Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

Bild:
<< vorherige Seite
[Gleich. 127] § 41. Verallgemeinerungen.

Wir haben im Bisherigen freilich nicht den Beweis ge-
liefert, dass die durch die Formel 123) ausgedrückte Zustands-
vertheilung unter allen Umständen die einzig mögliche statio-
näre ist. Dieser Beweis kann in dieser Allgemeinheit auch
nicht geliefert werden, da es in der That andere specielle
Zustandsvertheilungen giebt, welche sich ebenfalls stationär
erhalten können. Solche Fälle würden z. B. eintreten, wenn
sämmtliche Gasmoleküle aus materiellen Punkten bestehen
würden, welche ursprünglich alle in einer Ebene oder in einer
Geraden liegen würden, und wenn die Wände überall auf dieser
Ebene oder Geraden senkrecht wären. Allein dies sind specielle
Zustandsvertheilungen, bei denen alle Variabeln nur verhältniss-
mässig wenige der für sie möglichen Werthe annehmen, wo-
gegen die Formel 123) eine Zustandsvertheilung liefert, für
welche alle Variabeln alle für sie möglichen Werthe annehmen.

Es erscheint nun von vorneherein kaum denkbar, dass es
mehrere solche Zustandsvertheilungen geben könne, welche
stationär sind und bei denen alle Variabeln unbeschränkt alle
für sie möglichen Werthe durchlaufen. Dazu kommt noch die
complete Analogie, welche die durch die Formel 123) dar-
gestellte Zustandsvertheilung mit der für Gase mit einatomigen
Molekülen gefundenen zeigt. Diese Analogie hat ihren be-
stimmten inneren Grund.

Wie nämlich beim Lottospiele jede bestimmte gegebene
Quinterne um kein Haar unwahrscheinlicher ist, als die Quin-
terne 1 2 3 4 5, sondern letztere nur das von anderen voraus
hat, dass sie eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft be-
sitzt, die keiner anderen zukommt, so besitzt auch die wahr-
scheinlichste Zustandsvertheilung die Eigenschaft ihrer Wahr-
scheinlichkeit nur dadurch, dass dieselben Durchschnittswerthe,
durch welche sie sich der Beobachtung erkennbar macht, bei
weitem an der grössten Anzahl von gleich möglichen Zustands-
vertheilungen vorkommen.1) Es ist also diejenige Zustands-
vertheilung die wahrscheinlichste, welche ohne Aenderung dieser
Durchschnittswerthe die grösste Anzahl von Permutationen der
Einzelwerthe unter den einzelnen Molekülen zulässt. Ich habe

1) Das Kriterium für die gleiche Möglichkeit liefert der Liouville'-
sche Satz.
[Gleich. 127] § 41. Verallgemeinerungen.

Wir haben im Bisherigen freilich nicht den Beweis ge-
liefert, dass die durch die Formel 123) ausgedrückte Zustands-
vertheilung unter allen Umständen die einzig mögliche statio-
näre ist. Dieser Beweis kann in dieser Allgemeinheit auch
nicht geliefert werden, da es in der That andere specielle
Zustandsvertheilungen giebt, welche sich ebenfalls stationär
erhalten können. Solche Fälle würden z. B. eintreten, wenn
sämmtliche Gasmoleküle aus materiellen Punkten bestehen
würden, welche ursprünglich alle in einer Ebene oder in einer
Geraden liegen würden, und wenn die Wände überall auf dieser
Ebene oder Geraden senkrecht wären. Allein dies sind specielle
Zustandsvertheilungen, bei denen alle Variabeln nur verhältniss-
mässig wenige der für sie möglichen Werthe annehmen, wo-
gegen die Formel 123) eine Zustandsvertheilung liefert, für
welche alle Variabeln alle für sie möglichen Werthe annehmen.

Es erscheint nun von vorneherein kaum denkbar, dass es
mehrere solche Zustandsvertheilungen geben könne, welche
stationär sind und bei denen alle Variabeln unbeschränkt alle
für sie möglichen Werthe durchlaufen. Dazu kommt noch die
complete Analogie, welche die durch die Formel 123) dar-
gestellte Zustandsvertheilung mit der für Gase mit einatomigen
Molekülen gefundenen zeigt. Diese Analogie hat ihren be-
stimmten inneren Grund.

Wie nämlich beim Lottospiele jede bestimmte gegebene
Quinterne um kein Haar unwahrscheinlicher ist, als die Quin-
terne 1 2 3 4 5, sondern letztere nur das von anderen voraus
hat, dass sie eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft be-
sitzt, die keiner anderen zukommt, so besitzt auch die wahr-
scheinlichste Zustandsvertheilung die Eigenschaft ihrer Wahr-
scheinlichkeit nur dadurch, dass dieselben Durchschnittswerthe,
durch welche sie sich der Beobachtung erkennbar macht, bei
weitem an der grössten Anzahl von gleich möglichen Zustands-
vertheilungen vorkommen.1) Es ist also diejenige Zustands-
vertheilung die wahrscheinlichste, welche ohne Aenderung dieser
Durchschnittswerthe die grösste Anzahl von Permutationen der
Einzelwerthe unter den einzelnen Molekülen zulässt. Ich habe

