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Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903.

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-- hier den nackten Körper. Der rhythmische Sinn wendet sich
dem, sobald es gegeben ist, triebhaft sicher als dem Wohl¬
gefälligeren
zu. Da hinein mischt sich nun ein erotisches
Ideal: das zum Liebeszweck wählende Auge, vom Daseins¬
kampf entlastet und allen feineren Regungen erhöht zugänglich,
wählt für seine höhere Praxis das Wohlgefälligste zum Zweck
der Knüpfung des Liebesindividuums. Und auf dieser Liebes¬
brücke wird das ästhetische Ideal jetzt immer verstärkt zur
wahren Realität gemacht, es sinkt ein in das tiefste Mysterium
des Zeugungsprozesses und steigt an dieser goldenen Leiter
dann unaufhaltsam in die Entwickelung selber hinauf, wo der
Wunsch endlich als Erfüllung, die Freude am Ästhetischen als
eine immer ästhetischere Welt erscheint.

Notwendig ist dabei bloß, daß du den rhythmischen Sinn
als solchen zugiebst als eine seelische Grund-Eigenschaft -- und
außerdem gewisse körperliche rhythmische Grundveranlagungen in
der Natur. Also in diesem Falle beim Menschen einen Sinn für
die größere rhythmische Wohlgefälligkeit des nackten, bunt be¬
malten Körpers vom Moment an, da er als gegebener Kontrast
neben dem um und um formlos bepelzten stand. Und bei diesem
Körper selbst eben gewisse rhythmisch wirkende Verhältnisse, die
gleichsam befreit, aktiv wurden im Moment, da der fremde und
eigene Pelz die Decke davon zog. Vor dem "Bewußten" des
Prozesses brauchst du dabei nicht unnötig viel Angst zu haben.
In einigem Sinne sind wir ja gewiß jetzt in der Sphäre des
"Bewußtseins". Aber wenn dir graut vor dem urmenschlich
viel zu hohen Gedankenprozeß: "Ich finde das schön, folglich
wähle ich mir dieses Schönste für meine Liebe", -- so merke
dir, daß du gerade den rhythmischen Sinn, also das "Ich finde
das schön" gar nicht triebhaft-intuitiv genug auffassen kannst.
Du brauchst dir auch nicht das kleinste Titelchen einer Re¬
flexion hineinzudenken, -- so wenig wie heute der Wilde
"denkt", wenn er nach der blauen Perle greift statt nach der
weißen, oder das Kind "denkt", das stundenlang mit Andacht

— hier den nackten Körper. Der rhythmiſche Sinn wendet ſich
dem, ſobald es gegeben iſt, triebhaft ſicher als dem Wohl¬
gefälligeren
zu. Da hinein miſcht ſich nun ein erotiſches
Ideal: das zum Liebeszweck wählende Auge, vom Daſeins¬
kampf entlaſtet und allen feineren Regungen erhöht zugänglich,
wählt für ſeine höhere Praxis das Wohlgefälligſte zum Zweck
der Knüpfung des Liebesindividuums. Und auf dieſer Liebes¬
brücke wird das äſthetiſche Ideal jetzt immer verſtärkt zur
wahren Realität gemacht, es ſinkt ein in das tiefſte Myſterium
des Zeugungsprozeſſes und ſteigt an dieſer goldenen Leiter
dann unaufhaltſam in die Entwickelung ſelber hinauf, wo der
Wunſch endlich als Erfüllung, die Freude am Äſthetiſchen als
eine immer äſthetiſchere Welt erſcheint.

