Ebensowohl als in den Dschungeln oder Rohr- und Graswäldern mit wenigen Bäumen, aber viel Gesträuch, begegnet man dem Tiger in großen, hochstämmigen Wäldern, wenn auch immer nur bis zu einer gewissen Höhe über dem Meeresspiegel. Nach den herdenreichen Alpenweiden in den Hochgebirgen Asiens geht er niemals empor; um so öfter kommt er dicht an die Dörfer, ja selbst an die Städte heran. Die schilfbewachsenen Ufer der Flüsse, die ungeheuren, schilfartigen Bambusgebüsche und andere Dickungen sind seine Lieblingsplätze; allen übrigen Orten aber soll er den Schatten unter einem buschigen Strauche, Korintha genannt, vorziehen, weil dessen Krone so dicht ist, daß sich kaum ein Sonnenstrahl zwischen den Zweigen hindurchstehlen kann. Die Zweige sind nämlich nicht blos sehr verflochten, sondern hängen auch nach allen Seiten über und fast bis zur Erde herab, bilden also eine dunkle und äußerst schattige Laube, welche das Thier ebensogut vor dem Auge verbirgt, als sie ihm Kühlung gewährt. Diese Liebhaberei des Tigers für die Korintha ist so bekannt, daß bei den Jagden die Treiber stets zuerst ihr Augenmerk auf jene Büsche richten. Hier verbirgt er sich, um zu ruhen, und von hieraus schleicht er an seine Beute heran, bis er so nahe gekommen ist, daß er sie mit wenigen Sätzen erreichen kann. Er hat alle Sitten und Gewohnheiten der Katzen, aber sie stehen bei ihm im gleichen Verhältniß zu seiner Größe. Seine Bewegungen sind jedoch noch anmuthig, wie die kleinerer Katzen, und dabei ungemein rasch, gewandt und zu- gleich ausdauernd. Er schleicht unhörbar dahin, versteht gewaltige Sätze zu machen, klettert trotz seiner Größe rasch und geschickt an Bäumen empor, schwimmt meisterhaft schnurgerade über breite Ströme und zeigt dabei immer die bewunderungswürdige Sicherheit in der Ausführung jeder einzelnen Bewegung.
Er ist kein eigentliches Nachtthier, sondern streift, wie die meisten Katzen, zu jeder Tages- zeit umher, wenn er auch den Stunden vor und nach Sonnenuntergang den Vorzug giebt. An Tränkplätzen, Landstraßen, Dorfwegen, Waldpfaden und dergleichen legt er sich auf die Lauer; am allerliebsten in dem Gebüsch an den Flußufern, weil hier entweder die Thiere zur Tränke kommen oder die Menschen herabsteigen, um ihre frommen Uebungen und Waschungen zu verrichten. Von den Büßern, welche zeitweilig an den heiligen Strömen leben, werden stets sehr viele durch die Tiger getödtet. Eigentlich ist kein Thier vor dem entsetzlichen Räuber sicher; er greift selbst den jungen Elefanten und das junge Rashorn an, wenn er sich auch an die alten Thiere nicht wagt und einem ausgewachsenen Elefanten unterliegen muß. Sämmtliche Säugethiere, vielleicht mit Ausnahme der anderen Raubthiere und der übrigen Katzenarten, fallen ihm zur Beute, und er siürzt sich ebenso- wohl auf die stärksten, wie auf die schwächsten. Außerdem holt er sich auch aus der Klasse der Vögel, ja selbst aus der Klasse der Lurche hier und da eine Beute. Jn denselben Dickungen, in welchen er sich aufhält, wohnen auch viele Hühnerarten, namentlich die Pfauen. Gerade sie haben es sehr häufig mit den Tigern zu thun und kennen ihn deshalb genau. Sie werden auch gewöhnlich zum Verräther des still dahinschleichenden Raubthieres, indem sie entweder geräuschvoll auffliegen und Schutz vor ihm suchen oder, wenn sie bereits gebäumt haben, ihre weittönende Stimme ausstoßen, den übrigen Geschöpfen gleichsam zur Warnung. Auch die Affen verleiden ihm oft seine Jagd.