1) Das Kriterium für die gleiche Möglichkeit liefert der Liouville’-
sche Satz.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0139" n="121"/>
          <fw place="top" type="header">[Gleich. 127] § 41. Verallgemeinerungen.</fw><lb/>
          <p>Wir haben im Bisherigen freilich nicht den Beweis ge-<lb/>
liefert, dass die durch die Formel 123) ausgedrückte Zustands-<lb/>
vertheilung unter allen Umständen die einzig mögliche statio-<lb/>
näre ist. Dieser Beweis kann in dieser Allgemeinheit auch<lb/>
nicht geliefert werden, da es in der That andere specielle<lb/>
Zustandsvertheilungen giebt, welche sich ebenfalls stationär<lb/>
erhalten können. Solche Fälle würden z. B. eintreten, wenn<lb/>
sämmtliche Gasmoleküle aus materiellen Punkten bestehen<lb/>
würden, welche ursprünglich alle in einer Ebene oder in einer<lb/>
Geraden liegen würden, und wenn die Wände überall auf dieser<lb/>
Ebene oder Geraden senkrecht wären. Allein dies sind specielle<lb/>
Zustandsvertheilungen, bei denen alle Variabeln nur verhältniss-<lb/>
mässig wenige der für sie möglichen Werthe annehmen, wo-<lb/>
gegen die Formel 123) eine Zustandsvertheilung liefert, für<lb/>
welche alle Variabeln alle für sie möglichen Werthe annehmen.</p><lb/>
          <p>Es erscheint nun von vorneherein kaum denkbar, dass es<lb/>
mehrere solche Zustandsvertheilungen geben könne, welche<lb/>
stationär sind und bei denen alle Variabeln unbeschränkt alle<lb/>
für sie möglichen Werthe durchlaufen. Dazu kommt noch die<lb/>
complete Analogie, welche die durch die Formel 123) dar-<lb/>
gestellte Zustandsvertheilung mit der für Gase mit einatomigen<lb/>
Molekülen gefundenen zeigt. Diese Analogie hat ihren be-<lb/>
stimmten inneren Grund.</p><lb/>
          <p>Wie nämlich beim Lottospiele jede bestimmte gegebene<lb/>
Quinterne um kein Haar unwahrscheinlicher ist, als die Quin-<lb/>
terne 1 2 3 4 5, sondern letztere nur das von anderen voraus<lb/>
hat, dass sie eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft be-<lb/>
sitzt, die keiner anderen zukommt, so besitzt auch die wahr-<lb/>
scheinlichste Zustandsvertheilung die Eigenschaft ihrer Wahr-<lb/>
scheinlichkeit nur dadurch, dass dieselben Durchschnittswerthe,<lb/>
durch welche sie sich der Beobachtung erkennbar macht, bei<lb/>
weitem an der grössten Anzahl von gleich möglichen Zustands-<lb/>
vertheilungen vorkommen.<note place="foot" n="1)">Das Kriterium für die gleiche Möglichkeit liefert der <hi rendition="#g">Liouville</hi>&#x2019;-<lb/>
sche Satz.</note> Es ist also diejenige Zustands-<lb/>
vertheilung die wahrscheinlichste, welche ohne Aenderung dieser<lb/>
Durchschnittswerthe die grösste Anzahl von Permutationen der<lb/>
Einzelwerthe unter den einzelnen Molekülen zulässt. Ich habe<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[121/0139] [Gleich. 127] § 41. Verallgemeinerungen. Wir haben im Bisherigen freilich nicht den Beweis ge- liefert, dass die durch die Formel 123) ausgedrückte Zustands- vertheilung unter allen Umständen die einzig mögliche statio- näre ist. Dieser Beweis kann in dieser Allgemeinheit auch nicht geliefert werden, da es in der That andere specielle Zustandsvertheilungen giebt, welche sich ebenfalls stationär erhalten können. Solche Fälle würden z. B. eintreten, wenn sämmtliche Gasmoleküle aus materiellen Punkten bestehen würden, welche ursprünglich alle in einer Ebene oder in einer Geraden liegen würden, und wenn die Wände überall auf dieser Ebene oder Geraden senkrecht wären. Allein dies sind specielle Zustandsvertheilungen, bei denen alle Variabeln nur verhältniss- mässig wenige der für sie möglichen Werthe annehmen, wo- gegen die Formel 123) eine Zustandsvertheilung liefert, für welche alle Variabeln alle für sie möglichen Werthe annehmen. Es erscheint nun von vorneherein kaum denkbar, dass es mehrere solche Zustandsvertheilungen geben könne, welche stationär sind und bei denen alle Variabeln unbeschränkt alle für sie möglichen Werthe durchlaufen. Dazu kommt noch die complete Analogie, welche die durch die Formel 123) dar- gestellte Zustandsvertheilung mit der für Gase mit einatomigen Molekülen gefundenen zeigt. Diese Analogie hat ihren be- stimmten inneren Grund. Wie nämlich beim Lottospiele jede bestimmte gegebene Quinterne um kein Haar unwahrscheinlicher ist, als die Quin- terne 1 2 3 4 5, sondern letztere nur das von anderen voraus hat, dass sie eine bestimmte hervorstechende Eigenschaft be- sitzt, die keiner anderen zukommt, so besitzt auch die wahr- scheinlichste Zustandsvertheilung die Eigenschaft ihrer Wahr- scheinlichkeit nur dadurch, dass dieselben Durchschnittswerthe, durch welche sie sich der Beobachtung erkennbar macht, bei weitem an der grössten Anzahl von gleich möglichen Zustands- vertheilungen vorkommen. 1) Es ist also diejenige Zustands- vertheilung die wahrscheinlichste, welche ohne Aenderung dieser Durchschnittswerthe die grösste Anzahl von Permutationen der Einzelwerthe unter den einzelnen Molekülen zulässt. Ich habe 1) Das Kriterium für die gleiche Möglichkeit liefert der Liouville’- sche Satz.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/139
Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/139>, abgerufen am 25.11.2024.