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Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898.

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[Gleich. 290] § 89. Zweiter Hauptsatz.
kommen geordneten Anfangszustande ausging und sich noch
gegenwärtig in einem der Hauptsache nach geordneten Zu-
stande befindet, so erhalten wir daraus Consequenzen, welche
factisch mit den beobachteten Thatsachen durchaus in Ueber-
einstimmung stehen, obwohl diese Auffassung vom rein theo-
retischen, ich möchte sagen philosophischen Standpunkte gegen-
über dem der allgemeinen Thermodynamik, welche sich auf
den rein phänomenologischen Standpunkt stellt, gewisse neue
Seiten aufweist. Die allgemeine Thermodynamik geht von der
Thatsache aus, dass sich, soweit unsere bisherigen Erfahrungen
reichen, alle Naturvorgänge als irreversibel erwiesen haben.
Gemäss den Principien der Phänomenologie formulirt daher
die allgemeine Thermodynamik den zweiten Hauptsatz zunächst
so, dass die unbedingte Irreversibilität aller Naturvorgänge
als sogenanntes Axiom aufgestellt wird, gerade so wie die
allgemeine, auf dem rein phänomenologischen Standpunkte
stehende Physik die unbedingte Theilbarkeit der Materie bis
ins Unendliche als Axiom aufstellt.

Gerade so wie die Differentialgleichungen der Elasticitäts-
lehre und Hydrodynamik, welche dieses letztere Axiom als
Grundlage haben, immer als die einfachsten angenäherten
Ausdrücke der Thatsachen die Grundlage der phänomeno-
logischen Beschreibung einer grossen Gruppe von Natur-
erscheinungen bleiben werden, so gilt dies auch von den For-
meln der allgemeinen Thermodynamik. Nie fiel es Jemandem
bei, der Molekulartheorie zu Liebe zu fordern, dass sie ganz
aufgegeben werden sollen. Aber auch das entgegengesetzte
Extrem, das Dogma von der allein seligmachenden Phäno-
menologie, ist zu vermeiden.

Wie die Differentialgleichungen bloss eine mathematische
Rechenmethode darstellen, deren klare Bedeutung nur durch
Bilder erfasst werden kann, welche von einer grossen endlichen
Zahl von Elementen ausgehen,1) so ist neben der allgemeinen

1) Boltzmann, Die Unentbehrlichkeit der Atomistik i. d. Natur-
wissenschaft. Wien. Sitzungsber. II, Bd. 105, S. 907, 1896; Wied. Ann.
Bd. 60, S. 231, 1897. Ueber die Frage nach der Existenz der Vorgänge
in der unbelebten Natur, Wiener Sitzungsber. II, Bd. 106, S. 83,
Januar 1897.

[Gleich. 290] § 89. Zweiter Hauptsatz.
kommen geordneten Anfangszustande ausging und sich noch
gegenwärtig in einem der Hauptsache nach geordneten Zu-
stande befindet, so erhalten wir daraus Consequenzen, welche
factisch mit den beobachteten Thatsachen durchaus in Ueber-
einstimmung stehen, obwohl diese Auffassung vom rein theo-
retischen, ich möchte sagen philosophischen Standpunkte gegen-
über dem der allgemeinen Thermodynamik, welche sich auf
den rein phänomenologischen Standpunkt stellt, gewisse neue
Seiten aufweist. Die allgemeine Thermodynamik geht von der
Thatsache aus, dass sich, soweit unsere bisherigen Erfahrungen
reichen, alle Naturvorgänge als irreversibel erwiesen haben.
Gemäss den Principien der Phänomenologie formulirt daher
die allgemeine Thermodynamik den zweiten Hauptsatz zunächst
so, dass die unbedingte Irreversibilität aller Naturvorgänge
als sogenanntes Axiom aufgestellt wird, gerade so wie die
allgemeine, auf dem rein phänomenologischen Standpunkte
stehende Physik die unbedingte Theilbarkeit der Materie bis
ins Unendliche als Axiom aufstellt.

