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Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789.

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und gegen mich selbst, so lang zu erbauen, bis ich
in eine Art wilder Empfindung gerieth, und (ich ent-
sinne mich noch vollkommen) allemal mit einer Er-
mahnung an Rinder
geendet, deren Anfang lau-
tete: "Kommt Kinder! Wir wollen uns vor dem
"Thron des himmlischen Vater niederwerfen". Dann
richtete ich meine Augen starr in die Höhe, und häu-
fige Thränen flossen die Wangen herab. Dann hätt'
ich mich auf ewig und durch tausend Eyde verbunden,
Allem Allem abzusagen, und nur Jesu nachzufolgen.
Voll unnennbarer, halb süsser, halb bittrer Empfin-
dungen stieg ich dann mit meiner Heerde weiter von
einem Hügel zum andern auf und nieder, und hieng
immer dem beängstigenden Gedanken nach: Was ich
denn nun allererst thun müsse, um selig zu werden?
"Darf ich also", hob ich dann halb laut halb leise
an, "meine Geißen nicht mehr lieben? Muß ich
"meinem Distelfink Abschied geben? -- Muß ich
"wirklich gar Vater und Mutter verlassen"? u. s. f.
Dann fiel ich vollends in eine düstre Schwermuth,
in Zweifel, in Höllenangst; wußte nicht mehr was ich
treiben, was ich lassen, woran ich mich halten sollte.
Das dauerte dann so etliche Tage lang. Dann hieng
ich wieder für etwas Zeit Grillen von ganz andrer
Natur -- und auch diesen bis zur Wuth nach; bau-
te mir ein, zwey, drey Dutzend spanischer Schlösser
auf, riß alle Abend die alten nieder, und schuf ein
Paar neue. -- So dauerte es bis ungefehr in mein
achtzehntes Jahr, da mein Vater seinen Wohnort
veränderte, und ich so zu sagen in eine ganz neue

und gegen mich ſelbſt, ſo lang zu erbauen, bis ich
in eine Art wilder Empfindung gerieth, und (ich ent-
ſinne mich noch vollkommen) allemal mit einer Er-
mahnung an Rinder
geendet, deren Anfang lau-
tete: „Kommt Kinder! Wir wollen uns vor dem
„Thron des himmliſchen Vater niederwerfen„. Dann
richtete ich meine Augen ſtarr in die Hoͤhe, und haͤu-
fige Thraͤnen floſſen die Wangen herab. Dann haͤtt’
ich mich auf ewig und durch tauſend Eyde verbunden,
Allem Allem abzuſagen, und nur Jeſu nachzufolgen.
Voll unnennbarer, halb ſuͤſſer, halb bittrer Empfin-
dungen ſtieg ich dann mit meiner Heerde weiter von
einem Huͤgel zum andern auf und nieder, und hieng
immer dem beaͤngſtigenden Gedanken nach: Was ich
denn nun allererſt thun muͤſſe, um ſelig zu werden?
„Darf ich alſo„, hob ich dann halb laut halb leiſe
an, „meine Geißen nicht mehr lieben? Muß ich
„meinem Diſtelfink Abſchied geben? — Muß ich
„wirklich gar Vater und Mutter verlaſſen„? u. ſ. f.
Dann fiel ich vollends in eine duͤſtre Schwermuth,
in Zweifel, in Hoͤllenangſt; wußte nicht mehr was ich
treiben, was ich laſſen, woran ich mich halten ſollte.
Das dauerte dann ſo etliche Tage lang. Dann hieng
ich wieder fuͤr etwas Zeit Grillen von ganz andrer
Natur — und auch dieſen bis zur Wuth nach; bau-
te mir ein, zwey, drey Dutzend ſpaniſcher Schloͤſſer
auf, riß alle Abend die alten nieder, und ſchuf ein
Paar neue. — So dauerte es bis ungefehr in mein
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[237/0253] und gegen mich ſelbſt, ſo lang zu erbauen, bis ich in eine Art wilder Empfindung gerieth, und (ich ent- ſinne mich noch vollkommen) allemal mit einer Er- mahnung an Rinder geendet, deren Anfang lau- tete: „Kommt Kinder! Wir wollen uns vor dem „Thron des himmliſchen Vater niederwerfen„. Dann richtete ich meine Augen ſtarr in die Hoͤhe, und haͤu- fige Thraͤnen floſſen die Wangen herab. Dann haͤtt’ ich mich auf ewig und durch tauſend Eyde verbunden, Allem Allem abzuſagen, und nur Jeſu nachzufolgen. Voll unnennbarer, halb ſuͤſſer, halb bittrer Empfin- dungen ſtieg ich dann mit meiner Heerde weiter von einem Huͤgel zum andern auf und nieder, und hieng immer dem beaͤngſtigenden Gedanken nach: Was ich denn nun allererſt thun muͤſſe, um ſelig zu werden? „Darf ich alſo„, hob ich dann halb laut halb leiſe an, „meine Geißen nicht mehr lieben? Muß ich „meinem Diſtelfink Abſchied geben? — Muß ich „wirklich gar Vater und Mutter verlaſſen„? u. ſ. f. Dann fiel ich vollends in eine duͤſtre Schwermuth, in Zweifel, in Hoͤllenangſt; wußte nicht mehr was ich treiben, was ich laſſen, woran ich mich halten ſollte. Das dauerte dann ſo etliche Tage lang. Dann hieng ich wieder fuͤr etwas Zeit Grillen von ganz andrer Natur — und auch dieſen bis zur Wuth nach; bau- te mir ein, zwey, drey Dutzend ſpaniſcher Schloͤſſer auf, riß alle Abend die alten nieder, und ſchuf ein Paar neue. — So dauerte es bis ungefehr in mein achtzehntes Jahr, da mein Vater ſeinen Wohnort veraͤnderte, und ich ſo zu ſagen in eine ganz neue

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Zitationshilfe: Bräker, Ulrich: Lebensgeschichte und natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Herausgegeben von H. H. Füßli. Zürich, 1789, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braeker_lebensgeschichte_1789/253>, abgerufen am 21.11.2024.