liebe, das Auge, das verwandte Wesen anderen Geschlechtes, die ihm fehlende zweite Hälfte des Liebesindividuums, erfaßt hat, drängt ihn alles im geraden Wege der Natursehnsucht zur Mischliebe, die den Trennungsraum auf das Minimum herab¬ setzt. Ebensowenig erzeugt ihm aber das Nackte seines Leibes Scham. Im Gegenteil: eine unmittelbare Beziehung scheint zu bestehen zwischen dieser raschen Linie seiner sexuellen Wünsche und den Nacktheiten seines Leibes. In Urtagen schon sind bei der Gestaltung des höheren Tieres die Organe der Distance- und Mischliebe wesentlich an die entgegengesetzten Pole des Leibes geraten, -- an die beiden Enden des ursprünglichen Wurmschlauches. Auge, Ohr, Nase, die großen Sinnesstationen, vorne hin, an die Kopfseite, -- die Mündungen des Geschlechts¬ apparates umgekehrt möglichst nach hinten. Gerade an diesen beiden Stellen ist nun unser Waldkobold enthaart, entblößt, nackt. An beiden Stellen aber ist auch diese Nacktheit grell betüncht mit schreienden Farben, -- hier Nase und Backen, dort die Umgrenzung des Reichs der Mischliebe. Mit beiden Gesichtern, vornehmlich aber dem rückwärtigen seiner Liebe grinst der Affe seine weibliche Liebeshälfte an, der Nacktheit und ihrer Farben ausdrücklich froh. Es ist ein offenes Ge¬ ständnis, eine Liebessprache zunächst für das Auge des Weib¬ chens in diesem Gebahren. Für gewöhnlich laufen und klettern beide Geschlechter mit dem Sinnesapparat, den Augen vor allem, voran. Nun sehen sie sich so. Von der siegellackroten Nase, den kobaltblauen Grinsebacken fliegt der erste Liebesbrief hinüber: das allgemeine "Liebe mich!" Nun die Wendung, und es kommt der zweite Brief auf ebenso buntem Briefbogen mit der absolut nicht mißverständlichen Steigerung.
Welcher unendliche Abstand zwischen diesen beiden Bildern: dem Menschenweibe in der Lotosblume zarter Kultur -- und dem bunten Waldschratt auf seinen Kongobäumen.
Solange Gedanken über Menschenabstammung, die an Darwin anklingen, in der Welt sind, ist der Anblick eines
liebe, das Auge, das verwandte Weſen anderen Geſchlechtes, die ihm fehlende zweite Hälfte des Liebesindividuums, erfaßt hat, drängt ihn alles im geraden Wege der Naturſehnſucht zur Miſchliebe, die den Trennungsraum auf das Minimum herab¬ ſetzt. Ebenſowenig erzeugt ihm aber das Nackte ſeines Leibes Scham. Im Gegenteil: eine unmittelbare Beziehung ſcheint zu beſtehen zwiſchen dieſer raſchen Linie ſeiner ſexuellen Wünſche und den Nacktheiten ſeines Leibes. In Urtagen ſchon ſind bei der Geſtaltung des höheren Tieres die Organe der Diſtance- und Miſchliebe weſentlich an die entgegengeſetzten Pole des Leibes geraten, — an die beiden Enden des urſprünglichen Wurmſchlauches. Auge, Ohr, Naſe, die großen Sinnesſtationen, vorne hin, an die Kopfſeite, — die Mündungen des Geſchlechts¬ apparates umgekehrt möglichſt nach hinten. Gerade an dieſen beiden Stellen iſt nun unſer Waldkobold enthaart, entblößt, nackt. An beiden Stellen aber iſt auch dieſe Nacktheit grell betüncht mit ſchreienden Farben, — hier Naſe und Backen, dort die Umgrenzung des Reichs der Miſchliebe. Mit beiden Geſichtern, vornehmlich aber dem rückwärtigen ſeiner Liebe grinſt der Affe ſeine weibliche Liebeshälfte an, der Nacktheit und ihrer Farben ausdrücklich froh. Es iſt ein offenes Ge¬ ſtändnis, eine Liebesſprache zunächſt für das Auge des Weib¬ chens in dieſem Gebahren. Für gewöhnlich laufen und klettern beide Geſchlechter mit dem Sinnesapparat, den Augen vor allem, voran. Nun ſehen ſie ſich ſo. Von der ſiegellackroten Naſe, den kobaltblauen Grinſebacken fliegt der erſte Liebesbrief hinüber: das allgemeine „Liebe mich!“ Nun die Wendung, und es kommt der zweite Brief auf ebenſo buntem Briefbogen mit der abſolut nicht mißverſtändlichen Steigerung.
Welcher unendliche Abſtand zwiſchen dieſen beiden Bildern: dem Menſchenweibe in der Lotosblume zarter Kultur — und dem bunten Waldſchratt auf ſeinen Kongobäumen.
Solange Gedanken über Menſchenabſtammung, die an Darwin anklingen, in der Welt ſind, iſt der Anblick eines
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ihm fehlende zweite Hälfte des Liebesindividuums, erfaßt hat,
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Miſchliebe, die den Trennungsraum auf das Minimum herab¬
ſetzt. Ebenſowenig erzeugt ihm aber das Nackte ſeines Leibes
Scham. Im Gegenteil: eine unmittelbare Beziehung ſcheint
zu beſtehen zwiſchen dieſer raſchen Linie ſeiner ſexuellen Wünſche
und den Nacktheiten ſeines Leibes. In Urtagen ſchon ſind bei
der Geſtaltung des höheren Tieres die Organe der Diſtance-
und Miſchliebe weſentlich an die entgegengeſetzten Pole des
Leibes geraten, — an die beiden Enden des urſprünglichen
Wurmſchlauches. Auge, Ohr, Naſe, die großen Sinnesſtationen,
vorne hin, an die Kopfſeite, — die Mündungen des Geſchlechts¬
apparates umgekehrt möglichſt nach hinten. Gerade an dieſen
beiden Stellen iſt nun unſer Waldkobold enthaart, entblößt,
nackt. An beiden Stellen aber iſt auch dieſe Nacktheit grell
betüncht mit ſchreienden Farben, — hier Naſe und Backen,
dort die Umgrenzung des Reichs der Miſchliebe. Mit beiden
Geſichtern, vornehmlich aber dem rückwärtigen ſeiner Liebe
grinſt der Affe ſeine weibliche Liebeshälfte an, der Nacktheit
und ihrer Farben ausdrücklich froh. Es iſt ein offenes Ge¬
ſtändnis, eine Liebesſprache zunächſt für das Auge des Weib¬
chens in dieſem Gebahren. Für gewöhnlich laufen und klettern
beide Geſchlechter mit dem Sinnesapparat, den Augen vor
allem, voran. Nun ſehen ſie ſich ſo. Von der ſiegellackroten
Naſe, den kobaltblauen Grinſebacken fliegt der erſte Liebesbrief
hinüber: das allgemeine „Liebe mich!“ Nun die Wendung,
und es kommt der zweite Brief auf ebenſo buntem Briefbogen
mit der abſolut nicht mißverſtändlichen Steigerung.
Welcher unendliche Abſtand zwiſchen dieſen beiden Bildern:
dem Menſchenweibe in der Lotosblume zarter Kultur — und
dem bunten Waldſchratt auf ſeinen Kongobäumen.
Solange Gedanken über Menſchenabſtammung, die an
Darwin anklingen, in der Welt ſind, iſt der Anblick eines
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/28>, abgerufen am 23.11.2024.
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