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Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831.

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Regeln urtheilen, so ist es unfehlbar gewiß, daß ein nicht zu großer,
20 Fuß entfernter Gegenstand uns nur halb so groß im Durch-
messer erscheint, als wenn er uns auf 10 Fuß nahe rückt; wir
können uns hievon leicht überzeugen, wenn wir an einem vor uns
stehenden Maaßstabe vergleichen, wie vielen Theilen desselben der
scheinbare Durchmesser eines bestimmten Gegenstandes in beiden
Stellungen entspricht; aber unser Urtheil über die scheinbare Größe
ist hiervon sehr verschieden, und man überzeugt sich nur mit Mühe,
daß der Kopf eines in 20 Fuß Entfernung ins Zimmer tretenden
Menschen uns nur ein Viertel so groß im Durchmesser erscheint,
als wenn er sich uns bis auf 5 Fuß genähert hat. Wegen dieses
falschen Urtheiles kommen uns die Gegenstände in Beziehung auf
ihre Größe bedeutend anders vor, wenn wir sie in einem langen,
schmalen Raume hinter einander, ihre Entfernungen gleichsam ab-
gemessen, vor uns sehen, als wenn sie im Freien in eben der
Anordnung aufgestellt sind. Wenn wir durch mehrere geöffnete
Thüren, die gerade hinter einander liegen, sehend, unsere Auf-
merksamkeit auf die entfernteste derselben richten, so werden wir es
weit mehr gewahr, wie klein sie uns erscheint, als wenn wir im
Freien sie in eben der Entfernung angesehen hätten. Die Meinung,
daß der Mond uns beim Aufgange größer erscheine, ist nicht allein
allgemein verbreitet, sondern beruht auch auf einer so mächtigen
Täuschung, daß man, selbst bei der Ueberzeugung, daß es nur
Täuschung sei, nicht Herr über sie werden kann. Und doch ist
dieses falsche Urtheil nur von eben der Art, wie in den vorhin
angeführten Fällen, und jede Messung überzeugt uns, daß der
Mond nicht größer erscheint *).

Obgleich also der Sehewinkel, die scheinbare Größe
eines Gegenstandes (das ist der Winkel, den die von den Grenzen
des Gegenstandes nach dem Auge gezogenen Linien mit einander
machen), auf eine so strenge und sichere Weise aus der wahren
Größe und aus der Lage und Entfernung bestimmt ist, so befinden
wir uns doch in Rücksicht auf die Beurtheilung der scheinbaren
Größe in einer durch mancherlei Umstände veranlaßten Unsicherheit.
Die Gewöhnung, Gegenstände, welche uns genau bekannt sind, in

*) Vgl. die Vorles. üb. d. Astronomie. 1. 80.

Regeln urtheilen, ſo iſt es unfehlbar gewiß, daß ein nicht zu großer,
20 Fuß entfernter Gegenſtand uns nur halb ſo groß im Durch-
meſſer erſcheint, als wenn er uns auf 10 Fuß nahe ruͤckt; wir
koͤnnen uns hievon leicht uͤberzeugen, wenn wir an einem vor uns
ſtehenden Maaßſtabe vergleichen, wie vielen Theilen deſſelben der
ſcheinbare Durchmeſſer eines beſtimmten Gegenſtandes in beiden
Stellungen entſpricht; aber unſer Urtheil uͤber die ſcheinbare Groͤße
iſt hiervon ſehr verſchieden, und man uͤberzeugt ſich nur mit Muͤhe,
daß der Kopf eines in 20 Fuß Entfernung ins Zimmer tretenden
Menſchen uns nur ein Viertel ſo groß im Durchmeſſer erſcheint,
als wenn er ſich uns bis auf 5 Fuß genaͤhert hat. Wegen dieſes
falſchen Urtheiles kommen uns die Gegenſtaͤnde in Beziehung auf
ihre Groͤße bedeutend anders vor, wenn wir ſie in einem langen,
ſchmalen Raume hinter einander, ihre Entfernungen gleichſam ab-
gemeſſen, vor uns ſehen, als wenn ſie im Freien in eben der
Anordnung aufgeſtellt ſind. Wenn wir durch mehrere geoͤffnete
Thuͤren, die gerade hinter einander liegen, ſehend, unſere Auf-
merkſamkeit auf die entfernteſte derſelben richten, ſo werden wir es
weit mehr gewahr, wie klein ſie uns erſcheint, als wenn wir im
Freien ſie in eben der Entfernung angeſehen haͤtten. Die Meinung,
daß der Mond uns beim Aufgange groͤßer erſcheine, iſt nicht allein
allgemein verbreitet, ſondern beruht auch auf einer ſo maͤchtigen
Taͤuſchung, daß man, ſelbſt bei der Ueberzeugung, daß es nur
Taͤuſchung ſei, nicht Herr uͤber ſie werden kann. Und doch iſt
dieſes falſche Urtheil nur von eben der Art, wie in den vorhin
angefuͤhrten Faͤllen, und jede Meſſung uͤberzeugt uns, daß der
Mond nicht groͤßer erſcheint *).

