pbo_011.001 § 3. Dichterisches Vermögen im besonderen.
pbo_011.002 Diese Fähigkeit kann sich allen Bereichen und Zwecken pbo_011.003 menschlichen Bestrebens zuwenden. Wo sie sich aber gleichsam pbo_011.004 auf sich selbst, auf den Kreis ihrer Vorstellungen, die pbo_011.005 Phantasie an sich hingespannt zeigt, im freien Spielepbo_011.006 mit dem Angeschauten ihr Genügen findet, da reden wir von pbo_011.007 Dichtung. Dichter in erster Linie ist somit jeder Künstler. pbo_011.008 Nur der Stoff, auf den er seine Anschauung sammelt, Last pbo_011.009 und Stütze, Gestalt, Bild, Ton, macht ihn je demgemäß zum pbo_011.010 Architekten, Bildhauer, Maler, Musiker. Derjenige Künstler, pbo_011.011 welcher durch das unmittelbarste Rüstzeug der Mitteilung, die pbo_011.012 Sprache, die Fülle der Vorstellungen in der Anschauung pbo_011.013 selbst in Bewegung setzt, also der eigentliche Künstler der pbo_011.014 bloßen Anschauung heißt Dichter.
pbo_011.015 § 4. Die Phantasie.pbo_011.016 (Poetischer Wahnsinn.)
pbo_011.017 Das ganz besondere Element des Dichters ist demgemäß pbo_011.018 das Reich der Vorstellungen, die Phantasie. Sie wird pbo_011.019 bei ihm ausgebildeter, regsamer sein müssen, als in irgendwelchem pbo_011.020 anderen Geiste. Sonst würde sie ihn nicht ausschließlich pbo_011.021 beherrschen. Darin liegt eine Gefahr. Die Alten pbo_011.022 sprachen von "poetischem Wahnsinn" (furor poeticus) und pbo_011.023 betrachteten den Dichter im Zustande seines Schaffens als pbo_011.024 einen Besessenen. Das war ein Gleichnis, um die gänzliche pbo_011.025 Entrücktheit des Poeten in die Welt seiner Vorstellungen zu pbo_011.026 bezeichnen. Eine philiströse Anschauung unserer Zeit (Lombroso) pbo_011.027 macht aus dem Gleichnis eine Thatsache und zögert pbo_011.028 nicht, die geniale Begabung überhaupt mit dem Wahnsinn pbo_011.029 in eins zu setzen. Das ist die verkehrte Welt. Jm Genius pbo_011.030 entscheidet, wie wir gesehen haben, gerade das, was psychologisch
pbo_011.001 § 3. Dichterisches Vermögen im besonderen.
pbo_011.002 Diese Fähigkeit kann sich allen Bereichen und Zwecken pbo_011.003 menschlichen Bestrebens zuwenden. Wo sie sich aber gleichsam pbo_011.004 auf sich selbst, auf den Kreis ihrer Vorstellungen, die pbo_011.005 Phantasie an sich hingespannt zeigt, im freien Spielepbo_011.006 mit dem Angeschauten ihr Genügen findet, da reden wir von pbo_011.007 Dichtung. Dichter in erster Linie ist somit jeder Künstler. pbo_011.008 Nur der Stoff, auf den er seine Anschauung sammelt, Last pbo_011.009 und Stütze, Gestalt, Bild, Ton, macht ihn je demgemäß zum pbo_011.010 Architekten, Bildhauer, Maler, Musiker. Derjenige Künstler, pbo_011.011 welcher durch das unmittelbarste Rüstzeug der Mitteilung, die pbo_011.012 Sprache, die Fülle der Vorstellungen in der Anschauung pbo_011.013 selbst in Bewegung setzt, also der eigentliche Künstler der pbo_011.014 bloßen Anschauung heißt Dichter.
pbo_011.015 § 4. Die Phantasie.pbo_011.016 (Poetischer Wahnsinn.)
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bloßen Anschauung heißt Dichter.
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§ 4. Die Phantasie. pbo_011.016
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Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/15>, abgerufen am 16.02.2025.
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