Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903.

Bild:
<< vorherige Seite

eine Zeit kommen, in der der Proletarier sehen lernt, in der die
billigen Oeldruckbilder, die schlechten Möbel, der armselige Fünfzig-
pfennig-Bazarkram, die häßlichen Zehnpfennig-Bilderbücher, die
verräucherte, schmutzige Schenke seinen entwickelten künstlerischen
Sinn beleidigen, in der Theater und Konzerte zu seiner Erholung
gehören werden.

Die Vertreter der heutigen Gesellschaftsordnung pflegen einig
in der Verurtheilung der abnehmenden Bedürfnislosigkeit des
arbeitenden Volkes zu sein. Als Genuß- und Verschwendungssucht
sittlich verdorbener Menschen erscheint ihnen das, was wir als
Zeichen erwachender Menschenwürde, fortschreitender Kultur freudig
begrüßen. Jhr Standpunkt kann kein anderer sein: denn wer glaubt,
daß es immer Reiche und Arme, Herren und Sklaven geben wird,
der muß jeden Versuch der unglücklichen Lastträger der Menschheit,
ihre Schranken zu durchbrechen, im Keime zu ersticken suchen, weil
er ja doch nur zwecklose Unzufriedenheit, verderbenbringende Unruhe
zur Folge haben kann. Wir jedoch, die wir wissen, daß es
eine stetige Weiterentwickelung der Menschheit giebt, daß die Erde
Güter für Alle genug hervorbringt, wir haben die Aufgabe, zu
untersuchen, was diesem Ziele näher führt. Die steigenden
Bedürfnisse aber sind eine der stärksten Triebkräfte des Fortschritts.
Sie sind aber auch eine der Ursachen, warum an ein Zurückgehen
der Frauenarbeit nicht zu denken ist.

Doch noch eine andere Ursache darf nicht übersehen werden:
sie besteht in dem Verlangen der Frauen nach Selbstständigkeit, das
sich von der Zeit an entwickelte, wo sie, durch die Noth gezwungen,
auf eigenen Füßen stehen mußten, und allmählich auch den Werth
der Selbstständigkeit kennen lernten. Warum scheuen sich immer
mehr Mädchen davor, Dienstboten zu werden? Weil sie mit vollem
Recht die Unabhängigkeit der Abhängigkeit vorziehen, selbst wenn
ihnen diese Nahrung und Obdach sichert. Warum verlassen viele
Mädchen ohne allzu großen Kummer frühzeitig das Elternhaus?
Nicht nur, weil das Elend daheim sie hinaustreibt, sondern vielfach
auch, weil eine dunkle Sehnsucht nach Freiheit dabei mitspielt. Und
wie viele verheirathete Frauen, die die Geißel der Abhängigkeit
von einem ungeliebten Manne schmerzhaft spüren, suchen Freiheit
und Selbstständigkeit auf dem Wege eigener Arbeit.

So hat die Revolution der Maschine Revolutionen aller Art
nach sich gezogen, und äußere und innere Gründe wirken zusammen,
um eine immer weitere Ausdehnung der Frauenarbeit herbei-
zuführen.




eine Zeit kommen, in der der Proletarier sehen lernt, in der die
billigen Oeldruckbilder, die schlechten Möbel, der armselige Fünfzig-
pfennig-Bazarkram, die häßlichen Zehnpfennig-Bilderbücher, die
verräucherte, schmutzige Schenke seinen entwickelten künstlerischen
Sinn beleidigen, in der Theater und Konzerte zu seiner Erholung
gehören werden.

Die Vertreter der heutigen Gesellschaftsordnung pflegen einig
in der Verurtheilung der abnehmenden Bedürfnislosigkeit des
arbeitenden Volkes zu sein. Als Genuß- und Verschwendungssucht
sittlich verdorbener Menschen erscheint ihnen das, was wir als
Zeichen erwachender Menschenwürde, fortschreitender Kultur freudig
begrüßen. Jhr Standpunkt kann kein anderer sein: denn wer glaubt,
daß es immer Reiche und Arme, Herren und Sklaven geben wird,
der muß jeden Versuch der unglücklichen Lastträger der Menschheit,
ihre Schranken zu durchbrechen, im Keime zu ersticken suchen, weil
er ja doch nur zwecklose Unzufriedenheit, verderbenbringende Unruhe
zur Folge haben kann. Wir jedoch, die wir wissen, daß es
eine stetige Weiterentwickelung der Menschheit giebt, daß die Erde
Güter für Alle genug hervorbringt, wir haben die Aufgabe, zu
untersuchen, was diesem Ziele näher führt. Die steigenden
Bedürfnisse aber sind eine der stärksten Triebkräfte des Fortschritts.
Sie sind aber auch eine der Ursachen, warum an ein Zurückgehen
der Frauenarbeit nicht zu denken ist.

