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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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Menschen in der Natur -- als Natur -- haben. Diese
Natur als Ganzes ist nicht bloß Kraft und Stoff -- sie ist
auch Menschengeist. Sie ist nicht bloß Planetensystem: sie ist
auch Kepler, der die Gesetze dieser Planetenbewegung erkennt.
Sie hat Goethes "Faust" geschrieben und Beethovens Sym¬
phonien, sie hat die "Venus von Milo" gemacht und das
"Jüngste Gericht", sie hat als Christus die Menschenliebe ge¬
predigt und den Armen und Beladenen verkündet, daß in der
Welt des Höhen-Menschen nicht mehr gelten soll "Auge um
Auge, Zahn um Zahn", sondern daß die Liebe siebenmal
siebenmal alle Schuld vergeben soll.

Das sieht recht trivial aus, wenn man es so sagt, und
doch scheitert noch bei der Masse der Menschen heute die große
und befreiende Auffassung von der Natur gerade daran, daß sie
das Menschliche doch immer wieder auslassen bei dem Wort.
Giebst du es resolut hinein, so kannst du auch nicht umhin,
es schon in den Grund der Dinge zu legen. Alles, was als
Geist, Bewußtsein, Ethik, Nächstenliebe, was als Kunst, als
Rhythmus, als Schönheit oben herausgekommen ist, muß tief
unten schon in ihr als Ureigenschaft grundsätzlich angelegt
gewesen sein. Es lag im Schoße ihrer Eigenschaften, ihres
"Naturgesetzten". Darum konnte es als einfaches Produkt der
sogenannten Naturgesetze "mechanisch" entstehen, ohne besondere
Eingriffe von oben, ohne daß noch einmal ein besonderes
metaphysisches Zielpferdchen im Pferde saß. Es konnte ent¬
stehen als einfach berechenbare Kausalfolge so, wie Goethes
"Faust" wirklich auch als einfache Folge sich "mechanisch"
berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Persönlichkeit.

Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers.
Was hilft all dieses Blütentreiben der Natur? Goethe hat
doch auch eines Tages sterben müssen. Und auch der Faust
muß zuletzt wieder spurlos verschwinden. Eines Tages "ver¬
ging wie Hauch" der Menschen Geschlecht. Die alte Erde,
längst wieder tot und vereist, stürzt in die Sonne ab. Und

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Menſchen in der Natur — als Natur — haben. Dieſe
Natur als Ganzes iſt nicht bloß Kraft und Stoff — ſie iſt
auch Menſchengeiſt. Sie iſt nicht bloß Planetenſyſtem: ſie iſt
auch Kepler, der die Geſetze dieſer Planetenbewegung erkennt.
Sie hat Goethes „Fauſt“ geſchrieben und Beethovens Sym¬
phonien, ſie hat die „Venus von Milo“ gemacht und das
„Jüngſte Gericht“, ſie hat als Chriſtus die Menſchenliebe ge¬
predigt und den Armen und Beladenen verkündet, daß in der
Welt des Höhen-Menſchen nicht mehr gelten ſoll „Auge um
Auge, Zahn um Zahn“, ſondern daß die Liebe ſiebenmal
ſiebenmal alle Schuld vergeben ſoll.

Das ſieht recht trivial aus, wenn man es ſo ſagt, und
doch ſcheitert noch bei der Maſſe der Menſchen heute die große
und befreiende Auffaſſung von der Natur gerade daran, daß ſie
das Menſchliche doch immer wieder auslaſſen bei dem Wort.
Giebſt du es reſolut hinein, ſo kannſt du auch nicht umhin,
es ſchon in den Grund der Dinge zu legen. Alles, was als
Geiſt, Bewußtſein, Ethik, Nächſtenliebe, was als Kunſt, als
Rhythmus, als Schönheit oben herausgekommen iſt, muß tief
unten ſchon in ihr als Ureigenſchaft grundſätzlich angelegt
geweſen ſein. Es lag im Schoße ihrer Eigenſchaften, ihres
„Naturgeſetzten“. Darum konnte es als einfaches Produkt der
ſogenannten Naturgeſetze „mechaniſch“ entſtehen, ohne beſondere
Eingriffe von oben, ohne daß noch einmal ein beſonderes
metaphyſiſches Zielpferdchen im Pferde ſaß. Es konnte ent¬
ſtehen als einfach berechenbare Kauſalfolge ſo, wie Goethes
„Fauſt“ wirklich auch als einfache Folge ſich „mechaniſch“
berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Perſönlichkeit.

Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers.
Was hilft all dieſes Blütentreiben der Natur? Goethe hat
doch auch eines Tages ſterben müſſen. Und auch der Fauſt
muß zuletzt wieder ſpurlos verſchwinden. Eines Tages „ver¬
ging wie Hauch“ der Menſchen Geſchlecht. Die alte Erde,
längſt wieder tot und vereiſt, ſtürzt in die Sonne ab. Und

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[369/0383] Menſchen in der Natur — als Natur — haben. Dieſe Natur als Ganzes iſt nicht bloß Kraft und Stoff — ſie iſt auch Menſchengeiſt. Sie iſt nicht bloß Planetenſyſtem: ſie iſt auch Kepler, der die Geſetze dieſer Planetenbewegung erkennt. Sie hat Goethes „Fauſt“ geſchrieben und Beethovens Sym¬ phonien, ſie hat die „Venus von Milo“ gemacht und das „Jüngſte Gericht“, ſie hat als Chriſtus die Menſchenliebe ge¬ predigt und den Armen und Beladenen verkündet, daß in der Welt des Höhen-Menſchen nicht mehr gelten ſoll „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, ſondern daß die Liebe ſiebenmal ſiebenmal alle Schuld vergeben ſoll. Das ſieht recht trivial aus, wenn man es ſo ſagt, und doch ſcheitert noch bei der Maſſe der Menſchen heute die große und befreiende Auffaſſung von der Natur gerade daran, daß ſie das Menſchliche doch immer wieder auslaſſen bei dem Wort. Giebſt du es reſolut hinein, ſo kannſt du auch nicht umhin, es ſchon in den Grund der Dinge zu legen. Alles, was als Geiſt, Bewußtſein, Ethik, Nächſtenliebe, was als Kunſt, als Rhythmus, als Schönheit oben herausgekommen iſt, muß tief unten ſchon in ihr als Ureigenſchaft grundſätzlich angelegt geweſen ſein. Es lag im Schoße ihrer Eigenſchaften, ihres „Naturgeſetzten“. Darum konnte es als einfaches Produkt der ſogenannten Naturgeſetze „mechaniſch“ entſtehen, ohne beſondere Eingriffe von oben, ohne daß noch einmal ein beſonderes metaphyſiſches Zielpferdchen im Pferde ſaß. Es konnte ent¬ ſtehen als einfach berechenbare Kauſalfolge ſo, wie Goethes „Fauſt“ wirklich auch als einfache Folge ſich „mechaniſch“ berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Perſönlichkeit. Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers. Was hilft all dieſes Blütentreiben der Natur? Goethe hat doch auch eines Tages ſterben müſſen. Und auch der Fauſt muß zuletzt wieder ſpurlos verſchwinden. Eines Tages „ver¬ ging wie Hauch“ der Menſchen Geſchlecht. Die alte Erde, längſt wieder tot und vereiſt, ſtürzt in die Sonne ab. Und 24

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/383>, abgerufen am 21.11.2024.