Der Tiger belauert und beschleicht schlangenartig seine Beute, stürzt dann pfeilschnell mit wenigen Sätzen auf dieselbe los und schlägt die Krallen mit solcher Kraft in den Nacken ein, daß auch das stärkste Thier sofort zu Boden stürzt. Die Wunden, welche er schlägt, sind immer außerordentlich gefährlich; denn nicht blos die Nägel, sondern auch die Zehen dringen bei dem fürchterlichen Schlage ein. Johnson hat solche Wunden gesehen, welche fünf Zoll tief waren. Selbst wenn die Verwun- dung eine verhältnißmäßig leichte ist, geht das Opfer gewöhnlich zu Grunde, weil bekanntlich alle Wunden, welche gerissen werden, ungleich gefahrvoller sind, als solche, die durch ein scharfschneidiges Werkzeug hervorgebracht worden sind. Kapitän Williamson, ein Offizier, welcher zwanzig Jahre in Bengalen gelebt und außergewöhnliche Erfahrungen gesammelt hatte, versichert, daß er niemals einen von dem Tiger Verwundeten habe sterben sehen, ohne daß dieser vorher von Starrkrämpfen befallen worden sei, und fügt dem hinzu, daß auch die leichtesten Verwundungen, welche geheilt werden,
Die Raubthiere. Katzen. — Tiger.
Ebenſowohl als in den Dſchungeln oder Rohr- und Graswäldern mit wenigen Bäumen, aber viel Geſträuch, begegnet man dem Tiger in großen, hochſtämmigen Wäldern, wenn auch immer nur bis zu einer gewiſſen Höhe über dem Meeresſpiegel. Nach den herdenreichen Alpenweiden in den Hochgebirgen Aſiens geht er niemals empor; um ſo öfter kommt er dicht an die Dörfer, ja ſelbſt an die Städte heran. Die ſchilfbewachſenen Ufer der Flüſſe, die ungeheuren, ſchilfartigen Bambusgebüſche und andere Dickungen ſind ſeine Lieblingsplätze; allen übrigen Orten aber ſoll er den Schatten unter einem buſchigen Strauche, Korintha genannt, vorziehen, weil deſſen Krone ſo dicht iſt, daß ſich kaum ein Sonnenſtrahl zwiſchen den Zweigen hindurchſtehlen kann. Die Zweige ſind nämlich nicht blos ſehr verflochten, ſondern hängen auch nach allen Seiten über und faſt bis zur Erde herab, bilden alſo eine dunkle und äußerſt ſchattige Laube, welche das Thier ebenſogut vor dem Auge verbirgt, als ſie ihm Kühlung gewährt. Dieſe Liebhaberei des Tigers für die Korintha iſt ſo bekannt, daß bei den Jagden die Treiber ſtets zuerſt ihr Augenmerk auf jene Büſche richten. Hier verbirgt er ſich, um zu ruhen, und von hieraus ſchleicht er an ſeine Beute heran, bis er ſo nahe gekommen iſt, daß er ſie mit wenigen Sätzen erreichen kann. Er hat alle Sitten und Gewohnheiten der Katzen, aber ſie ſtehen bei ihm im gleichen Verhältniß zu ſeiner Größe. Seine Bewegungen ſind jedoch noch anmuthig, wie die kleinerer Katzen, und dabei ungemein raſch, gewandt und zu- gleich ausdauernd. Er ſchleicht unhörbar dahin, verſteht gewaltige Sätze zu machen, klettert trotz ſeiner Größe raſch und geſchickt an Bäumen empor, ſchwimmt meiſterhaft ſchnurgerade über breite Ströme und zeigt dabei immer die bewunderungswürdige Sicherheit in der Ausführung jeder einzelnen Bewegung.