Obgleich alſo der Sehewinkel, die ſcheinbare Groͤße
eines Gegenſtandes (das iſt der Winkel, den die von den Grenzen
des Gegenſtandes nach dem Auge gezogenen Linien mit einander
machen), auf eine ſo ſtrenge und ſichere Weiſe aus der wahren
Groͤße und aus der Lage und Entfernung beſtimmt iſt, ſo befinden
wir uns doch in Ruͤckſicht auf die Beurtheilung der ſcheinbaren
Groͤße in einer durch mancherlei Umſtaͤnde veranlaßten Unſicherheit.
Die Gewoͤhnung, Gegenſtaͤnde, welche uns genau bekannt ſind, in

*) Vgl. die Vorleſ. uͤb. d. Aſtronomie. 1. 80.
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[60/0074] Regeln urtheilen, ſo iſt es unfehlbar gewiß, daß ein nicht zu großer, 20 Fuß entfernter Gegenſtand uns nur halb ſo groß im Durch- meſſer erſcheint, als wenn er uns auf 10 Fuß nahe ruͤckt; wir koͤnnen uns hievon leicht uͤberzeugen, wenn wir an einem vor uns ſtehenden Maaßſtabe vergleichen, wie vielen Theilen deſſelben der ſcheinbare Durchmeſſer eines beſtimmten Gegenſtandes in beiden Stellungen entſpricht; aber unſer Urtheil uͤber die ſcheinbare Groͤße iſt hiervon ſehr verſchieden, und man uͤberzeugt ſich nur mit Muͤhe, daß der Kopf eines in 20 Fuß Entfernung ins Zimmer tretenden Menſchen uns nur ein Viertel ſo groß im Durchmeſſer erſcheint, als wenn er ſich uns bis auf 5 Fuß genaͤhert hat. Wegen dieſes falſchen Urtheiles kommen uns die Gegenſtaͤnde in Beziehung auf ihre Groͤße bedeutend anders vor, wenn wir ſie in einem langen, ſchmalen Raume hinter einander, ihre Entfernungen gleichſam ab- gemeſſen, vor uns ſehen, als wenn ſie im Freien in eben der Anordnung aufgeſtellt ſind. Wenn wir durch mehrere geoͤffnete Thuͤren, die gerade hinter einander liegen, ſehend, unſere Auf- merkſamkeit auf die entfernteſte derſelben richten, ſo werden wir es weit mehr gewahr, wie klein ſie uns erſcheint, als wenn wir im Freien ſie in eben der Entfernung angeſehen haͤtten. Die Meinung, daß der Mond uns beim Aufgange groͤßer erſcheine, iſt nicht allein allgemein verbreitet, ſondern beruht auch auf einer ſo maͤchtigen Taͤuſchung, daß man, ſelbſt bei der Ueberzeugung, daß es nur Taͤuſchung ſei, nicht Herr uͤber ſie werden kann. Und doch iſt dieſes falſche Urtheil nur von eben der Art, wie in den vorhin angefuͤhrten Faͤllen, und jede Meſſung uͤberzeugt uns, daß der Mond nicht groͤßer erſcheint *). Obgleich alſo der Sehewinkel, die ſcheinbare Groͤße eines Gegenſtandes (das iſt der Winkel, den die von den Grenzen des Gegenſtandes nach dem Auge gezogenen Linien mit einander machen), auf eine ſo ſtrenge und ſichere Weiſe aus der wahren Groͤße und aus der Lage und Entfernung beſtimmt iſt, ſo befinden wir uns doch in Ruͤckſicht auf die Beurtheilung der ſcheinbaren Groͤße in einer durch mancherlei Umſtaͤnde veranlaßten Unſicherheit. Die Gewoͤhnung, Gegenſtaͤnde, welche uns genau bekannt ſind, in *) Vgl. die Vorleſ. uͤb. d. Aſtronomie. 1. 80.

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Zitationshilfe: Brandes, Heinrich Wilhelm: Vorlesungen über die Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1831, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brandes_naturlehre02_1831/74>, abgerufen am 24.11.2024.