Börne, Ludwig: Briefe aus Paris. Bd. 5. Paris, 1834.In einer Geschichte müssen die Dinge dargestellt werden In einer Geſchichte müſſen die Dinge dargeſtellt werden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0021" n="9"/> In einer Geſchichte müſſen die Dinge dargeſtellt werden<lb/> wie ſie ſind, wie ſie ſich im natürlichen Tageslichte<lb/> zeigen; nicht aber, wie ſie ſich durch das Prisma<lb/> des Geiſtes betrachtet, als Farben erſcheinen, noch<lb/> weniger wie ſie in der Camera obscura des Herzens<lb/> ſich abſchatten. Glauben Sie nicht auch, daß ich zu¬<lb/> viel denke und empfinde! Die gefährlichſte Klippe<lb/> in einer Geſchichte der franzöſiſchen Revolution iſt:<lb/> daß dieſe noch nicht geendigt iſt, ihr Ziel noch nicht<lb/> erreicht hat; daß man alſo, je noch der Geſinnung<lb/> ohne Furcht und Hoffnung von der Sache gar nicht<lb/> ſprechen kann; und Furcht und Hoffnung drücken ſich<lb/> oft als Haß und Liebe aus, und das darf nicht ſeyn.<lb/> Ein Geſchichtsſchreiber muß ſeyn wie Gott; er muß<lb/> Alles, Alle lieben, ſogar den Teufel. Ja, er darf<lb/> gar nicht wiſſen, daß es einen Teufel giebt. Alſo<lb/> fragen Sie Den und Jenen, und theilen Sie mir<lb/> genau mit, was Jeder von ihnen ſagt. Es iſt ein<lb/> Werk langer und ſchwerer Arbeit und ich möchte es,<lb/> ohne Hoffnung, daß es gelinge, nicht unternehmen.<lb/> Ich bin jetzt ſchon gerührt, wenn ich daran denke,<lb/> wie ehrwürdig ich mich ausnehmen werde, wenn ich<lb/> als großer Gelehrter und Narr unter tauſend Bü¬<lb/> chern ſitze, und ſie Eines nach dem Andern durchleſe<lb/> und ausziehe, und wie mir dabei heiß wird und ich<lb/> ſeufze: ach! wie glücklich war ich in frühern Zeiten,<lb/> da ich noch leicht wie ein Schneidergeſell, dem man<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [9/0021]
In einer Geſchichte müſſen die Dinge dargeſtellt werden
wie ſie ſind, wie ſie ſich im natürlichen Tageslichte
zeigen; nicht aber, wie ſie ſich durch das Prisma
des Geiſtes betrachtet, als Farben erſcheinen, noch
weniger wie ſie in der Camera obscura des Herzens
ſich abſchatten. Glauben Sie nicht auch, daß ich zu¬
viel denke und empfinde! Die gefährlichſte Klippe
in einer Geſchichte der franzöſiſchen Revolution iſt:
daß dieſe noch nicht geendigt iſt, ihr Ziel noch nicht
erreicht hat; daß man alſo, je noch der Geſinnung
ohne Furcht und Hoffnung von der Sache gar nicht
ſprechen kann; und Furcht und Hoffnung drücken ſich
oft als Haß und Liebe aus, und das darf nicht ſeyn.
Ein Geſchichtsſchreiber muß ſeyn wie Gott; er muß
Alles, Alle lieben, ſogar den Teufel. Ja, er darf
gar nicht wiſſen, daß es einen Teufel giebt. Alſo
fragen Sie Den und Jenen, und theilen Sie mir
genau mit, was Jeder von ihnen ſagt. Es iſt ein
Werk langer und ſchwerer Arbeit und ich möchte es,
ohne Hoffnung, daß es gelinge, nicht unternehmen.
Ich bin jetzt ſchon gerührt, wenn ich daran denke,
wie ehrwürdig ich mich ausnehmen werde, wenn ich
als großer Gelehrter und Narr unter tauſend Bü¬
chern ſitze, und ſie Eines nach dem Andern durchleſe
und ausziehe, und wie mir dabei heiß wird und ich
ſeufze: ach! wie glücklich war ich in frühern Zeiten,
da ich noch leicht wie ein Schneidergeſell, dem man
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