Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 1. Leipzig, 1896.I. Abschnitt. [Gleich. 17] das Vorkommen eines anderen Moleküls von bestimmtem Be-wegungszustande als ein vom Orte, wo das erste Molekül aus- ging (und daher auch von dem Bewegungszustande des ersten Moleküls) für die Wahrscheinlichkeitsberechnung vollkommen unabhängiges Ereigniss aufzufassen ist. Wenn wir aber nach Vorausberechnung der Bahn jedes einzelnen Moleküls die An- fangsgruppirung passend wählen, also die Wahrscheinlichkeits- gesetze absichtlich stören, so können wir natürlich lang an- dauernde Regelmässigkeiten bewirken oder eine fast molekular- ungeordnete Vertheilung so construiren, dass sie nach einiger Zeit molekular-geordnet wird. Auch Kirchhoff1) steckt die Annahme, dass der Zustand molekular-ungeordnet sei, schon in die Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Dass es zur Exactheit des Beweises erforderlich ist, 1) Vorlesungen über Wärmetheorie, 14. Vorles. § 2. S. 145. Z. 5.
I. Abschnitt. [Gleich. 17] das Vorkommen eines anderen Moleküls von bestimmtem Be-wegungszustande als ein vom Orte, wo das erste Molekül aus- ging (und daher auch von dem Bewegungszustande des ersten Moleküls) für die Wahrscheinlichkeitsberechnung vollkommen unabhängiges Ereigniss aufzufassen ist. Wenn wir aber nach Vorausberechnung der Bahn jedes einzelnen Moleküls die An- fangsgruppirung passend wählen, also die Wahrscheinlichkeits- gesetze absichtlich stören, so können wir natürlich lang an- dauernde Regelmässigkeiten bewirken oder eine fast molekular- ungeordnete Vertheilung so construiren, dass sie nach einiger Zeit molekular-geordnet wird. Auch Kirchhoff1) steckt die Annahme, dass der Zustand molekular-ungeordnet sei, schon in die Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffs. Dass es zur Exactheit des Beweises erforderlich ist, 1) Vorlesungen über Wärmetheorie, 14. Vorles. § 2. S. 145. Z. 5.
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I. Abschnitt. [Gleich. 17]
das Vorkommen eines anderen Moleküls von bestimmtem Be-
wegungszustande als ein vom Orte, wo das erste Molekül aus-
ging (und daher auch von dem Bewegungszustande des ersten
Moleküls) für die Wahrscheinlichkeitsberechnung vollkommen
unabhängiges Ereigniss aufzufassen ist. Wenn wir aber nach
Vorausberechnung der Bahn jedes einzelnen Moleküls die An-
fangsgruppirung passend wählen, also die Wahrscheinlichkeits-
gesetze absichtlich stören, so können wir natürlich lang an-
dauernde Regelmässigkeiten bewirken oder eine fast molekular-
ungeordnete Vertheilung so construiren, dass sie nach einiger
Zeit molekular-geordnet wird. Auch Kirchhoff 1) steckt die
Annahme, dass der Zustand molekular-ungeordnet sei, schon
in die Definition des Wahrscheinlichkeitsbegriffs.
Dass es zur Exactheit des Beweises erforderlich ist,
diese Annahme ausdrücklich vorauszuschicken, wurde zuerst
bei Discussion des Beweises meines sogenannten H-Theorems
oder Minimumtheorems bemerkt. Es wäre aber ein grosser
Irrthum, zu glauben, dass diese Annahme nur zum Beweise
dieses Theorems erforderlich ist. Wegen der Unmöglichkeit,
die Positionen aller Moleküle zu jeder Zeit zu berechnen, wie
der Astronom die Position aller Planeten berechnet, ist ohne
diese Annahme überhaupt der Beweis keines Lehrsatzes der
Gastheorie möglich. Bei Berechnung der Reibung, Wärme-
leitung u. s. w. wird diese Annahme gemacht. Auch der Beweis,
dass das Maxwell’sche Geschwindigkeitsvertheilungsgesetz ein
mögliches ist, d. h. dass es, wenn einmal unter den Molekülen
hergestellt, sich ins Unendliche erhält, ohne diese Annahme nicht
möglich. Denn man kann nicht beweisen, dass die Vertheilung
auch immer molekular ungeordnet bleiben wird. In der That
würde, wenn der Maxwell’sche Zustand aus irgend einem
anderen entstanden ist, die exacte Umkehrung des ersteren
nach genügend langer Zeit wieder den anderen liefern (vgl.
2. Hälfte des § 6). Es könnte also anfangs mit beliebiger
Annäherung der Maxwell’sche Zustand bestehen und end-
lich in einen ganz anderen übergehen. Es ist nicht etwa
als ein Gebrechen aufzufassen, dass gerade das Minimum-
theorem an die Voraussetzung der molekularen Ungeordnet-
1) Vorlesungen über Wärmetheorie, 14. Vorles. § 2. S. 145. Z. 5.
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