Gerade so wie die Differentialgleichungen der Elasticitäts-
lehre und Hydrodynamik, welche dieses letztere Axiom als
Grundlage haben, immer als die einfachsten angenäherten
Ausdrücke der Thatsachen die Grundlage der phänomeno-
logischen Beschreibung einer grossen Gruppe von Natur-
erscheinungen bleiben werden, so gilt dies auch von den For-
meln der allgemeinen Thermodynamik. Nie fiel es Jemandem
bei, der Molekulartheorie zu Liebe zu fordern, dass sie ganz
aufgegeben werden sollen. Aber auch das entgegengesetzte
Extrem, das Dogma von der allein seligmachenden Phäno-
menologie, ist zu vermeiden.

Wie die Differentialgleichungen bloss eine mathematische
Rechenmethode darstellen, deren klare Bedeutung nur durch
Bilder erfasst werden kann, welche von einer grossen endlichen
Zahl von Elementen ausgehen,1) so ist neben der allgemeinen

1) Boltzmann, Die Unentbehrlichkeit der Atomistik i. d. Natur-
wissenschaft. Wien. Sitzungsber. II, Bd. 105, S. 907, 1896; Wied. Ann.
Bd. 60, S. 231, 1897. Ueber die Frage nach der Existenz der Vorgänge
in der unbelebten Natur, Wiener Sitzungsber. II, Bd. 106, S. 83,
Januar 1897.
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[255/0273] [Gleich. 290] § 89. Zweiter Hauptsatz. kommen geordneten Anfangszustande ausging und sich noch gegenwärtig in einem der Hauptsache nach geordneten Zu- stande befindet, so erhalten wir daraus Consequenzen, welche factisch mit den beobachteten Thatsachen durchaus in Ueber- einstimmung stehen, obwohl diese Auffassung vom rein theo- retischen, ich möchte sagen philosophischen Standpunkte gegen- über dem der allgemeinen Thermodynamik, welche sich auf den rein phänomenologischen Standpunkt stellt, gewisse neue Seiten aufweist. Die allgemeine Thermodynamik geht von der Thatsache aus, dass sich, soweit unsere bisherigen Erfahrungen reichen, alle Naturvorgänge als irreversibel erwiesen haben. Gemäss den Principien der Phänomenologie formulirt daher die allgemeine Thermodynamik den zweiten Hauptsatz zunächst so, dass die unbedingte Irreversibilität aller Naturvorgänge als sogenanntes Axiom aufgestellt wird, gerade so wie die allgemeine, auf dem rein phänomenologischen Standpunkte stehende Physik die unbedingte Theilbarkeit der Materie bis ins Unendliche als Axiom aufstellt. Gerade so wie die Differentialgleichungen der Elasticitäts- lehre und Hydrodynamik, welche dieses letztere Axiom als Grundlage haben, immer als die einfachsten angenäherten Ausdrücke der Thatsachen die Grundlage der phänomeno- logischen Beschreibung einer grossen Gruppe von Natur- erscheinungen bleiben werden, so gilt dies auch von den For- meln der allgemeinen Thermodynamik. Nie fiel es Jemandem bei, der Molekulartheorie zu Liebe zu fordern, dass sie ganz aufgegeben werden sollen. Aber auch das entgegengesetzte Extrem, das Dogma von der allein seligmachenden Phäno- menologie, ist zu vermeiden. Wie die Differentialgleichungen bloss eine mathematische Rechenmethode darstellen, deren klare Bedeutung nur durch Bilder erfasst werden kann, welche von einer grossen endlichen Zahl von Elementen ausgehen, 1) so ist neben der allgemeinen 1) Boltzmann, Die Unentbehrlichkeit der Atomistik i. d. Natur- wissenschaft. Wien. Sitzungsber. II, Bd. 105, S. 907, 1896; Wied. Ann. Bd. 60, S. 231, 1897. Ueber die Frage nach der Existenz der Vorgänge in der unbelebten Natur, Wiener Sitzungsber. II, Bd. 106, S. 83, Januar 1897.

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Zitationshilfe: Boltzmann, Ludwig: Vorlesungen über Gastheorie. Bd. 2. Leipzig, 1898, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/boltzmann_gastheorie02_1898/273>, abgerufen am 24.11.2024.