Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 1. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

§ 1. Mechanische Analogie.
eines Gases, die innere Reibung und die Wärme als Phänomene
auffasst, die bloss im stationären und angenähert stationären
Zustande wesentlich verschieden scheinen, während in gewissen
Uebergangsfällen (sehr rasche Schallschwingungen mit Wärme-
entwickelung, Reibung oder Wärmeleitung in sehr verdünnten
Gasen1)) eine scharfe Scheidung nicht mehr möglich ist, was
sichtbare, was Wärmebewegung ist (vgl. § 24), gerade so,
wie in Maxwell's Elektricitätstheorie in den Uebergangs-
fällen die Trennung der elektrostatischen und elektrodyna-
mischen Kräfte u. s. w. nicht mehr durchgeführt werden kann.
Gerade in diesen Uebergangsgebieten hat die Maxwell'sche
Elektricitätstheorie völlig Neues hervorgebracht; ebenso führt
die Gastheorie in diesen Uebergangsfällen auf ganz neue
Gesetze, welche die gewöhnlichen, auf Reibung und Wärme-
leitung corrigirten hydrodynamischen Gleichungen als blosse
Annäherungsformeln erscheinen lassen (vgl. § 23). Auf völlig
neue Gesetze wurde zum ersten Male hingewiesen in Maxwell's
vor 16 Jahren erschienenen Abhandlung "On stresses in rarefied
Gases". Den Phänomenen, zu denen eine sich auf Beschreibung
der alten hydrodynamischen Erscheinungen beschränkende
Theorie niemals führen konnte, sind namentlich auch die
Radiometerwirkungen beizuzählen. Versuche, sie unter ganz
anderen Bedingungen und quantitativ zu beobachten, würden
sicher den Beweis liefern, dass die Anregung und Anleitung
in einem gewissen, bisher unbeachteten Gebiete der experimen-
tellen Forschung nur von der Gastheorie ausgehen kann;
blieb doch auch die enorme Fruchtbarkeit der Maxwell'-
schen Elektricitätstheorie für die experimentelle Forschung
durch mehr als 20 Jahre fast unbemerkt.

Während im Folgenden jede qualitative Verschiedenheit
von Wärme und mechanischer Energie ausgeschlossen wird,
soll bei Betrachtung der Zusammenstösse der Moleküle die
alte Unterscheidung zwischen potentieller und kinetischer
Energie beibehalten werden. Allein dieselbe trifft durchaus
nicht das Wesen der Sache. Die Annahmen über die Wechsel-
wirkung der Moleküle während eines Zusammenstosses haben
ganz den Charakter des provisorischen und werden sicher

1) Vgl. Kundt und Warburg, Pogg. Ann. 155. S. 341. 1875.
1*

§ 1. Mechanische Analogie.
eines Gases, die innere Reibung und die Wärme als Phänomene
auffasst, die bloss im stationären und angenähert stationären
Zustande wesentlich verschieden scheinen, während in gewissen
Uebergangsfällen (sehr rasche Schallschwingungen mit Wärme-
entwickelung, Reibung oder Wärmeleitung in sehr verdünnten
Gasen1)) eine scharfe Scheidung nicht mehr möglich ist, was
sichtbare, was Wärmebewegung ist (vgl. § 24), gerade so,
wie in Maxwell’s Elektricitätstheorie in den Uebergangs-
fällen die Trennung der elektrostatischen und elektrodyna-
mischen Kräfte u. s. w. nicht mehr durchgeführt werden kann.
Gerade in diesen Uebergangsgebieten hat die Maxwell’sche
Elektricitätstheorie völlig Neues hervorgebracht; ebenso führt
die Gastheorie in diesen Uebergangsfällen auf ganz neue
Gesetze, welche die gewöhnlichen, auf Reibung und Wärme-
leitung corrigirten hydrodynamischen Gleichungen als blosse
Annäherungsformeln erscheinen lassen (vgl. § 23). Auf völlig
neue Gesetze wurde zum ersten Male hingewiesen in Maxwell’s
vor 16 Jahren erschienenen Abhandlung „On stresses in rarefied
Gases“. Den Phänomenen, zu denen eine sich auf Beschreibung
der alten hydrodynamischen Erscheinungen beschränkende
Theorie niemals führen konnte, sind namentlich auch die
Radiometerwirkungen beizuzählen. Versuche, sie unter ganz
anderen Bedingungen und quantitativ zu beobachten, würden
sicher den Beweis liefern, dass die Anregung und Anleitung
in einem gewissen, bisher unbeachteten Gebiete der experimen-
tellen Forschung nur von der Gastheorie ausgehen kann;
blieb doch auch die enorme Fruchtbarkeit der Maxwell’-
schen Elektricitätstheorie für die experimentelle Forschung
durch mehr als 20 Jahre fast unbemerkt.