Er iſt kein eigentliches Nachtthier, ſondern ſtreift, wie die meiſten Katzen, zu jeder Tages- zeit umher, wenn er auch den Stunden vor und nach Sonnenuntergang den Vorzug giebt. An Tränkplätzen, Landſtraßen, Dorfwegen, Waldpfaden und dergleichen legt er ſich auf die Lauer; am allerliebſten in dem Gebüſch an den Flußufern, weil hier entweder die Thiere zur Tränke kommen oder die Menſchen herabſteigen, um ihre frommen Uebungen und Waſchungen zu verrichten. Von den Büßern, welche zeitweilig an den heiligen Strömen leben, werden ſtets ſehr viele durch die Tiger getödtet. Eigentlich iſt kein Thier vor dem entſetzlichen Räuber ſicher; er greift ſelbſt den jungen Elefanten und das junge Rashorn an, wenn er ſich auch an die alten Thiere nicht wagt und einem ausgewachſenen Elefanten unterliegen muß. Sämmtliche Säugethiere, vielleicht mit Ausnahme der anderen Raubthiere und der übrigen Katzenarten, fallen ihm zur Beute, und er ſiürzt ſich ebenſo- wohl auf die ſtärkſten, wie auf die ſchwächſten. Außerdem holt er ſich auch aus der Klaſſe der Vögel, ja ſelbſt aus der Klaſſe der Lurche hier und da eine Beute. Jn denſelben Dickungen, in welchen er ſich aufhält, wohnen auch viele Hühnerarten, namentlich die Pfauen. Gerade ſie haben es ſehr häufig mit den Tigern zu thun und kennen ihn deshalb genau. Sie werden auch gewöhnlich zum Verräther des ſtill dahinſchleichenden Raubthieres, indem ſie entweder geräuſchvoll auffliegen und Schutz vor ihm ſuchen oder, wenn ſie bereits gebäumt haben, ihre weittönende Stimme ausſtoßen, den übrigen Geſchöpfen gleichſam zur Warnung. Auch die Affen verleiden ihm oft ſeine Jagd.
Der Tiger belauert und beſchleicht ſchlangenartig ſeine Beute, ſtürzt dann pfeilſchnell mit wenigen Sätzen auf dieſelbe los und ſchlägt die Krallen mit ſolcher Kraft in den Nacken ein, daß auch das ſtärkſte Thier ſofort zu Boden ſtürzt. Die Wunden, welche er ſchlägt, ſind immer außerordentlich gefährlich; denn nicht blos die Nägel, ſondern auch die Zehen dringen bei dem fürchterlichen Schlage ein. Johnſon hat ſolche Wunden geſehen, welche fünf Zoll tief waren. Selbſt wenn die Verwun- dung eine verhältnißmäßig leichte iſt, geht das Opfer gewöhnlich zu Grunde, weil bekanntlich alle Wunden, welche geriſſen werden, ungleich gefahrvoller ſind, als ſolche, die durch ein ſcharfſchneidiges Werkzeug hervorgebracht worden ſind. Kapitän Williamſon, ein Offizier, welcher zwanzig Jahre in Bengalen gelebt und außergewöhnliche Erfahrungen geſammelt hatte, verſichert, daß er niemals einen von dem Tiger Verwundeten habe ſterben ſehen, ohne daß dieſer vorher von Starrkrämpfen befallen worden ſei, und fügt dem hinzu, daß auch die leichteſten Verwundungen, welche geheilt werden,
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[224/0286]
Die Raubthiere. Katzen. — Tiger.
Ebenſowohl als in den Dſchungeln oder Rohr- und Graswäldern mit wenigen Bäumen, aber
viel Geſträuch, begegnet man dem Tiger in großen, hochſtämmigen Wäldern, wenn auch immer
nur bis zu einer gewiſſen Höhe über dem Meeresſpiegel. Nach den herdenreichen Alpenweiden
in den Hochgebirgen Aſiens geht er niemals empor; um ſo öfter kommt er dicht an die Dörfer,
ja ſelbſt an die Städte heran. Die ſchilfbewachſenen Ufer der Flüſſe, die ungeheuren, ſchilfartigen
Bambusgebüſche und andere Dickungen ſind ſeine Lieblingsplätze; allen übrigen Orten aber ſoll
er den Schatten unter einem buſchigen Strauche, Korintha genannt, vorziehen, weil deſſen Krone
ſo dicht iſt, daß ſich kaum ein Sonnenſtrahl zwiſchen den Zweigen hindurchſtehlen kann. Die Zweige
ſind nämlich nicht blos ſehr verflochten, ſondern hängen auch nach allen Seiten über und faſt bis
zur Erde herab, bilden alſo eine dunkle und äußerſt ſchattige Laube, welche das Thier ebenſogut vor
dem Auge verbirgt, als ſie ihm Kühlung gewährt. Dieſe Liebhaberei des Tigers für die Korintha
iſt ſo bekannt, daß bei den Jagden die Treiber ſtets zuerſt ihr Augenmerk auf jene Büſche richten.