Doch noch eine andere Ursache darf nicht übersehen werden:
sie besteht in dem Verlangen der Frauen nach Selbstständigkeit, das
sich von der Zeit an entwickelte, wo sie, durch die Noth gezwungen,
auf eigenen Füßen stehen mußten, und allmählich auch den Werth
der Selbstständigkeit kennen lernten. Warum scheuen sich immer
mehr Mädchen davor, Dienstboten zu werden? Weil sie mit vollem
Recht die Unabhängigkeit der Abhängigkeit vorziehen, selbst wenn
ihnen diese Nahrung und Obdach sichert. Warum verlassen viele
Mädchen ohne allzu großen Kummer frühzeitig das Elternhaus?
Nicht nur, weil das Elend daheim sie hinaustreibt, sondern vielfach
auch, weil eine dunkle Sehnsucht nach Freiheit dabei mitspielt. Und
wie viele verheirathete Frauen, die die Geißel der Abhängigkeit
von einem ungeliebten Manne schmerzhaft spüren, suchen Freiheit
und Selbstständigkeit auf dem Wege eigener Arbeit.

So hat die Revolution der Maschine Revolutionen aller Art
nach sich gezogen, und äußere und innere Gründe wirken zusammen,
um eine immer weitere Ausdehnung der Frauenarbeit herbei-
zuführen.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0008" n="9"/>
eine Zeit kommen, in der der Proletarier sehen                         lernt, in der die<lb/>
billigen Oeldruckbilder, die schlechten Möbel, der                         armselige Fünfzig-<lb/>
pfennig-Bazarkram, die häßlichen                         Zehnpfennig-Bilderbücher, die<lb/>
verräucherte, schmutzige Schenke seinen                         entwickelten künstlerischen<lb/>
Sinn beleidigen, in der Theater und                         Konzerte zu seiner Erholung<lb/>
gehören werden.</p><lb/>
          <p>Die Vertreter der heutigen Gesellschaftsordnung pflegen einig<lb/>
in der                         Verurtheilung der abnehmenden Bedürfnislosigkeit des<lb/>
arbeitenden Volkes                         zu sein. Als Genuß- und Verschwendungssucht<lb/>
sittlich verdorbener                         Menschen erscheint ihnen das, was wir als<lb/>
Zeichen erwachender                         Menschenwürde, fortschreitender Kultur freudig<lb/>
begrüßen. Jhr Standpunkt                         kann kein anderer sein: denn wer glaubt,<lb/>
daß es immer Reiche und Arme,                         Herren und Sklaven geben wird,<lb/>
der muß jeden Versuch der unglücklichen                         Lastträger der Menschheit,<lb/>
ihre Schranken zu durchbrechen, im Keime zu                         ersticken suchen, weil<lb/>
er ja doch nur zwecklose Unzufriedenheit,                         verderbenbringende Unruhe<lb/>
zur Folge haben kann. Wir jedoch, die wir                         wissen, daß es<lb/>
eine stetige Weiterentwickelung der Menschheit giebt,                         daß die Erde<lb/>
Güter für Alle genug hervorbringt, wir haben die Aufgabe,                         zu<lb/>
untersuchen, was diesem Ziele näher führt. Die steigenden<lb/>
Bedürfnisse aber sind eine der stärksten Triebkräfte des Fortschritts.<lb/>
Sie sind aber auch eine der Ursachen, warum an ein Zurückgehen<lb/>
der                         Frauenarbeit nicht zu denken ist.</p><lb/>
          <p>Doch noch eine andere Ursache darf nicht übersehen werden:<lb/>
sie besteht                         in dem Verlangen der Frauen nach Selbstständigkeit, das<lb/>
sich von der                         Zeit an entwickelte, wo sie, durch die Noth gezwungen,<lb/>
auf eigenen                         Füßen stehen mußten, und allmählich auch den Werth<lb/>
der                         Selbstständigkeit kennen lernten. Warum scheuen sich immer<lb/>
mehr Mädchen                         davor, Dienstboten zu werden? Weil sie mit vollem<lb/>
Recht die                         Unabhängigkeit der Abhängigkeit vorziehen, selbst wenn<lb/>
ihnen diese                         Nahrung und Obdach sichert. Warum verlassen viele<lb/>
