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Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834.

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Diese Zeit des Schlafes benutzten die Machthaber um
die Völker zu unterjochen. Diese erwachten und
da gab es Revolutionen -- da war erst das Chri¬
stenthum, dann die Völkerwanderung, dann kamen die
Kreuzzüge, darauf die Rückkehr der Künste und Wissen¬
schaften nach Europa, dann folgte die Reformation,
endlich die Idee der Freiheit. Zwischen dem Frieden
der die Religionsstreitigkeiten endigte und der franzö¬
sischen Revolution war ein Jahrhundert des Schlafes,
und während dieser Zeit bildete sich das ministerielle
Regieren aus, das früher gar nicht statt fand.
Die Menschheit erwachte endlich und ihr neues Tage¬
werk war die Idee der Freiheit, für die Machthaber
die gefährlichste unter allen; denn die Freiheit ist
eigentlich keine Idee, sondern nur die Möglichkeit,
jede beliebige Idee zu fassen, zu verfolgen und fest¬
zuhalten. Man kann eine Idee durch eine andere
verdrängen, nur die der Freiheit nicht. Wenn die
Fürsten ihren Völkern sagen: wir geben euch Friede,
Ordnung, Religion, Kunst, Wissenschaft, Handel,
Gewerbe, Reichthum für die Freiheit -- antworteten
die Völker: Freiheit ist das alle zugleich; wozu sie
wechseln lassen, wozu uns mit der Scheidemünze un¬
seres Glücks beschleppen? Es ist also da gar nichts
zu machen und die Europe litteraire wird die
Welt nicht ändern. Uebrigens erscheint sie viermal
wöchentlich in groß Folio "sur papier grand-raisin

V. 11

Dieſe Zeit des Schlafes benutzten die Machthaber um
die Völker zu unterjochen. Dieſe erwachten und
da gab es Revolutionen — da war erſt das Chri¬
ſtenthum, dann die Völkerwanderung, dann kamen die
Kreuzzüge, darauf die Rückkehr der Künſte und Wiſſen¬
ſchaften nach Europa, dann folgte die Reformation,
endlich die Idee der Freiheit. Zwiſchen dem Frieden
der die Religionsſtreitigkeiten endigte und der franzö¬
ſiſchen Revolution war ein Jahrhundert des Schlafes,
und während dieſer Zeit bildete ſich das miniſterielle
Regieren aus, das früher gar nicht ſtatt fand.
Die Menſchheit erwachte endlich und ihr neues Tage¬
werk war die Idee der Freiheit, für die Machthaber
die gefährlichſte unter allen; denn die Freiheit iſt
eigentlich keine Idee, ſondern nur die Möglichkeit,
jede beliebige Idee zu faſſen, zu verfolgen und feſt¬
zuhalten. Man kann eine Idee durch eine andere
verdrängen, nur die der Freiheit nicht. Wenn die
Fürſten ihren Völkern ſagen: wir geben euch Friede,
Ordnung, Religion, Kunſt, Wiſſenſchaft, Handel,
Gewerbe, Reichthum für die Freiheit — antworteten
die Völker: Freiheit iſt das alle zugleich; wozu ſie
wechſeln laſſen, wozu uns mit der Scheidemünze un¬
ſeres Glücks beſchleppen? Es iſt alſo da gar nichts
zu machen und die Europe littéraire wird die
Welt nicht ändern. Uebrigens erſcheint ſie viermal
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V. 11
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[161/0173] Dieſe Zeit des Schlafes benutzten die Machthaber um die Völker zu unterjochen. Dieſe erwachten und da gab es Revolutionen — da war erſt das Chri¬ ſtenthum, dann die Völkerwanderung, dann kamen die Kreuzzüge, darauf die Rückkehr der Künſte und Wiſſen¬ ſchaften nach Europa, dann folgte die Reformation, endlich die Idee der Freiheit. Zwiſchen dem Frieden der die Religionsſtreitigkeiten endigte und der franzö¬ ſiſchen Revolution war ein Jahrhundert des Schlafes, und während dieſer Zeit bildete ſich das miniſterielle Regieren aus, das früher gar nicht ſtatt fand. Die Menſchheit erwachte endlich und ihr neues Tage¬ werk war die Idee der Freiheit, für die Machthaber die gefährlichſte unter allen; denn die Freiheit iſt eigentlich keine Idee, ſondern nur die Möglichkeit, jede beliebige Idee zu faſſen, zu verfolgen und feſt¬ zuhalten. Man kann eine Idee durch eine andere verdrängen, nur die der Freiheit nicht. Wenn die Fürſten ihren Völkern ſagen: wir geben euch Friede, Ordnung, Religion, Kunſt, Wiſſenſchaft, Handel, Gewerbe, Reichthum für die Freiheit — antworteten die Völker: Freiheit iſt das alle zugleich; wozu ſie wechſeln laſſen, wozu uns mit der Scheidemünze un¬ ſeres Glücks beſchleppen? Es iſt alſo da gar nichts zu machen und die Europe littéraire wird die Welt nicht ändern. Uebrigens erſcheint ſie viermal wöchentlich in groß Folio „sur papier grand-raisin V. 11

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Zitationshilfe: Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boerne_paris05_1834/173>, abgerufen am 26.11.2024.