Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_112.001 § 73. Exposition und Katastrophe. pbo_112.002 pbo_112.001 § 73. Exposition und Katastrophe. pbo_112.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0116" n="112"/> <lb n="pbo_112.001"/> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 73. Exposition und Katastrophe.</hi> </head> <p><lb n="pbo_112.002"/> An der Peripetie pflegt besonders scharf hervorzutreten, <lb n="pbo_112.003"/> welche Sorgfalt der Dramatiker auf eine geschickte Einführung <lb n="pbo_112.004"/> der vollständigen Vorgeschichte seiner Handlung, die <hi rendition="#g">Exposition,</hi> <lb n="pbo_112.005"/> zu verwenden hat. Jedes fehlende, aber auch jedes <lb n="pbo_112.006"/> überflüssige, vornehmlich aber jedes schief, d. h. ohne geraden <lb n="pbo_112.007"/> Bezug auf das untrennbare Gewebe der Handlung eingeführte <lb n="pbo_112.008"/> Moment wird im Verlaufe des Dramas fühlbar und demnach <lb n="pbo_112.009"/> die Wirksamkeit, ja die Möglichkeit der Peripetie hemmen. <lb n="pbo_112.010"/> Ein klassisches Beispiel, wie ein Motiv durch seine Emanzipation <lb n="pbo_112.011"/> von der ursprünglichen Handlung diese überwachsen <lb n="pbo_112.012"/> und in ihrer eigentlichen Jdee zu nichte machen kann, ist das <lb n="pbo_112.013"/> der Freundschaft des Marquis Posa in Schillers „Don Carlos“. <lb n="pbo_112.014"/> Aehnlich Weislingen in Goethes „Götz“. Doch hat Schillers <lb n="pbo_112.015"/> dramatische Lebendigkeit es vermocht, die Jntention seines <lb n="pbo_112.016"/> Helden so unmerklich und so fortreißend in die seines Freundes <lb n="pbo_112.017"/> hinüberzuführen, daß die Veränderung der Direktive des <lb n="pbo_112.018"/> Dramas kann an der Peripetie, freilich wohl an dem für <lb n="pbo_112.019"/> Carlos notwendig nachteiligen Abschluß des Dramas fühlbar <lb n="pbo_112.020"/> wird. Goethes „Götz“ teilt sich durch die Weislingenaffaire <lb n="pbo_112.021"/> in zwei gleichmäßige Kronen, von denen freilich die <lb n="pbo_112.022"/> eine so schön der andern als Folie dient, daß das Stück an <lb n="pbo_112.023"/> poetischer Wirksamkeit gewinnt, was es an dramatischer Schlagkraft <lb n="pbo_112.024"/> verliert. Man bezeichnet diese Konzentrirung des dramatischen <lb n="pbo_112.025"/> Fadens um einen bestimmten Mittelpunkt treffend mit <lb n="pbo_112.026"/> dem Bilde von der <hi rendition="#g">Schürzung des dramatischen <lb n="pbo_112.027"/> Knotens.</hi> Mit der Peripetie beginnt sich nun dann dieser <lb n="pbo_112.028"/> Knoten zu entwirren, und es tritt das zu Tage, was als sein <lb n="pbo_112.029"/> notwendiges Ende von Anfang an in ihn gelegt war, die <lb n="pbo_112.030"/> <hi rendition="#g">Katastrophe.</hi></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [112/0116]
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§ 73. Exposition und Katastrophe. pbo_112.002
An der Peripetie pflegt besonders scharf hervorzutreten, pbo_112.003
welche Sorgfalt der Dramatiker auf eine geschickte Einführung pbo_112.004
der vollständigen Vorgeschichte seiner Handlung, die Exposition, pbo_112.005
zu verwenden hat. Jedes fehlende, aber auch jedes pbo_112.006
überflüssige, vornehmlich aber jedes schief, d. h. ohne geraden pbo_112.007
Bezug auf das untrennbare Gewebe der Handlung eingeführte pbo_112.008
Moment wird im Verlaufe des Dramas fühlbar und demnach pbo_112.009
die Wirksamkeit, ja die Möglichkeit der Peripetie hemmen. pbo_112.010
Ein klassisches Beispiel, wie ein Motiv durch seine Emanzipation pbo_112.011
von der ursprünglichen Handlung diese überwachsen pbo_112.012
und in ihrer eigentlichen Jdee zu nichte machen kann, ist das pbo_112.013
der Freundschaft des Marquis Posa in Schillers „Don Carlos“. pbo_112.014
Aehnlich Weislingen in Goethes „Götz“. Doch hat Schillers pbo_112.015
dramatische Lebendigkeit es vermocht, die Jntention seines pbo_112.016
Helden so unmerklich und so fortreißend in die seines Freundes pbo_112.017
hinüberzuführen, daß die Veränderung der Direktive des pbo_112.018
Dramas kann an der Peripetie, freilich wohl an dem für pbo_112.019
Carlos notwendig nachteiligen Abschluß des Dramas fühlbar pbo_112.020
wird. Goethes „Götz“ teilt sich durch die Weislingenaffaire pbo_112.021
in zwei gleichmäßige Kronen, von denen freilich die pbo_112.022
eine so schön der andern als Folie dient, daß das Stück an pbo_112.023
poetischer Wirksamkeit gewinnt, was es an dramatischer Schlagkraft pbo_112.024
verliert. Man bezeichnet diese Konzentrirung des dramatischen pbo_112.025
Fadens um einen bestimmten Mittelpunkt treffend mit pbo_112.026
dem Bilde von der Schürzung des dramatischen pbo_112.027
Knotens. Mit der Peripetie beginnt sich nun dann dieser pbo_112.028
Knoten zu entwirren, und es tritt das zu Tage, was als sein pbo_112.029
notwendiges Ende von Anfang an in ihn gelegt war, die pbo_112.030
Katastrophe.
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