Mädchen ohne allzu                         großen Kummer frühzeitig das Elternhaus?<lb/>
Nicht nur, weil das Elend                         daheim sie hinaustreibt, sondern vielfach<lb/>
auch, weil eine dunkle                         Sehnsucht nach Freiheit dabei mitspielt. Und<lb/>
wie viele verheirathete                         Frauen, die die Geißel der Abhängigkeit<lb/>
von einem ungeliebten Manne                         schmerzhaft spüren, suchen Freiheit<lb/>
und Selbstständigkeit auf dem Wege                         eigener Arbeit.</p><lb/>
          <p>So hat die Revolution der Maschine Revolutionen aller Art<lb/>
nach sich                         gezogen, und äußere und innere Gründe wirken zusammen,<lb/>
um eine immer                         weitere Ausdehnung der Frauenarbeit herbei-<lb/>
zuführen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0008] eine Zeit kommen, in der der Proletarier sehen lernt, in der die billigen Oeldruckbilder, die schlechten Möbel, der armselige Fünfzig- pfennig-Bazarkram, die häßlichen Zehnpfennig-Bilderbücher, die verräucherte, schmutzige Schenke seinen entwickelten künstlerischen Sinn beleidigen, in der Theater und Konzerte zu seiner Erholung gehören werden. Die Vertreter der heutigen Gesellschaftsordnung pflegen einig in der Verurtheilung der abnehmenden Bedürfnislosigkeit des arbeitenden Volkes zu sein. Als Genuß- und Verschwendungssucht sittlich verdorbener Menschen erscheint ihnen das, was wir als Zeichen erwachender Menschenwürde, fortschreitender Kultur freudig begrüßen. Jhr Standpunkt kann kein anderer sein: denn wer glaubt, daß es immer Reiche und Arme, Herren und Sklaven geben wird, der muß jeden Versuch der unglücklichen Lastträger der Menschheit, ihre Schranken zu durchbrechen, im Keime zu ersticken suchen, weil er ja doch nur zwecklose Unzufriedenheit, verderbenbringende Unruhe zur Folge haben kann. Wir jedoch, die wir wissen, daß es eine stetige Weiterentwickelung der Menschheit giebt, daß die Erde Güter für Alle genug hervorbringt, wir haben die Aufgabe, zu untersuchen, was diesem Ziele näher führt. Die steigenden Bedürfnisse aber sind eine der stärksten Triebkräfte des Fortschritts. Sie sind aber auch eine der Ursachen, warum an ein Zurückgehen der Frauenarbeit nicht zu denken ist. Doch noch eine andere Ursache darf nicht übersehen werden: sie besteht in dem Verlangen der Frauen nach Selbstständigkeit, das sich von der Zeit an entwickelte, wo sie, durch die Noth gezwungen, auf eigenen Füßen stehen mußten, und allmählich auch den Werth der Selbstständigkeit kennen lernten. Warum scheuen sich immer mehr Mädchen davor, Dienstboten zu werden? Weil sie mit vollem Recht die Unabhängigkeit der Abhängigkeit vorziehen, selbst wenn ihnen diese Nahrung und Obdach sichert. Warum verlassen viele Mädchen ohne allzu großen Kummer frühzeitig das Elternhaus? Nicht nur, weil das Elend daheim sie hinaustreibt, sondern vielfach auch, weil eine dunkle Sehnsucht nach Freiheit dabei mitspielt. Und wie viele verheirathete Frauen, die die Geißel der Abhängigkeit von einem ungeliebten Manne schmerzhaft spüren, suchen Freiheit und Selbstständigkeit auf dem Wege eigener Arbeit. So hat die Revolution der Maschine Revolutionen aller Art nach sich gezogen, und äußere und innere Gründe wirken zusammen, um eine immer weitere Ausdehnung der Frauenarbeit herbei- zuführen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-08-30T16:52:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-08-30T16:52:29Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: gekennzeichnet; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; I/J in Fraktur: wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/8
Zitationshilfe: Braun, Lily: Die Frauen und die Politik. Berlin, 1903, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/braun_frauen_1903/8>, abgerufen am 03.12.2024.