doch hast du in Bauernkreisen massenhaft ganz ruhig daneben die "Sitte", daß der Brautstand vor der Ehe sich schon zu einer regelrechten "Probeehe" entwickelt.
Diese "Probeehe" ist keineswegs, wie ein oberflächliches Moralisieren glaubt, ein sexuelles Monstrum, sondern sie hat ihre ganz feste Idee. Das verlobte Paar tritt nicht sofort zur echten Ehe über, sondern es unterhält, ein oder einige Jahre lang, einen freien Geschlechtsverkehr, der allerdings als solcher völlig bis zum Ziel geht. Erprobt wird dabei -- und darauf eben geht die Sache -- ob des Mannes Kraft und des Mädchens Anlage wirklich derart sind, daß das große, absolut notwendige Pfand der wirklichen Ehe erwartet werden darf: nämlich Kinder. Wird mit allem Probeverkehr keine Schwängerung erzielt, so geht das Paar wieder auseinander und der Verkehr selber gilt für das Mädchen nicht als Makel. Erfolgt dagegen eine Schwängerung, so ist das allerdings jetzt das Urteil höchster Instanz: vom Moralboden muß jetzt die Ehe geschlossen werden. Der Bräutigam, der sein Mädchen jetzt verließe, gälte als ehr¬ loser Verführer, der sich über einen Zweck hinwegsetzen will, der allein das Mittel heiligte.
Diese "Probeehe" ist bei den Kulturvölkern Europas offen¬ bar uralt. Das urtümliche alemannische Gesetz kennt sie schon. Der englische Bauer in Yorkshire hat eine bestimmte Verlobungs¬ formel "If thee tac, I tac thee", das ist: "Wenn du empfängst, nehme ich Dich." Bei den Schwarzwälder Bauern unterscheidet man "Kommnächte" und "Probenächte". Der junge Bursche klettert durch das Fenster in die Schlafkammer des Mädchens, doch zunächst nur zur einfachen Plauderei. Das ist die Komm¬ nacht, die erste Stufe zum Kennenlernen. Erst nach einer Weile entwickelt sich daraus die Probenacht mit allen Freiheiten. Aber auch sie kann ruhig noch einmal vorübergehen und das Mädchen darf ohne Schaden ihres Rufes den Bräutigam wechseln. Es war eben doch nicht der rechte! Nur wenn der Wechsel zu oft stattfindet, heftet sich das Odium daran, es seien die
doch haſt du in Bauernkreiſen maſſenhaft ganz ruhig daneben die „Sitte“, daß der Brautſtand vor der Ehe ſich ſchon zu einer regelrechten „Probeehe“ entwickelt.
Dieſe „Probeehe“ iſt keineswegs, wie ein oberflächliches Moraliſieren glaubt, ein ſexuelles Monſtrum, ſondern ſie hat ihre ganz feſte Idee. Das verlobte Paar tritt nicht ſofort zur echten Ehe über, ſondern es unterhält, ein oder einige Jahre lang, einen freien Geſchlechtsverkehr, der allerdings als ſolcher völlig bis zum Ziel geht. Erprobt wird dabei — und darauf eben geht die Sache — ob des Mannes Kraft und des Mädchens Anlage wirklich derart ſind, daß das große, abſolut notwendige Pfand der wirklichen Ehe erwartet werden darf: nämlich Kinder. Wird mit allem Probeverkehr keine Schwängerung erzielt, ſo geht das Paar wieder auseinander und der Verkehr ſelber gilt für das Mädchen nicht als Makel. Erfolgt dagegen eine Schwängerung, ſo iſt das allerdings jetzt das Urteil höchſter Inſtanz: vom Moralboden muß jetzt die Ehe geſchloſſen werden. Der Bräutigam, der ſein Mädchen jetzt verließe, gälte als ehr¬ loſer Verführer, der ſich über einen Zweck hinwegſetzen will, der allein das Mittel heiligte.
