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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

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mindesten das eine hervor, wie eigentümlich, um nicht zu sagen pbo_114.002
wunderbar den Menschen ihr ästhetisches Wohlgefallen an dem pbo_114.003
Jammergeschick der tragischen Helden erscheint. Der tragische pbo_114.004
Held leidet, und er leidet unverdient gerade im Sinne der pbo_114.005
höheren Menschlichkeit. Ein auf ihm lastendes Geschick ruft pbo_114.006
die Gegenwehr seiner ganzen Natur hervor, und wo der gemeine pbo_114.007
Mensch durch Ausweichen und Nachgiebigkeit sich hindurchhilft, pbo_114.008
unterliegt der tragische Held durch die Unbeugsamkeit pbo_114.009
seines Willens. Diese Unbeugsamkeit des Willens ist die pbo_114.010
vielerörterte tragische Schuld, die auf den reinsten, edelsten pbo_114.011
Voraussetzungen beruhen kann (Antigone, Romeo und pbo_114.012
Julia, Hamlet). Es ist nur die Konsequenz des ungemeinen pbo_114.013
Charakters (die schon Aristoteles Poet. Kap. 15 als omalon pbo_114.014
berührt); es ist das Absolute der Menschennatur, welches in pbo_114.015
der Tragödie seine Triumphe feiert. Auch im Schlechten pbo_114.016
(Richard III., Makbeth, Wallenstein)! Aber während das pbo_114.017
Schlechte, in der Verblendung des egoistischen Strebens befangen, pbo_114.018
an den Grenzen, die dem Jch gesetzt sind, scheitert, pbo_114.019
an der Unerschütterlichkeit der moralischen Weltordnung sich pbo_114.020
bricht, überwindet das Gute die Welt, wenn auch in bitterem pbo_114.021
Leiden und im selbstgewählten Tod (der tragische Wahnsinn pbo_114.022
und Selbstmord).

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So führt die Tragödie das Furchtbare und Mitleiderregende pbo_114.024
in höchster Steigerung vor. Aber grade, indem sie pbo_114.025
daran das Unzukömmliche, Schwankende, Trügerische des pbo_114.026
Lebens klarlegt, im Gegensatz zu der unendlichen Aussicht, pbo_114.027
die das unzerstörbare Triebwerk unseres inneren Wesens uns pbo_114.028
eröffnet, grrade dadurch erhöht sie uns über das Leiden dieses pbo_114.029
Lebens, beruhigt uns im Jnnersten über alle Rätsel des Geschickes. pbo_114.030
Furcht und Mitleid, die härtesten aller Affekte, das pbo_114.031
Grauen vor dem allgemeinsamen Vernichter Tod und das

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Leiden und im selbstgewählten Tod (der tragische Wahnsinn pbo_114.022
und Selbstmord).

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Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/118>, abgerufen am 24.11.2024.