Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.pbo_121.001 § 81. Die dramatische Fabel. pbo_121.013 pbo_121.001 § 81. Die dramatische Fabel. pbo_121.013 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0125" n="121"/><lb n="pbo_121.001"/> Dramatikers den größten Anstoß nahm. Die Tragödie läßt <lb n="pbo_121.002"/> das Possenspiel zu dadurch, daß ihre Helden zu komischen <lb n="pbo_121.003"/> Gegensatzfiguren werden oder solche neben sich stellen. (Hamlet, <lb n="pbo_121.004"/> Merkutio in Romeo). Und die Komödie steigert sich zur <lb n="pbo_121.005"/> Tragödie, dadurch, daß sie tragische Gegensatzfiguren in sich <lb n="pbo_121.006"/> aufnimmt. Ein Stück wie Shakespeares „Kaufmann von <lb n="pbo_121.007"/> Venedig“ erzielt, voll auf dem Boden der Komödie stehend, <lb n="pbo_121.008"/> geradezu tragische Effekte. Der größte aller Komödiendichter, <lb n="pbo_121.009"/> Molière, hat in seinem Misanthrope einen sonst komischen <lb n="pbo_121.010"/> Charakter so scharf als tragische Gegensatzfigur gefaßt, daß <lb n="pbo_121.011"/> ihm zum tragischen Helden nichts weiter fehlt als die Tragödie.</p> <lb n="pbo_121.012"/> </div> <div n="4"> <head> <hi rendition="#c">§ 81. Die dramatische Fabel.</hi> </head> <p><lb n="pbo_121.013"/> Der abgezogene Vorwurf des Dramas (<foreign xml:lang="grc">μῦθος</foreign>, argumentum, <lb n="pbo_121.014"/> Fabel, Süjet) stellt rein objektiv eine Geschichte, <lb n="pbo_121.015"/> eine Erzählung dar und läßt sich, wie jede thatsächliche Weltbegebenheit, <lb n="pbo_121.016"/> in einen historischen Auszug bringen. Viele <lb n="pbo_121.017"/> Dramen, diejenigen Shakespeares voran, lehnen sich an derartige <lb n="pbo_121.018"/> vorhandene Berichte von Historien und angeblichen Begebenheiten. <lb n="pbo_121.019"/> Ein solcher Berichterstatter nun objektiviert thatsächlich <lb n="pbo_121.020"/> die Begebenheit, dadurch, daß er sie als vergangen, <lb n="pbo_121.021"/> als abgeschlossen vorbringt, während der Dramatiker sie als <lb n="pbo_121.022"/> im Entstehen, als werdend vor unsere subjektive Anschauung <lb n="pbo_121.023"/> bringt. Der Berichterstatter wird somit der einzige Vermittler, <lb n="pbo_121.024"/> für uns das Durchgangsmedium für die ganze Begebenheit. <lb n="pbo_121.025"/> Es wird gar nicht fehlen können, daß im Dichter diese Art <lb n="pbo_121.026"/> Vermittlung wiederum eine besondere poetische Form annimmt. <lb n="pbo_121.027"/> Es ist die Form des <hi rendition="#g">Epos.</hi></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [121/0125]
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Dramatikers den größten Anstoß nahm. Die Tragödie läßt pbo_121.002
das Possenspiel zu dadurch, daß ihre Helden zu komischen pbo_121.003
Gegensatzfiguren werden oder solche neben sich stellen. (Hamlet, pbo_121.004
Merkutio in Romeo). Und die Komödie steigert sich zur pbo_121.005
Tragödie, dadurch, daß sie tragische Gegensatzfiguren in sich pbo_121.006
aufnimmt. Ein Stück wie Shakespeares „Kaufmann von pbo_121.007
Venedig“ erzielt, voll auf dem Boden der Komödie stehend, pbo_121.008
geradezu tragische Effekte. Der größte aller Komödiendichter, pbo_121.009
Molière, hat in seinem Misanthrope einen sonst komischen pbo_121.010
Charakter so scharf als tragische Gegensatzfigur gefaßt, daß pbo_121.011
ihm zum tragischen Helden nichts weiter fehlt als die Tragödie.
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§ 81. Die dramatische Fabel. pbo_121.013
Der abgezogene Vorwurf des Dramas (μῦθος, argumentum, pbo_121.014
Fabel, Süjet) stellt rein objektiv eine Geschichte, pbo_121.015
eine Erzählung dar und läßt sich, wie jede thatsächliche Weltbegebenheit, pbo_121.016
in einen historischen Auszug bringen. Viele pbo_121.017
Dramen, diejenigen Shakespeares voran, lehnen sich an derartige pbo_121.018
vorhandene Berichte von Historien und angeblichen Begebenheiten. pbo_121.019
Ein solcher Berichterstatter nun objektiviert thatsächlich pbo_121.020
die Begebenheit, dadurch, daß er sie als vergangen, pbo_121.021
als abgeschlossen vorbringt, während der Dramatiker sie als pbo_121.022
im Entstehen, als werdend vor unsere subjektive Anschauung pbo_121.023
bringt. Der Berichterstatter wird somit der einzige Vermittler, pbo_121.024
für uns das Durchgangsmedium für die ganze Begebenheit. pbo_121.025
Es wird gar nicht fehlen können, daß im Dichter diese Art pbo_121.026
Vermittlung wiederum eine besondere poetische Form annimmt. pbo_121.027
Es ist die Form des Epos.
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