eine
glatte Leinewand iſt, die ihn geäfft hat, ſo wird er fluchen.

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[142/0156] erotiſchen Organen noch nicht faßbaren Ideals, ſo hier im An¬ blick der ſozuſagen abſtrakten Gegenſtändlichkeit überhaupt, — des rein objektiven Seins, das ebenfalls durch eine geheimnis¬ volle diamantene Wand von unſeren erotiſchen Wünſchen wie von all unſerem ſubjektiven Lieben und Haſſen getrennt bleibt. Alle dieſe Wege deuten eben auf das gleiche: daß es im höher ſteigenden Menſchen immer ſtärkere Kräfte giebt, die, um mit Schopenhauer zu ſprechen, uns in beſtimmten Fällen auf die reine Vorſtellung, die reine Anſchauung konzentrieren unter völligem Verzicht auf den begehrenden Willen. Tritt die Nacktheit auf dieſes Gebiet über, ſo kann ſie bleiben, ohne daß die Schutzlinie gegen das Erotiſche verletzt wird, alſo ohne Gefahr für die Moral. Die Aufgabe wäre, dieſen Übertritt zu ermöglichen. Auch da erheben ſich freilich noch große Schwierigkeiten durch Begleitumſtände, von denen ich allerdings nicht wüßte, wie ſie heute noch in unzähligen Fällen zu vermeiden wären. Zu jener hohen Harmonie des Geiſtes, die jene un¬ beirrbare Willenskraft allein verleihen könnte, gehörte eine gewiſſe allſeitige Beruhigung, eine Harmoniſierung der Triebe im Menſchen, — alſo auch des Erotiſchen. Ich kann von etwas nur auf Momente bewußt abſehen, wenn ich ſicher bin, daß ich es im richtigen Moment jederzeit zur Verfügung habe. Bin ich dagegen krampfhaft geſpannt, es zu ſuchen, ſo werde ich vor jener Forderung als einer viel zu ſchweren erlahmen, es wird mir fort und fort den Weg kreuzen, wird mich verfolgen, wie ich es ſelber verfolge. Von einer ſchönen Harmonie meiner Ernährungsverhältniſſe aus kann ich die Traube auf dem Gemälde genießen, ohne daß mir nur der Gedanke auf¬ taucht, danach zu greifen. Der zum Sterben Verhungerte wird aber danach greifen; und wenn er fühlt, daß es eine glatte Leinewand iſt, die ihn geäfft hat, ſo wird er fluchen. Im Zuſtande dieſer ausgeſprochenſten Disharmonie befindet ſich für das Erotiſche nun ein ungeheuerer Teil unſerer Kultur¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/156>, abgerufen am 23.11.2024.