"Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, Als daß sich Gott-Natur ihm offenbare ..."
Mitternachtsstunde. Durch dein ganzes altes Kloster geht es wie ein dumpfes Rumoren. Alle verräucherten Wände knacken, im morschen Holzgetäfel ticken die Bohrwürmer, ein Nachtvogel am Fenster ruft.
Aber nun über allem ein fernes Summen von Melodie: Glockengeläut. Das sind die guten Liebesgeister, die singen um das Haus. Sie singen durch die frostkalte Sternennacht noch einmal ihr Lied vom Menschen.
"Friede auf Erden."
In solcher eisigen Winternacht ist er einst geboren worden, wie ein armer Ausgestoßener, der auf einem Feldrain zur Welt kommt. Sein ungeheurer Planet hatte die Feuertage der Jugend hinter sich, dunkel war er geworden, daß die fernen Welten als Sterne über ihm sichtbar wurden. Nun kam die Eiszeit über ihn wie ein Fieberschauer. Aber es war das Fieber des Ge¬ bärens. All seine alte Sonnenglut goß er in das eine Wesen, den Menschen. Steh auf, Menschlein, und sieh die Sterne über dir und denke nach über sie und über dich! Du sollst fortan der Planetengeist sein. Trage sein Licht, trage sein Trübsal.
Nackt und bloß lag das Menschenkind auf der harten Erde, nicht im Paradiese. Aber aus dieser Brust der Erde trank es
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„Was kann der Menſch im Leben mehr gewinnen, Als daß ſich Gott-Natur ihm offenbare ...“
Mitternachtsſtunde. Durch dein ganzes altes Kloſter geht es wie ein dumpfes Rumoren. Alle verräucherten Wände knacken, im morſchen Holzgetäfel ticken die Bohrwürmer, ein Nachtvogel am Fenſter ruft.
Aber nun über allem ein fernes Summen von Melodie: Glockengeläut. Das ſind die guten Liebesgeiſter, die ſingen um das Haus. Sie ſingen durch die froſtkalte Sternennacht noch einmal ihr Lied vom Menſchen.
„Friede auf Erden.“
In ſolcher eiſigen Winternacht iſt er einſt geboren worden, wie ein armer Ausgeſtoßener, der auf einem Feldrain zur Welt kommt. Sein ungeheurer Planet hatte die Feuertage der Jugend hinter ſich, dunkel war er geworden, daß die fernen Welten als Sterne über ihm ſichtbar wurden. Nun kam die Eiszeit über ihn wie ein Fieberſchauer. Aber es war das Fieber des Ge¬ bärens. All ſeine alte Sonnenglut goß er in das eine Weſen, den Menſchen. Steh auf, Menſchlein, und ſieh die Sterne über dir und denke nach über ſie und über dich! Du ſollſt fortan der Planetengeiſt ſein. Trage ſein Licht, trage ſein Trübſal.
Nackt und bloß lag das Menſchenkind auf der harten Erde, nicht im Paradieſe. Aber aus dieſer Bruſt der Erde trank es
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„Was kann der Menſch im Leben mehr gewinnen,
Als daß ſich Gott-Natur ihm offenbare ...“
Mitternachtsſtunde. Durch dein ganzes altes Kloſter
geht es wie ein dumpfes Rumoren. Alle verräucherten Wände
knacken, im morſchen Holzgetäfel ticken die Bohrwürmer, ein
Nachtvogel am Fenſter ruft.
Aber nun über allem ein fernes Summen von Melodie:
Glockengeläut. Das ſind die guten Liebesgeiſter, die ſingen
um das Haus. Sie ſingen durch die froſtkalte Sternennacht
noch einmal ihr Lied vom Menſchen.
„Friede auf Erden.“
In ſolcher eiſigen Winternacht iſt er einſt geboren worden,
wie ein armer Ausgeſtoßener, der auf einem Feldrain zur Welt
kommt. Sein ungeheurer Planet hatte die Feuertage der Jugend
hinter ſich, dunkel war er geworden, daß die fernen Welten als
Sterne über ihm ſichtbar wurden. Nun kam die Eiszeit über
ihn wie ein Fieberſchauer. Aber es war das Fieber des Ge¬
bärens. All ſeine alte Sonnenglut goß er in das eine Weſen,
den Menſchen. Steh auf, Menſchlein, und ſieh die Sterne über
dir und denke nach über ſie und über dich! Du ſollſt fortan
der Planetengeiſt ſein. Trage ſein Licht, trage ſein Trübſal.
Nackt und bloß lag das Menſchenkind auf der harten Erde,
nicht im Paradieſe. Aber aus dieſer Bruſt der Erde trank es
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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/365>, abgerufen am 21.11.2024.
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