Während im Folgenden jede qualitative Verschiedenheit
von Wärme und mechanischer Energie ausgeschlossen wird,
soll bei Betrachtung der Zusammenstösse der Moleküle die
alte Unterscheidung zwischen potentieller und kinetischer
Energie beibehalten werden. Allein dieselbe trifft durchaus
nicht das Wesen der Sache. Die Annahmen über die Wechsel-
wirkung der Moleküle während eines Zusammenstosses haben
ganz den Charakter des provisorischen und werden sicher

1) Vgl. Kundt und Warburg, Pogg. Ann. 155. S. 341. 1875.
1*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0017" n="3"/><fw place="top" type="header">§ 1. Mechanische Analogie.</fw><lb/>
eines Gases, die innere Reibung und die Wärme als Phänomene<lb/>
auffasst, die bloss im stationären und angenähert stationären<lb/>
Zustande wesentlich verschieden scheinen, während in gewissen<lb/>
Uebergangsfällen (sehr rasche Schallschwingungen mit Wärme-<lb/>
entwickelung, Reibung oder Wärmeleitung in sehr verdünnten<lb/>
Gasen<note place="foot" n="1)">Vgl. <hi rendition="#g">Kundt</hi> und <hi rendition="#g">Warburg</hi>, Pogg. Ann. 155. S. 341. 1875.</note>) eine scharfe Scheidung nicht mehr möglich ist, was<lb/>
sichtbare, was Wärmebewegung ist (vgl. § 24), gerade so,<lb/>
wie in <hi rendition="#g">Maxwell&#x2019;s</hi> Elektricitätstheorie in den Uebergangs-<lb/>
fällen die Trennung der elektrostatischen und elektrodyna-<lb/>
mischen Kräfte u. s. w. nicht mehr durchgeführt werden kann.<lb/>
Gerade in diesen Uebergangsgebieten hat die <hi rendition="#g">Maxwell&#x2019;s</hi>che<lb/>
Elektricitätstheorie völlig Neues hervorgebracht; ebenso führt<lb/>
die Gastheorie in diesen Uebergangsfällen auf ganz neue<lb/>
Gesetze, welche die gewöhnlichen, auf Reibung und Wärme-<lb/>
leitung corrigirten hydrodynamischen Gleichungen als blosse<lb/>
Annäherungsformeln erscheinen lassen (vgl. § 23). Auf völlig<lb/>
neue Gesetze wurde zum ersten Male hingewiesen in <hi rendition="#g">Maxwell&#x2019;s</hi><lb/>
vor 16 Jahren erschienenen Abhandlung &#x201E;On stresses in rarefied<lb/>
Gases&#x201C;. Den Phänomenen, zu denen eine sich auf Beschreibung<lb/>
der alten hydrodynamischen Erscheinungen beschränkende<lb/>
Theorie niemals führen konnte, sind namentlich auch die<lb/>
Radiometerwirkungen beizuzählen. Versuche, sie unter ganz<lb/>
anderen Bedingungen und quantitativ zu beobachten, würden<lb/>
sicher den Beweis liefern, dass die Anregung und Anleitung<lb/>
in einem gewissen, bisher unbeachteten Gebiete der experimen-<lb/>
tellen Forschung nur von der Gastheorie ausgehen kann;<lb/>
blieb doch auch die enorme Fruchtbarkeit der <hi rendition="#g">Maxwell&#x2019;-</hi><lb/>
schen Elektricitätstheorie für die experimentelle Forschung<lb/>
durch mehr als 20 Jahre fast unbemerkt.</p><lb/>
          <p>Während im Folgenden jede qualitative Verschiedenheit<lb/>
von Wärme und mechanischer Energie ausgeschlossen wird,<lb/>
soll bei Betrachtung der Zusammenstösse der Moleküle die<lb/>
