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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

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nicht, und ich frage mich, ob es ein Traum ist?
Ich hätte nicht gedacht, daß ich noch je eine solche
Lebensart vertragen könnte. Aber nicht allein, daß
mir das nichts schadet, ich fühle mich noch wohler
dabei. Ich war seit Jahre nicht so heiter, so ner¬
venfroh, als seit ich hier bin. Die Einsamkeit scheint
nichts für mich zu taugen, Zerstreuung mir zuträg¬
lich zu seyn. Die langen Krankheiten der letzten
Jahre haben mich noch mehr entmuthigt als ge¬
schwächt, und hier erst bekam ich wieder Herz zu
leben. Die geistige Atmosphäre, die freie Luft,
in der man hier auch im Zimmer lebt, die Lebhaf¬
tigkeit der Unterhaltung und der ewig wechselnde
Stoff wirken vortheilhaft auf mich. Ich esse zwei¬
mal so viel wie in Deutschland und kann es ver¬
tragen. Es kömmt aber daher, daß ich mich beim
Tische unterhalte, selbst wenn ich allein beim Restau¬
rateur esse; die ewig wechselnden Umgebungen, die
Kaumanieren aller europäischen Mäuler, das würzt
die Speisen und macht sie verdaulicher. Und die
Ferien, die schönen Ferien! Das Ausruhen von der
Logik -- das ist's vor allem, was meine Nerven
liebkost. Aber dem Sauerkraute bleibe ich treu, das
eine Band zerreiße ich nie, nie.

nicht, und ich frage mich, ob es ein Traum iſt?
Ich hätte nicht gedacht, daß ich noch je eine ſolche
Lebensart vertragen könnte. Aber nicht allein, daß
mir das nichts ſchadet, ich fühle mich noch wohler
dabei. Ich war ſeit Jahre nicht ſo heiter, ſo ner¬
venfroh, als ſeit ich hier bin. Die Einſamkeit ſcheint
nichts für mich zu taugen, Zerſtreuung mir zuträg¬
lich zu ſeyn. Die langen Krankheiten der letzten
Jahre haben mich noch mehr entmuthigt als ge¬
ſchwächt, und hier erſt bekam ich wieder Herz zu
leben. Die geiſtige Atmoſphäre, die freie Luft,
in der man hier auch im Zimmer lebt, die Lebhaf¬
tigkeit der Unterhaltung und der ewig wechſelnde
Stoff wirken vortheilhaft auf mich. Ich eſſe zwei¬
mal ſo viel wie in Deutſchland und kann es ver¬
tragen. Es kömmt aber daher, daß ich mich beim
Tiſche unterhalte, ſelbſt wenn ich allein beim Reſtau¬
rateur eſſe; die ewig wechſelnden Umgebungen, die
Kaumanieren aller europäiſchen Mäuler, das würzt
die Speiſen und macht ſie verdaulicher. Und die
Ferien, die ſchönen Ferien! Das Ausruhen von der
Logik — das iſt's vor allem, was meine Nerven
liebkoſt. Aber dem Sauerkraute bleibe ich treu, das
eine Band zerreiße ich nie, nie.

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[94/0108] nicht, und ich frage mich, ob es ein Traum iſt? Ich hätte nicht gedacht, daß ich noch je eine ſolche Lebensart vertragen könnte. Aber nicht allein, daß mir das nichts ſchadet, ich fühle mich noch wohler dabei. Ich war ſeit Jahre nicht ſo heiter, ſo ner¬ venfroh, als ſeit ich hier bin. Die Einſamkeit ſcheint nichts für mich zu taugen, Zerſtreuung mir zuträg¬ lich zu ſeyn. Die langen Krankheiten der letzten Jahre haben mich noch mehr entmuthigt als ge¬ ſchwächt, und hier erſt bekam ich wieder Herz zu leben. Die geiſtige Atmoſphäre, die freie Luft, in der man hier auch im Zimmer lebt, die Lebhaf¬ tigkeit der Unterhaltung und der ewig wechſelnde Stoff wirken vortheilhaft auf mich. Ich eſſe zwei¬ mal ſo viel wie in Deutſchland und kann es ver¬ tragen. Es kömmt aber daher, daß ich mich beim Tiſche unterhalte, ſelbſt wenn ich allein beim Reſtau¬ rateur eſſe; die ewig wechſelnden Umgebungen, die Kaumanieren aller europäiſchen Mäuler, das würzt die Speiſen und macht ſie verdaulicher. Und die Ferien, die ſchönen Ferien! Das Ausruhen von der Logik — das iſt's vor allem, was meine Nerven liebkoſt. Aber dem Sauerkraute bleibe ich treu, das eine Band zerreiße ich nie, nie.

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/108>, abgerufen am 22.12.2024.