Dieſe „Probeehe“ iſt bei den Kulturvölkern Europas offen¬ bar uralt. Das urtümliche alemanniſche Geſetz kennt ſie ſchon. Der engliſche Bauer in Yorkſhire hat eine beſtimmte Verlobungs¬ formel „If thee tac, I tac thee“, das iſt: „Wenn du empfängſt, nehme ich Dich.“ Bei den Schwarzwälder Bauern unterſcheidet man „Kommnächte“ und „Probenächte“. Der junge Burſche klettert durch das Fenſter in die Schlafkammer des Mädchens, doch zunächſt nur zur einfachen Plauderei. Das iſt die Komm¬ nacht, die erſte Stufe zum Kennenlernen. Erſt nach einer Weile entwickelt ſich daraus die Probenacht mit allen Freiheiten. Aber auch ſie kann ruhig noch einmal vorübergehen und das Mädchen darf ohne Schaden ihres Rufes den Bräutigam wechſeln. Es war eben doch nicht der rechte! Nur wenn der Wechſel zu oft ſtattfindet, heftet ſich das Odium daran, es ſeien die
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doch haſt du in Bauernkreiſen maſſenhaft ganz ruhig daneben
die „Sitte“, daß der Brautſtand vor der Ehe ſich ſchon zu
einer regelrechten „Probeehe“ entwickelt.
Dieſe „Probeehe“ iſt keineswegs, wie ein oberflächliches
Moraliſieren glaubt, ein ſexuelles Monſtrum, ſondern ſie hat
ihre ganz feſte Idee. Das verlobte Paar tritt nicht ſofort
zur echten Ehe über, ſondern es unterhält, ein oder einige Jahre
lang, einen freien Geſchlechtsverkehr, der allerdings als ſolcher
völlig bis zum Ziel geht. Erprobt wird dabei — und darauf
eben geht die Sache — ob des Mannes Kraft und des
Mädchens Anlage wirklich derart ſind, daß das große, abſolut
notwendige Pfand der wirklichen Ehe erwartet werden darf:
nämlich Kinder. Wird mit allem Probeverkehr keine Schwängerung
erzielt, ſo geht das Paar wieder auseinander und der Verkehr
ſelber gilt für das Mädchen nicht als Makel. Erfolgt dagegen
eine Schwängerung, ſo iſt das allerdings jetzt das Urteil höchſter
Inſtanz: vom Moralboden muß jetzt die Ehe geſchloſſen werden.
Der Bräutigam, der ſein Mädchen jetzt verließe, gälte als ehr¬
loſer Verführer, der ſich über einen Zweck hinwegſetzen will,
der allein das Mittel heiligte.
Dieſe „Probeehe“ iſt bei den Kulturvölkern Europas offen¬
bar uralt. Das urtümliche alemanniſche Geſetz kennt ſie ſchon.
Der engliſche Bauer in Yorkſhire hat eine beſtimmte Verlobungs¬
formel „If thee tac, I tac thee“, das iſt: „Wenn du empfängſt,
nehme ich Dich.“ Bei den Schwarzwälder Bauern unterſcheidet
man „Kommnächte“ und „Probenächte“. Der junge Burſche
klettert durch das Fenſter in die Schlafkammer des Mädchens,
doch zunächſt nur zur einfachen Plauderei. Das iſt die Komm¬
nacht, die erſte Stufe zum Kennenlernen. Erſt nach einer
Weile entwickelt ſich daraus die Probenacht mit allen Freiheiten.
Aber auch ſie kann ruhig noch einmal vorübergehen und das
Mädchen darf ohne Schaden ihres Rufes den Bräutigam wechſeln.
Es war eben doch nicht der rechte! Nur wenn der Wechſel
zu oft ſtattfindet, heftet ſich das Odium daran, es ſeien die
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/265>, abgerufen am 21.11.2024.
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