alte Unterscheidung zwischen potentieller und kinetischer<lb/>
Energie beibehalten werden. Allein dieselbe trifft durchaus<lb/>
nicht das Wesen der Sache. Die Annahmen über die Wechsel-<lb/>
wirkung der Moleküle während eines Zusammenstosses haben<lb/>
ganz den Charakter des provisorischen und werden sicher<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">1*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[3/0017] § 1. Mechanische Analogie. eines Gases, die innere Reibung und die Wärme als Phänomene auffasst, die bloss im stationären und angenähert stationären Zustande wesentlich verschieden scheinen, während in gewissen Uebergangsfällen (sehr rasche Schallschwingungen mit Wärme- entwickelung, Reibung oder Wärmeleitung in sehr verdünnten Gasen 1)) eine scharfe Scheidung nicht mehr möglich ist, was sichtbare, was Wärmebewegung ist (vgl. § 24), gerade so, wie in Maxwell’s Elektricitätstheorie in den Uebergangs- fällen die Trennung der elektrostatischen und elektrodyna- mischen Kräfte u. s. w. nicht mehr durchgeführt werden kann. Gerade in diesen Uebergangsgebieten hat die Maxwell’sche Elektricitätstheorie völlig Neues hervorgebracht; ebenso führt die Gastheorie in diesen Uebergangsfällen auf ganz neue Gesetze, welche die gewöhnlichen, auf Reibung und Wärme- leitung corrigirten hydrodynamischen Gleichungen als blosse Annäherungsformeln erscheinen lassen (vgl. § 23). Auf völlig neue Gesetze wurde zum ersten Male hingewiesen in Maxwell’s vor 16 Jahren erschienenen Abhandlung „On stresses in rarefied Gases“. Den Phänomenen, zu denen eine sich auf Beschreibung der alten hydrodynamischen Erscheinungen beschränkende Theorie niemals führen konnte, sind namentlich auch die Radiometerwirkungen beizuzählen. Versuche, sie unter ganz anderen Bedingungen und quantitativ zu beobachten, würden sicher den Beweis liefern, dass die Anregung und Anleitung in einem gewissen, bisher unbeachteten Gebiete der experimen- tellen Forschung nur von der Gastheorie ausgehen kann; blieb doch auch die enorme Fruchtbarkeit der Maxwell’- schen Elektricitätstheorie für die experimentelle Forschung durch mehr als 20 Jahre fast unbemerkt. Während im Folgenden jede qualitative Verschiedenheit von Wärme und mechanischer Energie ausgeschlossen wird, soll bei Betrachtung der Zusammenstösse der Moleküle die alte Unterscheidung zwischen potentieller und kinetischer Energie beibehalten werden. Allein dieselbe trifft durchaus nicht das Wesen der Sache. Die Annahmen über die Wechsel- wirkung der Moleküle während eines Zusammenstosses haben ganz den Charakter des provisorischen und werden sicher 1) Vgl. Kundt und Warburg, Pogg. Ann. 155. S. 341. 1875. 1*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie01_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie01_1896/17
Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 1. Leipzig, 1896, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie01_1896/17>, abgerufen am 21.11.2024.