Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832.

Bild:
<< vorherige Seite

Wäre Deutschland reifer als ich gedacht? Hätte ich
dem Volke Unrecht gethan? Hätten sie unter Schlaf¬
mützen und Schlafrock heimlich Helm und Harnisch
getragen? O, wie gern, wie gern! Scheltet mich
wie einen Schulbuben, gebet mir die Ruthe, stellt
mich hinter den Ofen -- gern will ich die schlimmste
Züchtigung ertragen, wenn ich nur Unrecht gehabt.
Wenn sie sich nur erst die Augen gerieben, wenn sie
nur erst recht zur Besinnung gekommen, werden sie sich
erstaunt betasten, werden im Zimmer umher blicken,
das Fenster öffnen und nach dem Himmel sehen,
und fragen: welcher Wochentag, welcher Monatstag
ist denn heute, wie lange haben wir geschlafen?
Unglückselige! nur der Muthige wacht. Wie hat
man es nur so lange ertragen? Es ist eine Frage,
die mir der Schwindel gibt. Einer erträgt es, noch
Einer, noch Einer -- aber wie ertragen es Millio¬
nen? Der Spott zu seyn aller erwachsenen Völker!
wie der kleine dumme Hans, der noch kein Jahr
Hosen trägt, zu zittern vor dem Stöckchen jedes
alten, schwachen, gräulichen Schulmeisters! .. Aber
Wehe ihnen, daß wir erröthen! Das Erröthen der
Völker ist nicht wie Rosenschein eines verschämten
Mädchens; es ist Nordlicht voll Zorn und Ge¬
fahren.

Wäre Deutſchland reifer als ich gedacht? Hätte ich
dem Volke Unrecht gethan? Hätten ſie unter Schlaf¬
mützen und Schlafrock heimlich Helm und Harniſch
getragen? O, wie gern, wie gern! Scheltet mich
wie einen Schulbuben, gebet mir die Ruthe, ſtellt
mich hinter den Ofen — gern will ich die ſchlimmſte
Züchtigung ertragen, wenn ich nur Unrecht gehabt.
Wenn ſie ſich nur erſt die Augen gerieben, wenn ſie
nur erſt recht zur Beſinnung gekommen, werden ſie ſich
erſtaunt betaſten, werden im Zimmer umher blicken,
das Fenſter öffnen und nach dem Himmel ſehen,
und fragen: welcher Wochentag, welcher Monatstag
iſt denn heute, wie lange haben wir geſchlafen?
Unglückſelige! nur der Muthige wacht. Wie hat
man es nur ſo lange ertragen? Es iſt eine Frage,
die mir der Schwindel gibt. Einer erträgt es, noch
Einer, noch Einer — aber wie ertragen es Millio¬
nen? Der Spott zu ſeyn aller erwachſenen Völker!
wie der kleine dumme Hans, der noch kein Jahr
Hoſen trägt, zu zittern vor dem Stöckchen jedes
alten, ſchwachen, gräulichen Schulmeiſters! .. Aber
Wehe ihnen, daß wir erröthen! Das Erröthen der
Völker iſt nicht wie Roſenſchein eines verſchämten
Mädchens; es iſt Nordlicht voll Zorn und Ge¬
fahren.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0050" n="36"/>
Wäre Deut&#x017F;chland reifer als ich gedacht? Hätte ich<lb/>
dem Volke Unrecht gethan? Hätten &#x017F;ie unter Schlaf¬<lb/>
mützen und Schlafrock heimlich Helm und Harni&#x017F;ch<lb/>
getragen? O, wie gern, wie gern! Scheltet mich<lb/>
wie einen Schulbuben, gebet mir die Ruthe, &#x017F;tellt<lb/>
mich hinter den Ofen &#x2014; gern will ich die &#x017F;chlimm&#x017F;te<lb/>
Züchtigung ertragen, wenn ich nur Unrecht gehabt.<lb/>
Wenn &#x017F;ie &#x017F;ich nur er&#x017F;t die Augen gerieben, wenn &#x017F;ie<lb/>
nur er&#x017F;t recht zur Be&#x017F;innung gekommen, werden &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/>
er&#x017F;taunt beta&#x017F;ten, werden im Zimmer umher blicken,<lb/>
das Fen&#x017F;ter öffnen und nach dem Himmel &#x017F;ehen,<lb/>
und fragen: welcher Wochentag, welcher Monatstag<lb/>
i&#x017F;t denn heute, wie lange haben wir ge&#x017F;chlafen?<lb/>
Unglück&#x017F;elige! nur der Muthige wacht. Wie hat<lb/>
man es nur &#x017F;o lange ertragen? Es i&#x017F;t eine Frage,<lb/>
die mir der Schwindel gibt. Einer erträgt es, noch<lb/>
Einer, noch Einer &#x2014; aber wie ertragen es Millio¬<lb/>
nen? Der Spott zu &#x017F;eyn aller erwach&#x017F;enen Völker!<lb/>
wie der kleine dumme Hans, der noch kein Jahr<lb/>
Ho&#x017F;en trägt, zu zittern vor dem Stöckchen jedes<lb/>
alten, &#x017F;chwachen, gräulichen Schulmei&#x017F;ters! .. Aber<lb/>
Wehe ihnen, daß wir erröthen! Das Erröthen der<lb/>
Völker i&#x017F;t nicht wie Ro&#x017F;en&#x017F;chein eines ver&#x017F;chämten<lb/>
Mädchens; es i&#x017F;t Nordlicht voll Zorn und Ge¬<lb/>
fahren.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0050] Wäre Deutſchland reifer als ich gedacht? Hätte ich dem Volke Unrecht gethan? Hätten ſie unter Schlaf¬ mützen und Schlafrock heimlich Helm und Harniſch getragen? O, wie gern, wie gern! Scheltet mich wie einen Schulbuben, gebet mir die Ruthe, ſtellt mich hinter den Ofen — gern will ich die ſchlimmſte Züchtigung ertragen, wenn ich nur Unrecht gehabt. Wenn ſie ſich nur erſt die Augen gerieben, wenn ſie nur erſt recht zur Beſinnung gekommen, werden ſie ſich erſtaunt betaſten, werden im Zimmer umher blicken, das Fenſter öffnen und nach dem Himmel ſehen, und fragen: welcher Wochentag, welcher Monatstag iſt denn heute, wie lange haben wir geſchlafen? Unglückſelige! nur der Muthige wacht. Wie hat man es nur ſo lange ertragen? Es iſt eine Frage, die mir der Schwindel gibt. Einer erträgt es, noch Einer, noch Einer — aber wie ertragen es Millio¬ nen? Der Spott zu ſeyn aller erwachſenen Völker! wie der kleine dumme Hans, der noch kein Jahr Hoſen trägt, zu zittern vor dem Stöckchen jedes alten, ſchwachen, gräulichen Schulmeiſters! .. Aber Wehe ihnen, daß wir erröthen! Das Erröthen der Völker iſt nicht wie Roſenſchein eines verſchämten Mädchens; es iſt Nordlicht voll Zorn und Ge¬ fahren.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/50
Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 1. Hamburg, 1832, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris01_1832/50>, abgerufen am 22.12.2024.