Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895.

Bild:
<< vorherige Seite
pbo_091.001
Jm Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her, pbo_091.002
Doch irrst du, Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und pbo_091.003
her,
pbo_091.004
Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund, pbo_091.005
Jhr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her.
pbo_091.006

Platen: Motto zu den Gaselen.

pbo_091.007
Ein ganz gleicher Reim ist so gut wie gar keiner. Denn pbo_091.008
er soll eben Verschiedenes wirklich binden, auf den gleichen pbo_091.009
Endklang Fernes, ja Entgegengesetztes hinausleiten. So hat pbo_091.010
sich uns ja der Reim schon bei den Figuren angekündigt. pbo_091.011
Daher die ungesuchte Beliebtheit, in der manche Reime stehen, pbo_091.012
Herz und Schmerz, Lust und Brust, aber auch der Tiefsinn, pbo_091.013
der sich wie von selbst in viele legt: heute rot -- morgen tot.

pbo_091.014
§ 59. Arten des Reims.

pbo_091.015
Der Reim, als kennbares Band von Rhythmen, muß pbo_091.016
insofern an ihrer Natur teilnehmen, als er unter allen Umständen pbo_091.017
den Ton, die Hebung tragen muß. Der Reim der pbo_091.018
letzten Silbe in zwei trochäischen Wörtern (haben -- geben) pbo_091.019
oder der beiden letzten Silben in daktylischen Wörtern (reinigen pbo_091.020
-- seligen) gäbe keine Bindung im Sinne des Reims oder pbo_091.021
höchstens in meistersingerischer Mißbetonung. Der Reim setzt an pbo_091.022
der letzten Hebung der rhythmischen Reihe ein; ist sie zugleich pbo_091.023
die letzte Silbe als männlicher (stumpfer) Reim (Gewalt} pbo_091.024
-- Gestalt), oder ist sie die vorletzte als weiblicher (klingender) pbo_091.025
Reim (leben -- geben) oder endlich im vollständigen daktylischen pbo_091.026
Rhythmus als gleitender Reim (sterblichen -- pbo_091.027
erblichen). Dies sind die drei rhythmischen Typen des Reims. pbo_091.028
Jhre mannigfache Verwendung im Versgeschlinge, als Binnenreim,

pbo_091.001
Jm Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her, pbo_091.002
Doch irrst du, Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und pbo_091.003
her,
pbo_091.004
Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund, pbo_091.005
Jhr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her.
pbo_091.006

Platen: Motto zu den Gaselen.

pbo_091.007
Ein ganz gleicher Reim ist so gut wie gar keiner. Denn pbo_091.008
er soll eben Verschiedenes wirklich binden, auf den gleichen pbo_091.009
Endklang Fernes, ja Entgegengesetztes hinausleiten. So hat pbo_091.010
sich uns ja der Reim schon bei den Figuren angekündigt. pbo_091.011
Daher die ungesuchte Beliebtheit, in der manche Reime stehen, pbo_091.012
Herz und Schmerz, Lust und Brust, aber auch der Tiefsinn, pbo_091.013
der sich wie von selbst in viele legt: heute rot — morgen tot.

pbo_091.014
§ 59. Arten des Reims.