Notwendig iſt dabei bloß, daß du den rhythmiſchen Sinn
als ſolchen zugiebſt als eine ſeeliſche Grund-Eigenſchaft — und
außerdem gewiſſe körperliche rhythmiſche Grundveranlagungen in
der Natur. Alſo in dieſem Falle beim Menſchen einen Sinn für
die größere rhythmiſche Wohlgefälligkeit des nackten, bunt be¬
malten Körpers vom Moment an, da er als gegebener Kontraſt
neben dem um und um formlos bepelzten ſtand. Und bei dieſem
Körper ſelbſt eben gewiſſe rhythmiſch wirkende Verhältniſſe, die
gleichſam befreit, aktiv wurden im Moment, da der fremde und
eigene Pelz die Decke davon zog. Vor dem „Bewußten“ des
Prozeſſes brauchſt du dabei nicht unnötig viel Angſt zu haben.
In einigem Sinne ſind wir ja gewiß jetzt in der Sphäre des
„Bewußtſeins“. Aber wenn dir graut vor dem urmenſchlich
viel zu hohen Gedankenprozeß: „Ich finde das ſchön, folglich
wähle ich mir dieſes Schönſte für meine Liebe“, — ſo merke
dir, daß du gerade den rhythmiſchen Sinn, alſo das „Ich finde
das ſchön“ gar nicht triebhaft-intuitiv genug auffaſſen kannſt.
Du brauchſt dir auch nicht das kleinſte Titelchen einer Re¬
flexion hineinzudenken, — ſo wenig wie heute der Wilde
„denkt“, wenn er nach der blauen Perle greift ſtatt nach der
weißen, oder das Kind „denkt“, das ſtundenlang mit Andacht

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[63/0077] — hier den nackten Körper. Der rhythmiſche Sinn wendet ſich dem, ſobald es gegeben iſt, triebhaft ſicher als dem Wohl¬ gefälligeren zu. Da hinein miſcht ſich nun ein erotiſches Ideal: das zum Liebeszweck wählende Auge, vom Daſeins¬ kampf entlaſtet und allen feineren Regungen erhöht zugänglich, wählt für ſeine höhere Praxis das Wohlgefälligſte zum Zweck der Knüpfung des Liebesindividuums. Und auf dieſer Liebes¬ brücke wird das äſthetiſche Ideal jetzt immer verſtärkt zur wahren Realität gemacht, es ſinkt ein in das tiefſte Myſterium des Zeugungsprozeſſes und ſteigt an dieſer goldenen Leiter dann unaufhaltſam in die Entwickelung ſelber hinauf, wo der Wunſch endlich als Erfüllung, die Freude am Äſthetiſchen als eine immer äſthetiſchere Welt erſcheint. Notwendig iſt dabei bloß, daß du den rhythmiſchen Sinn als ſolchen zugiebſt als eine ſeeliſche Grund-Eigenſchaft — und außerdem gewiſſe körperliche rhythmiſche Grundveranlagungen in der Natur. Alſo in dieſem Falle beim Menſchen einen Sinn für die größere rhythmiſche Wohlgefälligkeit des nackten, bunt be¬ malten Körpers vom Moment an, da er als gegebener Kontraſt neben dem um und um formlos bepelzten ſtand. Und bei dieſem Körper ſelbſt eben gewiſſe rhythmiſch wirkende Verhältniſſe, die gleichſam befreit, aktiv wurden im Moment, da der fremde und eigene Pelz die Decke davon zog. Vor dem „Bewußten“ des Prozeſſes brauchſt du dabei nicht unnötig viel Angſt zu haben. In einigem Sinne ſind wir ja gewiß jetzt in der Sphäre des „Bewußtſeins“. Aber wenn dir graut vor dem urmenſchlich viel zu hohen Gedankenprozeß: „Ich finde das ſchön, folglich wähle ich mir dieſes Schönſte für meine Liebe“, — ſo merke dir, daß du gerade den rhythmiſchen Sinn, alſo das „Ich finde das ſchön“ gar nicht triebhaft-intuitiv genug auffaſſen kannſt. Du brauchſt dir auch nicht das kleinſte Titelchen einer Re¬ flexion hineinzudenken, — ſo wenig wie heute der Wilde „denkt“, wenn er nach der blauen Perle greift ſtatt nach der weißen, oder das Kind „denkt“, das ſtundenlang mit Andacht

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Zitationshilfe: Bölsche, Wilhelm: Das Liebesleben in der Natur. Bd. 3. Leipzig, 1903, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boelsche_liebesleben03_1903/77>, abgerufen am 24.11.2024.