Es war im achtzehnten Jahrhundert. Da sank der Mensch¬ heit ein Urbild ihrer selbst, das anderthalb Jahrtausende lang sie angehaucht wie der liebe Atem ihrer schwarzen Heimat¬ scholle. Es ist seitdem immer mehr gesunken. Das alte, über¬ natürliche Paradiesesbild. Aber gerade jene Zeit erhielt die Morgengabe, schien es, eines neuen, schöneren Bildes, über dem zugleich der Duft neuer Wahrheit lag.
Weißt du die Stunde, da Kolumbus vor Guanahani lag? "Land!" riefen die Leute. Ich meine immer, in einem höheren Stockwerk der Dinge, wo unsere Worte nur Stichworte einer oberen Sprache sind, hat in dem Ruf noch eine ganze Skala anderer guter Sachen gelegen. Neuland der Geisteswelt. Land einer neuen Zeit. Vielleicht auch einfach: Wahrheit. Neue Wahrheiten. Eine neue Erde. Neue Menschen. Auf Kolumbus folgte Magalhaens. Und auf Magalhaens Cook und Forster. Vor dem Auge der Kultur stiegen Koralleneilande aus dem blauen Meer. Das ewige Grünen und Blühen tropischer Vegetation lag darüber. Und in diesen wahren Paradieses¬ gärten der greifbaren Wirklichkeit hausten schöne nackte Menschen. Zum erstenmale blaute über diesem Meer und diesen Inseln auch der Traum, daß der Urmensch kein gefallener Engel ge¬ wesen sei, sondern ein glückverwöhntes Sonnenkind, dem die Brotfrucht in den Mund hing und das keine Kleider und
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Es war im achtzehnten Jahrhundert. Da ſank der Menſch¬ heit ein Urbild ihrer ſelbſt, das anderthalb Jahrtauſende lang ſie angehaucht wie der liebe Atem ihrer ſchwarzen Heimat¬ ſcholle. Es iſt ſeitdem immer mehr geſunken. Das alte, über¬ natürliche Paradieſesbild. Aber gerade jene Zeit erhielt die Morgengabe, ſchien es, eines neuen, ſchöneren Bildes, über dem zugleich der Duft neuer Wahrheit lag.
Weißt du die Stunde, da Kolumbus vor Guanahani lag? „Land!“ riefen die Leute. Ich meine immer, in einem höheren Stockwerk der Dinge, wo unſere Worte nur Stichworte einer oberen Sprache ſind, hat in dem Ruf noch eine ganze Skala anderer guter Sachen gelegen. Neuland der Geiſteswelt. Land einer neuen Zeit. Vielleicht auch einfach: Wahrheit. Neue Wahrheiten. Eine neue Erde. Neue Menſchen. Auf Kolumbus folgte Magalhaens. Und auf Magalhaens Cook und Forſter. Vor dem Auge der Kultur ſtiegen Koralleneilande aus dem blauen Meer. Das ewige Grünen und Blühen tropiſcher Vegetation lag darüber. Und in dieſen wahren Paradieſes¬ gärten der greifbaren Wirklichkeit hauſten ſchöne nackte Menſchen. Zum erſtenmale blaute über dieſem Meer und dieſen Inſeln auch der Traum, daß der Urmenſch kein gefallener Engel ge¬ weſen ſei, ſondern ein glückverwöhntes Sonnenkind, dem die Brotfrucht in den Mund hing und das keine Kleider und
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Es war im achtzehnten Jahrhundert. Da ſank der Menſch¬
heit ein Urbild ihrer ſelbſt, das anderthalb Jahrtauſende lang
ſie angehaucht wie der liebe Atem ihrer ſchwarzen Heimat¬
ſcholle. Es iſt ſeitdem immer mehr geſunken. Das alte, über¬
natürliche Paradieſesbild. Aber gerade jene Zeit erhielt die
Morgengabe, ſchien es, eines neuen, ſchöneren Bildes, über
dem zugleich der Duft neuer Wahrheit lag.
Weißt du die Stunde, da Kolumbus vor Guanahani lag?
„Land!“ riefen die Leute. Ich meine immer, in einem höheren
Stockwerk der Dinge, wo unſere Worte nur Stichworte einer
oberen Sprache ſind, hat in dem Ruf noch eine ganze Skala
anderer guter Sachen gelegen. Neuland der Geiſteswelt. Land
einer neuen Zeit. Vielleicht auch einfach: Wahrheit. Neue
Wahrheiten. Eine neue Erde. Neue Menſchen. Auf Kolumbus
folgte Magalhaens. Und auf Magalhaens Cook und Forſter.
Vor dem Auge der Kultur ſtiegen Koralleneilande aus dem
blauen Meer. Das ewige Grünen und Blühen tropiſcher
Vegetation lag darüber. Und in dieſen wahren Paradieſes¬
gärten der greifbaren Wirklichkeit hauſten ſchöne nackte Menſchen.
Zum erſtenmale blaute über dieſem Meer und dieſen Inſeln
auch der Traum, daß der Urmenſch kein gefallener Engel ge¬
weſen ſei, ſondern ein glückverwöhntes Sonnenkind, dem die
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/36>, abgerufen am 23.11.2024.
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