Menschen in der Natur -- als Natur -- haben. Diese Natur als Ganzes ist nicht bloß Kraft und Stoff -- sie ist auch Menschengeist. Sie ist nicht bloß Planetensystem: sie ist auch Kepler, der die Gesetze dieser Planetenbewegung erkennt. Sie hat Goethes "Faust" geschrieben und Beethovens Sym¬ phonien, sie hat die "Venus von Milo" gemacht und das "Jüngste Gericht", sie hat als Christus die Menschenliebe ge¬ predigt und den Armen und Beladenen verkündet, daß in der Welt des Höhen-Menschen nicht mehr gelten soll "Auge um Auge, Zahn um Zahn", sondern daß die Liebe siebenmal siebenmal alle Schuld vergeben soll.
Das sieht recht trivial aus, wenn man es so sagt, und doch scheitert noch bei der Masse der Menschen heute die große und befreiende Auffassung von der Natur gerade daran, daß sie das Menschliche doch immer wieder auslassen bei dem Wort. Giebst du es resolut hinein, so kannst du auch nicht umhin, es schon in den Grund der Dinge zu legen. Alles, was als Geist, Bewußtsein, Ethik, Nächstenliebe, was als Kunst, als Rhythmus, als Schönheit oben herausgekommen ist, muß tief unten schon in ihr als Ureigenschaft grundsätzlich angelegt gewesen sein. Es lag im Schoße ihrer Eigenschaften, ihres "Naturgesetzten". Darum konnte es als einfaches Produkt der sogenannten Naturgesetze "mechanisch" entstehen, ohne besondere Eingriffe von oben, ohne daß noch einmal ein besonderes metaphysisches Zielpferdchen im Pferde saß. Es konnte ent¬ stehen als einfach berechenbare Kausalfolge so, wie Goethes "Faust" wirklich auch als einfache Folge sich "mechanisch" berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Persönlichkeit.
Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers. Was hilft all dieses Blütentreiben der Natur? Goethe hat doch auch eines Tages sterben müssen. Und auch der Faust muß zuletzt wieder spurlos verschwinden. Eines Tages "ver¬ ging wie Hauch" der Menschen Geschlecht. Die alte Erde, längst wieder tot und vereist, stürzt in die Sonne ab. Und
24
Menſchen in der Natur — als Natur — haben. Dieſe Natur als Ganzes iſt nicht bloß Kraft und Stoff — ſie iſt auch Menſchengeiſt. Sie iſt nicht bloß Planetenſyſtem: ſie iſt auch Kepler, der die Geſetze dieſer Planetenbewegung erkennt. Sie hat Goethes „Fauſt“ geſchrieben und Beethovens Sym¬ phonien, ſie hat die „Venus von Milo“ gemacht und das „Jüngſte Gericht“, ſie hat als Chriſtus die Menſchenliebe ge¬ predigt und den Armen und Beladenen verkündet, daß in der Welt des Höhen-Menſchen nicht mehr gelten ſoll „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, ſondern daß die Liebe ſiebenmal ſiebenmal alle Schuld vergeben ſoll.
Das ſieht recht trivial aus, wenn man es ſo ſagt, und doch ſcheitert noch bei der Maſſe der Menſchen heute die große und befreiende Auffaſſung von der Natur gerade daran, daß ſie das Menſchliche doch immer wieder auslaſſen bei dem Wort. Giebſt du es reſolut hinein, ſo kannſt du auch nicht umhin, es ſchon in den Grund der Dinge zu legen. Alles, was als Geiſt, Bewußtſein, Ethik, Nächſtenliebe, was als Kunſt, als Rhythmus, als Schönheit oben herausgekommen iſt, muß tief unten ſchon in ihr als Ureigenſchaft grundſätzlich angelegt geweſen ſein. Es lag im Schoße ihrer Eigenſchaften, ihres „Naturgeſetzten“. Darum konnte es als einfaches Produkt der ſogenannten Naturgeſetze „mechaniſch“ entſtehen, ohne beſondere Eingriffe von oben, ohne daß noch einmal ein beſonderes metaphyſiſches Zielpferdchen im Pferde ſaß. Es konnte ent¬ ſtehen als einfach berechenbare Kauſalfolge ſo, wie Goethes „Fauſt“ wirklich auch als einfache Folge ſich „mechaniſch“ berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Perſönlichkeit.
Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers. Was hilft all dieſes Blütentreiben der Natur? Goethe hat doch auch eines Tages ſterben müſſen. Und auch der Fauſt muß zuletzt wieder ſpurlos verſchwinden. Eines Tages „ver¬ ging wie Hauch“ der Menſchen Geſchlecht. Die alte Erde, längſt wieder tot und vereiſt, ſtürzt in die Sonne ab. Und
24
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0383"n="369"/>
Menſchen in der Natur — als Natur — haben. Dieſe<lb/>
Natur als Ganzes iſt nicht bloß Kraft und Stoff —ſie iſt<lb/>
auch Menſchengeiſt. Sie iſt nicht bloß Planetenſyſtem: ſie iſt<lb/>
auch Kepler, der die Geſetze dieſer Planetenbewegung erkennt.<lb/>
Sie hat Goethes „Fauſt“ geſchrieben und Beethovens Sym¬<lb/>
phonien, ſie hat die „Venus von Milo“ gemacht und das<lb/>„Jüngſte Gericht“, ſie hat als Chriſtus die Menſchenliebe ge¬<lb/>
predigt und den Armen und Beladenen verkündet, daß in der<lb/>
Welt des Höhen-Menſchen nicht mehr gelten ſoll „Auge um<lb/>
Auge, Zahn um Zahn“, ſondern daß die Liebe ſiebenmal<lb/>ſiebenmal alle Schuld vergeben ſoll.</p><lb/><p>Das ſieht recht trivial aus, wenn man es ſo ſagt, und<lb/>
doch ſcheitert noch bei der Maſſe der Menſchen heute die große<lb/>
und befreiende Auffaſſung von der Natur gerade daran, daß ſie<lb/>
das Menſchliche doch immer wieder auslaſſen bei dem Wort.<lb/>
Giebſt du es reſolut hinein, ſo kannſt du auch nicht umhin,<lb/>
es ſchon in den <hirendition="#g">Grund</hi> der Dinge zu legen. Alles, was als<lb/>
Geiſt, Bewußtſein, Ethik, Nächſtenliebe, was als Kunſt, als<lb/>
Rhythmus, als Schönheit oben herausgekommen iſt, muß tief<lb/>
unten ſchon in ihr als Ureigenſchaft grundſätzlich angelegt<lb/>
geweſen ſein. Es lag im Schoße ihrer Eigenſchaften, ihres<lb/>„Naturgeſetzten“. Darum konnte es als einfaches Produkt der<lb/>ſogenannten Naturgeſetze „mechaniſch“ entſtehen, ohne beſondere<lb/>
Eingriffe von oben, ohne daß noch einmal ein beſonderes<lb/>
metaphyſiſches Zielpferdchen im Pferde ſaß. Es konnte ent¬<lb/>ſtehen als einfach berechenbare Kauſalfolge ſo, wie Goethes<lb/>„Fauſt“ wirklich auch als einfache Folge ſich „mechaniſch“<lb/>
berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Perſönlichkeit.</p><lb/><p>Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers.<lb/>
Was hilft all dieſes Blütentreiben der Natur? Goethe hat<lb/>
doch auch eines Tages ſterben müſſen. Und auch der Fauſt<lb/>
muß zuletzt wieder ſpurlos verſchwinden. Eines Tages „ver¬<lb/>
ging wie Hauch“ der Menſchen Geſchlecht. Die alte Erde,<lb/>
längſt wieder tot und vereiſt, ſtürzt in die Sonne ab. Und<lb/><fwplace="bottom"type="sig">24<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[369/0383]
Menſchen in der Natur — als Natur — haben. Dieſe
Natur als Ganzes iſt nicht bloß Kraft und Stoff — ſie iſt
auch Menſchengeiſt. Sie iſt nicht bloß Planetenſyſtem: ſie iſt
auch Kepler, der die Geſetze dieſer Planetenbewegung erkennt.
Sie hat Goethes „Fauſt“ geſchrieben und Beethovens Sym¬
phonien, ſie hat die „Venus von Milo“ gemacht und das
„Jüngſte Gericht“, ſie hat als Chriſtus die Menſchenliebe ge¬
predigt und den Armen und Beladenen verkündet, daß in der
Welt des Höhen-Menſchen nicht mehr gelten ſoll „Auge um
Auge, Zahn um Zahn“, ſondern daß die Liebe ſiebenmal
ſiebenmal alle Schuld vergeben ſoll.
Das ſieht recht trivial aus, wenn man es ſo ſagt, und
doch ſcheitert noch bei der Maſſe der Menſchen heute die große
und befreiende Auffaſſung von der Natur gerade daran, daß ſie
das Menſchliche doch immer wieder auslaſſen bei dem Wort.
Giebſt du es reſolut hinein, ſo kannſt du auch nicht umhin,
es ſchon in den Grund der Dinge zu legen. Alles, was als
Geiſt, Bewußtſein, Ethik, Nächſtenliebe, was als Kunſt, als
Rhythmus, als Schönheit oben herausgekommen iſt, muß tief
unten ſchon in ihr als Ureigenſchaft grundſätzlich angelegt
geweſen ſein. Es lag im Schoße ihrer Eigenſchaften, ihres
„Naturgeſetzten“. Darum konnte es als einfaches Produkt der
ſogenannten Naturgeſetze „mechaniſch“ entſtehen, ohne beſondere
Eingriffe von oben, ohne daß noch einmal ein beſonderes
metaphyſiſches Zielpferdchen im Pferde ſaß. Es konnte ent¬
ſtehen als einfach berechenbare Kauſalfolge ſo, wie Goethes
„Fauſt“ wirklich auch als einfache Folge ſich „mechaniſch“
berechnen ließe aus allen Faktoren von Goethes Perſönlichkeit.
Hier höre ich nun abermals die Stimme des Weltzweiflers.
Was hilft all dieſes Blütentreiben der Natur? Goethe hat
doch auch eines Tages ſterben müſſen. Und auch der Fauſt
muß zuletzt wieder ſpurlos verſchwinden. Eines Tages „ver¬
ging wie Hauch“ der Menſchen Geſchlecht. Die alte Erde,
längſt wieder tot und vereiſt, ſtürzt in die Sonne ab. Und
24
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/383>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.