täglichen Gedankenstriche Euerer Censur nicht wenig¬ stens im Errathen einige Uebung gegeben? Ach, das ist eben der Jammer mit den Deutschen. Weil sie immer so gründlich, so vollständig sind; weil sie Alles, was sie thun, mit dem Anfange anfangen, und mit dem Ende aller Dinge endigen; weil, so oft sie leh¬ ren, sie Alles lehren, was sie wissen über Alles; weil sie, wäre auch nur zu reden von der Angelegenheit dieser Stunde, von den Verhältnissen eines beschränk¬ ten Raumes, sie die ganze Ewigkeit, die ganze Un¬ endlichkeit durchsprechen; weil sie hinausschiffen in den großen Ocean, so oft sie sich die Hände waschen wollen- urtheilen sie, findet sich einmal ein Mann, der sagt, was zu wissen nur eben Noth thut, es sey ein oberflächlicher, einseitiger Mensch, der luftige Worte spräche und nichts gründliches sage. Was ist da zu thun? Ach, gestehet es nur, wenn wir uns wechselseitig unerträglich sind, so ist doch meine Last viel größer, als die Euere. Meine kleine Bür e unter dreißig Millionen Menschen vertheilt: das gibt jedem von Euch gar wenig zu tragen. Aber mir hocken dreißig Millionen Deutsche auf dem Rücken, und die sind sehr schwer, sehr schwer! Gesteht es nur, ich brauche mehr Geduld mit Euch, als Ihr Geduld mit mir braucht.
Mein wohlmeinender Freund in der deutschen allgemeinen Zeitung sagt: man möge nicht vergessen,
täglichen Gedankenſtriche Euerer Cenſur nicht wenig¬ ſtens im Errathen einige Uebung gegeben? Ach, das iſt eben der Jammer mit den Deutſchen. Weil ſie immer ſo gründlich, ſo vollſtändig ſind; weil ſie Alles, was ſie thun, mit dem Anfange anfangen, und mit dem Ende aller Dinge endigen; weil, ſo oft ſie leh¬ ren, ſie Alles lehren, was ſie wiſſen über Alles; weil ſie, wäre auch nur zu reden von der Angelegenheit dieſer Stunde, von den Verhältniſſen eines beſchränk¬ ten Raumes, ſie die ganze Ewigkeit, die ganze Un¬ endlichkeit durchſprechen; weil ſie hinausſchiffen in den großen Ocean, ſo oft ſie ſich die Hände waſchen wollen- urtheilen ſie, findet ſich einmal ein Mann, der ſagt, was zu wiſſen nur eben Noth thut, es ſey ein oberflächlicher, einſeitiger Menſch, der luftige Worte ſpräche und nichts gründliches ſage. Was iſt da zu thun? Ach, geſtehet es nur, wenn wir uns wechſelſeitig unerträglich ſind, ſo iſt doch meine Laſt viel größer, als die Euere. Meine kleine Bür e unter dreißig Millionen Menſchen vertheilt: das gibt jedem von Euch gar wenig zu tragen. Aber mir hocken dreißig Millionen Deutſche auf dem Rücken, und die ſind ſehr ſchwer, ſehr ſchwer! Geſteht es nur, ich brauche mehr Geduld mit Euch, als Ihr Geduld mit mir braucht.
Mein wohlmeinender Freund in der deutſchen allgemeinen Zeitung ſagt: man möge nicht vergeſſen,
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täglichen Gedankenſtriche Euerer Cenſur nicht wenig¬
ſtens im Errathen einige Uebung gegeben? Ach, das
iſt eben der Jammer mit den Deutſchen. Weil ſie
immer ſo gründlich, ſo vollſtändig ſind; weil ſie Alles,
was ſie thun, mit dem Anfange anfangen, und mit
dem Ende aller Dinge endigen; weil, ſo oft ſie leh¬
ren, ſie Alles lehren, was ſie wiſſen über Alles; weil
ſie, wäre auch nur zu reden von der Angelegenheit
dieſer Stunde, von den Verhältniſſen eines beſchränk¬
ten Raumes, ſie die ganze Ewigkeit, die ganze Un¬
endlichkeit durchſprechen; weil ſie hinausſchiffen in
den großen Ocean, ſo oft ſie ſich die Hände waſchen
wollen- urtheilen ſie, findet ſich einmal ein Mann,
der ſagt, was zu wiſſen nur eben Noth thut, es ſey
ein oberflächlicher, einſeitiger Menſch, der luftige
Worte ſpräche und nichts gründliches ſage. Was
iſt da zu thun? Ach, geſtehet es nur, wenn wir
uns wechſelſeitig unerträglich ſind, ſo iſt doch meine
Laſt viel größer, als die Euere. Meine kleine
Bür e unter dreißig Millionen Menſchen vertheilt:
das gibt jedem von Euch gar wenig zu tragen.
Aber mir hocken dreißig Millionen Deutſche auf
dem Rücken, und die ſind ſehr ſchwer, ſehr
ſchwer! Geſteht es nur, ich brauche mehr Geduld
mit Euch, als Ihr Geduld mit mir braucht.
Mein wohlmeinender Freund in der deutſchen
allgemeinen Zeitung ſagt: man möge nicht vergeſſen,
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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 4. Offenbach, 1833, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris04_1833/151>, abgerufen am 16.02.2025.
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