pbo_091.015
Der Reim, als kennbares Band von Rhythmen, muß pbo_091.016
insofern an ihrer Natur teilnehmen, als er unter allen Umständen pbo_091.017
den Ton, die Hebung tragen muß. Der Reim der pbo_091.018
letzten Silbe in zwei trochäischen Wörtern (haben — geben) pbo_091.019
oder der beiden letzten Silben in daktylischen Wörtern (reinigen pbo_091.020
— seligen) gäbe keine Bindung im Sinne des Reims oder pbo_091.021
höchstens in meistersingerischer Mißbetonung. Der Reim setzt an pbo_091.022
der letzten Hebung der rhythmischen Reihe ein; ist sie zugleich pbo_091.023
die letzte Silbe als männlicher (stumpfer) Reim (Gewált} pbo_091.024
— Gestált), oder ist sie die vorletzte als weiblicher (klingender) pbo_091.025
Reim (lében — gében) oder endlich im vollständigen daktylischen pbo_091.026
Rhythmus als gleitender Reim (stérblichen — pbo_091.027
érblichen). Dies sind die drei rhythmischen Typen des Reims. pbo_091.028
Jhre mannigfache Verwendung im Versgeschlinge, als Binnenreim,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0095" n="91"/>
              <lb n="pbo_091.001"/>
              <lg>
                <l>Jm Wasser wogt die Lilie, die <hi rendition="#g">blanke, hin und her,</hi> </l>
                <lb n="pbo_091.002"/>
                <l>Doch irrst du, Freund, sobald du sagst, sie <hi rendition="#g">schwanke hin und <lb n="pbo_091.003"/>
her,</hi></l>
                <lb n="pbo_091.004"/>
                <l>Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund,</l>
                <lb n="pbo_091.005"/>
                <l>Jhr Haupt nur wiegt ein lieblicher <hi rendition="#g">Gedanke hin und her.</hi></l>
              </lg>
              <lb n="pbo_091.006"/>
              <p>    Platen: Motto zu den Gaselen. </p>
              <p><lb n="pbo_091.007"/>
Ein <hi rendition="#g">ganz</hi> gleicher Reim ist so gut wie gar keiner. Denn <lb n="pbo_091.008"/>
er soll eben Verschiedenes <hi rendition="#g">wirklich</hi> binden, auf den gleichen <lb n="pbo_091.009"/>
Endklang Fernes, ja Entgegengesetztes hinausleiten. So hat <lb n="pbo_091.010"/>
sich uns ja der Reim schon bei den Figuren angekündigt. <lb n="pbo_091.011"/>
Daher die ungesuchte Beliebtheit, in der manche Reime stehen, <lb n="pbo_091.012"/>
Herz und Schmerz, Lust und Brust, aber auch der Tiefsinn, <lb n="pbo_091.013"/>
der sich wie von selbst in viele legt: heute rot &#x2014; morgen tot.</p>
              <lb n="pbo_091.014"/>
            </div>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#c">§ 59. Arten des Reims.</hi> </head>
              <p><lb n="pbo_091.015"/>
Der Reim, als kennbares Band von Rhythmen, muß <lb n="pbo_091.016"/>
insofern an ihrer Natur teilnehmen, als er unter allen Umständen <lb n="pbo_091.017"/>
den Ton, die Hebung tragen muß. Der Reim der <lb n="pbo_091.018"/>
letzten Silbe in zwei trochäischen Wörtern (ha<hi rendition="#g">ben</hi> &#x2014; ge<hi rendition="#g">ben</hi>) <lb n="pbo_091.019"/>
oder der beiden letzten Silben in daktylischen Wörtern (rein<hi rendition="#g">igen</hi> <lb n="pbo_091.020"/>
&#x2014; sel<hi rendition="#g">igen</hi>) gäbe keine Bindung im Sinne des Reims oder <lb n="pbo_091.021"/>
höchstens in meistersingerischer Mißbetonung. Der Reim setzt an <lb n="pbo_091.022"/>
der letzten Hebung der rhythmischen Reihe ein; ist sie zugleich <lb n="pbo_091.023"/>
die letzte Silbe als <hi rendition="#g">männlicher</hi> (stumpfer) Reim (Gewált} <lb n="pbo_091.024"/>
&#x2014; Gestált), oder ist sie die vorletzte als <hi rendition="#g">weiblicher</hi> (klingender) <lb n="pbo_091.025"/>
Reim (lében &#x2014; gében) oder endlich im vollständigen daktylischen <lb n="pbo_091.026"/>
Rhythmus als <hi rendition="#g">gleitender</hi> Reim (stérblichen &#x2014; <lb n="pbo_091.027"/>
érblichen). Dies sind die drei rhythmischen Typen des Reims. <lb n="pbo_091.028"/>
Jhre mannigfache Verwendung im Versgeschlinge, als Binnenreim,
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[91/0095] pbo_091.001 Jm Wasser wogt die Lilie, die blanke, hin und her, pbo_091.002 Doch irrst du, Freund, sobald du sagst, sie schwanke hin und pbo_091.003 her, pbo_091.004 Es wurzelt ja so fest ihr Fuß im tiefen Meeresgrund, pbo_091.005 Jhr Haupt nur wiegt ein lieblicher Gedanke hin und her. pbo_091.006 Platen: Motto zu den Gaselen. pbo_091.007 Ein ganz gleicher Reim ist so gut wie gar keiner. Denn pbo_091.008 er soll eben Verschiedenes wirklich binden, auf den gleichen pbo_091.009 Endklang Fernes, ja Entgegengesetztes hinausleiten. So hat pbo_091.010 sich uns ja der Reim schon bei den Figuren angekündigt. pbo_091.011 Daher die ungesuchte Beliebtheit, in der manche Reime stehen, pbo_091.012 Herz und Schmerz, Lust und Brust, aber auch der Tiefsinn, pbo_091.013 der sich wie von selbst in viele legt: heute rot — morgen tot. pbo_091.014 § 59. Arten des Reims. pbo_091.015 Der Reim, als kennbares Band von Rhythmen, muß pbo_091.016 insofern an ihrer Natur teilnehmen, als er unter allen Umständen pbo_091.017 den Ton, die Hebung tragen muß. Der Reim der pbo_091.018 letzten Silbe in zwei trochäischen Wörtern (haben — geben) pbo_091.019 oder der beiden letzten Silben in daktylischen Wörtern (reinigen pbo_091.020 — seligen) gäbe keine Bindung im Sinne des Reims oder pbo_091.021 höchstens in meistersingerischer Mißbetonung. Der Reim setzt an pbo_091.022 der letzten Hebung der rhythmischen Reihe ein; ist sie zugleich pbo_091.023 die letzte Silbe als männlicher (stumpfer) Reim (Gewált} pbo_091.024 — Gestált), oder ist sie die vorletzte als weiblicher (klingender) pbo_091.025 Reim (lében — gében) oder endlich im vollständigen daktylischen pbo_091.026 Rhythmus als gleitender Reim (stérblichen — pbo_091.027 érblichen). Dies sind die drei rhythmischen Typen des Reims. pbo_091.028 Jhre mannigfache Verwendung im Versgeschlinge, als Binnenreim,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: manuell (doppelt erfasst).

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;

Hervorhebungen durch Wechsel von Fraktur zu Antiqua: nicht gekennzeichnet




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/95
Zitationshilfe: Borinski, Karl: Deutsche Poetik. Stuttgart, 1895, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/borinski_poetik_1895/95>, abgerufen am 22.11.2024.