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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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tausende. Da liegt die Menschheit, selbst so reinlich abgezogen
wie auf kühle Jahrgänge eines Kellers. Du bist mit ihr
allein. Stille rings, als ruhe alles Gären und Begehren
für eine Geisterstunde. Nur der ausgeklärte Trank des Ver¬
gangenen stößt, wenn du daran hinschreitest, bisweilen mit
einem leisen, tiefen Laut ans Faß, Draußen der Schnee, in
dem jeder rohe Ton stirbt. Und die Sterne, die auch nur
reden, wenn alles ganz still ist. Und eine gute altmodische
Treppe zum Schlafgemach hinauf, -- wenn du müde wirst, --
wenn es spät wird, -- wenn es Zeit wird ....

Weißt du, was im Begriff des Klosters immer wieder an
hohem Sinn gesteckt hat? Die Idee einer großen Verdauungs¬
anstalt. Wir hören so viel heute von der Brotfrage. Aber
es liegt eine unheimlich tiefe Bedeutung auch in der Ver¬
dauungsfrage. Denk dir die Menschheit, über die eine ganze
Kulturepoche mit ihrem rasenden Tempo hingestampft war.
Etwa die alte babylonisch-ägyptische. Oder die griechische.
Oder Rom und Christus und die Völkerwanderung. Oder gar
das alles hintereinander. Was hatte das Gehirn essen müssen.
Es brauchte notwendig eine Anzahl Jahrhunderte Verdauungs¬
pause. Unsere letzte war die, an die wir den geläufigen Be¬
griff des Klosters knüpfen. Der Mensch in der Zelle, unter
der Ampel, der nicht handelt, sondern verdaut. Geistig ver¬
daut er. Gerade darum mag er sich körperlich pflegen.
Darum geht vom Kloster ein Atem aus von Forellen und
altem Rheinwein. Man ahnt, daß die Menschen ein Jahr¬
tausend lang nervös gegessen hatten, wie einer, der auch bei
der Mahlzeit im Trubel steht. Jetzt essen sie auch physisch
wieder mit Ruhe, weil der Geist ausruht. Und eines Tages,
wenn der Magen oben und unten endlich völlig in Ordnung
ist, erwacht das Handeln wie ein urgesunder Appetit von
selbst wieder. Eines Tages setzt so ein Mönch sich hin und
malt über seine Zellenthür einen Heilandskopf, wie er der
höchsten Kunstblüte der Antike nicht gelungen wäre. Ein Dom¬

tauſende. Da liegt die Menſchheit, ſelbſt ſo reinlich abgezogen
wie auf kühle Jahrgänge eines Kellers. Du biſt mit ihr
allein. Stille rings, als ruhe alles Gären und Begehren
für eine Geiſterſtunde. Nur der ausgeklärte Trank des Ver¬
gangenen ſtößt, wenn du daran hinſchreiteſt, bisweilen mit
einem leiſen, tiefen Laut ans Faß, Draußen der Schnee, in
dem jeder rohe Ton ſtirbt. Und die Sterne, die auch nur
reden, wenn alles ganz ſtill iſt. Und eine gute altmodiſche
Treppe zum Schlafgemach hinauf, — wenn du müde wirſt, —
wenn es ſpät wird, — wenn es Zeit wird ....

Weißt du, was im Begriff des Kloſters immer wieder an
hohem Sinn geſteckt hat? Die Idee einer großen Verdauungs¬
anſtalt. Wir hören ſo viel heute von der Brotfrage. Aber
es liegt eine unheimlich tiefe Bedeutung auch in der Ver¬
dauungsfrage. Denk dir die Menſchheit, über die eine ganze
Kulturepoche mit ihrem raſenden Tempo hingeſtampft war.
Etwa die alte babyloniſch-ägyptiſche. Oder die griechiſche.
Oder Rom und Chriſtus und die Völkerwanderung. Oder gar
das alles hintereinander. Was hatte das Gehirn eſſen müſſen.
Es brauchte notwendig eine Anzahl Jahrhunderte Verdauungs¬
pauſe. Unſere letzte war die, an die wir den geläufigen Be¬
griff des Kloſters knüpfen. Der Menſch in der Zelle, unter
der Ampel, der nicht handelt, ſondern verdaut. Geiſtig ver¬
daut er. Gerade darum mag er ſich körperlich pflegen.
Darum geht vom Kloſter ein Atem aus von Forellen und
altem Rheinwein. Man ahnt, daß die Menſchen ein Jahr¬
tauſend lang nervös gegeſſen hatten, wie einer, der auch bei
der Mahlzeit im Trubel ſteht. Jetzt eſſen ſie auch phyſiſch
wieder mit Ruhe, weil der Geiſt ausruht. Und eines Tages,
wenn der Magen oben und unten endlich völlig in Ordnung
iſt, erwacht das Handeln wie ein urgeſunder Appetit von
ſelbſt wieder. Eines Tages ſetzt ſo ein Mönch ſich hin und
malt über ſeine Zellenthür einen Heilandskopf, wie er der
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[2/0016] tauſende. Da liegt die Menſchheit, ſelbſt ſo reinlich abgezogen wie auf kühle Jahrgänge eines Kellers. Du biſt mit ihr allein. Stille rings, als ruhe alles Gären und Begehren für eine Geiſterſtunde. Nur der ausgeklärte Trank des Ver¬ gangenen ſtößt, wenn du daran hinſchreiteſt, bisweilen mit einem leiſen, tiefen Laut ans Faß, Draußen der Schnee, in dem jeder rohe Ton ſtirbt. Und die Sterne, die auch nur reden, wenn alles ganz ſtill iſt. Und eine gute altmodiſche Treppe zum Schlafgemach hinauf, — wenn du müde wirſt, — wenn es ſpät wird, — wenn es Zeit wird .... Weißt du, was im Begriff des Kloſters immer wieder an hohem Sinn geſteckt hat? Die Idee einer großen Verdauungs¬ anſtalt. Wir hören ſo viel heute von der Brotfrage. Aber es liegt eine unheimlich tiefe Bedeutung auch in der Ver¬ dauungsfrage. Denk dir die Menſchheit, über die eine ganze Kulturepoche mit ihrem raſenden Tempo hingeſtampft war. Etwa die alte babyloniſch-ägyptiſche. Oder die griechiſche. Oder Rom und Chriſtus und die Völkerwanderung. Oder gar das alles hintereinander. Was hatte das Gehirn eſſen müſſen. Es brauchte notwendig eine Anzahl Jahrhunderte Verdauungs¬ pauſe. Unſere letzte war die, an die wir den geläufigen Be¬ griff des Kloſters knüpfen. Der Menſch in der Zelle, unter der Ampel, der nicht handelt, ſondern verdaut. Geiſtig ver¬ daut er. Gerade darum mag er ſich körperlich pflegen. Darum geht vom Kloſter ein Atem aus von Forellen und altem Rheinwein. Man ahnt, daß die Menſchen ein Jahr¬ tauſend lang nervös gegeſſen hatten, wie einer, der auch bei der Mahlzeit im Trubel ſteht. Jetzt eſſen ſie auch phyſiſch wieder mit Ruhe, weil der Geiſt ausruht. Und eines Tages, wenn der Magen oben und unten endlich völlig in Ordnung iſt, erwacht das Handeln wie ein urgeſunder Appetit von ſelbſt wieder. Eines Tages ſetzt ſo ein Mönch ſich hin und malt über ſeine Zellenthür einen Heilandskopf, wie er der höchſten Kunſtblüte der Antike nicht gelungen wäre. Ein Dom¬

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/16>, abgerufen am 21.11.2024.