Hier verbirgt er ſich, um zu ruhen, und von hieraus ſchleicht er an ſeine Beute heran, bis er ſo nahe
gekommen iſt, daß er ſie mit wenigen Sätzen erreichen kann. Er hat alle Sitten und Gewohnheiten
der Katzen, aber ſie ſtehen bei ihm im gleichen Verhältniß zu ſeiner Größe. Seine Bewegungen
ſind jedoch noch anmuthig, wie die kleinerer Katzen, und dabei ungemein raſch, gewandt und zu-
gleich ausdauernd. Er ſchleicht unhörbar dahin, verſteht gewaltige Sätze zu machen, klettert trotz
ſeiner Größe raſch und geſchickt an Bäumen empor, ſchwimmt meiſterhaft ſchnurgerade über breite
Ströme und zeigt dabei immer die bewunderungswürdige Sicherheit in der Ausführung jeder
einzelnen Bewegung.
Er iſt kein eigentliches Nachtthier, ſondern ſtreift, wie die meiſten Katzen, zu jeder Tages-
zeit umher, wenn er auch den Stunden vor und nach Sonnenuntergang den Vorzug giebt. An
Tränkplätzen, Landſtraßen, Dorfwegen, Waldpfaden und dergleichen legt er ſich auf die Lauer; am
allerliebſten in dem Gebüſch an den Flußufern, weil hier entweder die Thiere zur Tränke kommen
oder die Menſchen herabſteigen, um ihre frommen Uebungen und Waſchungen zu verrichten. Von
den Büßern, welche zeitweilig an den heiligen Strömen leben, werden ſtets ſehr viele durch die Tiger
getödtet. Eigentlich iſt kein Thier vor dem entſetzlichen Räuber ſicher; er greift ſelbſt den jungen
Elefanten und das junge Rashorn an, wenn er ſich auch an die alten Thiere nicht wagt und
einem ausgewachſenen Elefanten unterliegen muß. Sämmtliche Säugethiere, vielleicht mit Ausnahme
der anderen Raubthiere und der übrigen Katzenarten, fallen ihm zur Beute, und er ſiürzt ſich ebenſo-
wohl auf die ſtärkſten, wie auf die ſchwächſten. Außerdem holt er ſich auch aus der Klaſſe der Vögel,
ja ſelbſt aus der Klaſſe der Lurche hier und da eine Beute. Jn denſelben Dickungen, in welchen er
ſich aufhält, wohnen auch viele Hühnerarten, namentlich die Pfauen. Gerade ſie haben es ſehr
häufig mit den Tigern zu thun und kennen ihn deshalb genau. Sie werden auch gewöhnlich zum
Verräther des ſtill dahinſchleichenden Raubthieres, indem ſie entweder geräuſchvoll auffliegen und
Schutz vor ihm ſuchen oder, wenn ſie bereits gebäumt haben, ihre weittönende Stimme ausſtoßen,
den übrigen Geſchöpfen gleichſam zur Warnung. Auch die Affen verleiden ihm oft ſeine Jagd.
Der Tiger belauert und beſchleicht ſchlangenartig ſeine Beute, ſtürzt dann pfeilſchnell mit wenigen
Sätzen auf dieſelbe los und ſchlägt die Krallen mit ſolcher Kraft in den Nacken ein, daß auch das
ſtärkſte Thier ſofort zu Boden ſtürzt. Die Wunden, welche er ſchlägt, ſind immer außerordentlich
gefährlich; denn nicht blos die Nägel, ſondern auch die Zehen dringen bei dem fürchterlichen Schlage
ein. Johnſon hat ſolche Wunden geſehen, welche fünf Zoll tief waren. Selbſt wenn die Verwun-
dung eine verhältnißmäßig leichte iſt, geht das Opfer gewöhnlich zu Grunde, weil bekanntlich alle
Wunden, welche geriſſen werden, ungleich gefahrvoller ſind, als ſolche, die durch ein ſcharfſchneidiges
Werkzeug hervorgebracht worden ſind. Kapitän Williamſon, ein Offizier, welcher zwanzig Jahre
in Bengalen gelebt und außergewöhnliche Erfahrungen geſammelt hatte, verſichert, daß er niemals
einen von dem Tiger Verwundeten habe ſterben ſehen, ohne daß dieſer vorher von Starrkrämpfen
befallen worden ſei, und fügt dem hinzu, daß auch die leichteſten Verwundungen, welche geheilt werden,
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/286>, abgerufen am 22.11.2024.
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