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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die eigentlichen Mäuse.
steifen Grannen, welche abgeplattet erscheinen. Jn der Pelzfärbung sind Schwarzbraun und Weißgelb
vorwiegend.

Schon im gewöhnlichen Leben unterscheidet man zwei Hauptgruppen, die Ratten und Mäuse,
und diese Unterscheidung nimmt auch die Wissenschaft an. Die Ratten sind die plumperen und häß-
licheren, die Mäuse die leichteren und zierlicheren Gestalten. Bei jenen hat der Schwanz zwischen
200 und 260 Schuppenringe, bei diesen nur zwischen 120 und 180; dort sind die Füße dick und
plump, hier schlank und fein; die Ratten werden im ausgewachsenen Zustande über zwölf Zoll, die
Mäuse nur gegen neun Zoll lang; jene haben getheilte Querfalten im Gaumen, bei diesen sind die
Querfalten erst von der zweiten an in der Mitte getheilt. Man sieht daraus, daß diese Unterschei-
dungsmerkmale immerhin einer ziemlich sorgfältigen Prüfung bedürfen und eigentlich nur für den
Forscher von Fach besonderen Werth haben. Jn ihrem Leben dagegen unterscheiden sich die eigentlichen
Ratten von den wahren Mäusen auffallend genug. --

Die hohen Würdenträger der christlichen Kirche haben schon im funfzehnten Jahrhundert von den
Ratten eine gewaltige Niederlage erlitten; denn diese Thiere fürchteten sich bereits zu jener Zeit nicht
im geringsten vor den Schreckmitteln, durch deren Hilfe diese irdischen Himmelskönige zu herr-
schen suchten. Der Bischof von Autun erklärte nämlich unsere Hausratte, die zu seiner Zeit
ganz die Rolle spielte, welche die Wanderratte in unseren Tagen übernommen hat, feierlichst in den
Kirchenbann, ohne daß diese Handlung irgendwelche Wirkung hervorgebracht hätte; denn die Ratten
vermehrten sich nach wie vor, und bewiesen auf das schlagendste, daß die Bannblitze nur dem gläu-
bigen Menschengeschlecht schädlich werden konnten. Die protestantischen Geistlichen Sondershausens
suchten sich auf andere Weise der Ratten zu entledigen, welche ihnen als eine von Gott zur Strafe der
sündigen Menschheit verhängte Landplage erschienen. Wahrscheinlich hatten die Thiere dem aufge-
speicherten Zehntel der frommen Herren empfindlichen Schaden zugefügt und sie deshalb zum Nach-
denken darüber veranlaßt, wie jener Plage zu steuern: kurz und gut, man verordnete einen feierlichen
Buß- und Bettag im ganzen Lande. Die Gläubigen wallten zerknirscht in die Kirchen und erbaten
von dem Höchsten Abhilfe von aller Noth und allem Elend, so die Ratten ihren treuen Hirten zuge-
fügt; aber obgleich der sündige Mensch das ihm von Adams Zeiten her anererbte Böse frommen Her-
zens anerkannte und nach Kräften Leib und Seele zu kasteien versuchte: -- die erwünschte Wirkung
blieb aus. Auch der Buß- und Bettag war vergebeus angesetzt worden; nach wie vor vermehrten sich
die Ratten, und bis zum heutigen Tage hat man noch kein Mittel gefunden, ihrer Verbreitung zu
steuern, obgleich man seitdem viel vernünftiger geworden ist und ganz andere Geschosse gegen sie an-
wendet, obgleich man schon seit langer Zeit anstatt mit leerem Wortschwall, mit allen nur erdenkbaren
Mitteln gegen sie zu Felde zieht. Die egyptische Plage währt nicht nur fort, sondern nimmt sogar
überhand; denn die eine, und zwar die schlimmere, der Rattenarten verbreitet sich von Tag zu Tag
mehr über das Erdeurund.

Jn unserem Vaterlande wohnen noch immer beide Rattenarten hier und da neben einander, wenn
auch gegenwärtig die stärkere Art sich bereits an vielen Orten der unbeschränkten Herrschaft des mensch-
lichen Eigenthums bemächtigt hat. Diese beiden Arten sind die gewöhnliche Hausratte und die
Wanderratte. Erstere (Mus Rattus) ist ziemlich einfarbig. Die Oberseite ihres Körpers und des
Schwanzes ist dunkelbraunschwarz. Diese Färbung geht ganz allmählich in die nur wenig hellere,
grauschwarze der Unterseite über. Der Schwanz, welcher etwas länger als der Körper ist, hat 250
bis 260 Schuppenringe, die Gaumenfalten sind glatt. Alte, ausgewachsene Männchen werden unge-
fähr 13 Zoll lang; hiervon kommen 6 Zoll auf den Leib.

Wann diese Art eigentlich zuerst in Europa erschienen ist, läßt sich mit Gewißheit nicht be-
stimmen. Jn den Schriften der Alten hat man bis jetzt noch keine Stelle aufgefunden, welche auf
die Hausratte bezogen werden könnte. Albertus Magnus ist der erste Thierkundige, welcher sie
als deutsches Thier aufführt; demnach war sie also im zwölften Jahrhundert bereits bei uns heimisch.
Möglicherweise stammt sie, wie ihre stärkere Schwester, aus Persien, wo sie noch gegenwärtig in

Die eigentlichen Mäuſe.
ſteifen Grannen, welche abgeplattet erſcheinen. Jn der Pelzfärbung ſind Schwarzbraun und Weißgelb
vorwiegend.

Schon im gewöhnlichen Leben unterſcheidet man zwei Hauptgruppen, die Ratten und Mäuſe,
und dieſe Unterſcheidung nimmt auch die Wiſſenſchaft an. Die Ratten ſind die plumperen und häß-
licheren, die Mäuſe die leichteren und zierlicheren Geſtalten. Bei jenen hat der Schwanz zwiſchen
200 und 260 Schuppenringe, bei dieſen nur zwiſchen 120 und 180; dort ſind die Füße dick und
plump, hier ſchlank und fein; die Ratten werden im ausgewachſenen Zuſtande über zwölf Zoll, die
Mäuſe nur gegen neun Zoll lang; jene haben getheilte Querfalten im Gaumen, bei dieſen ſind die
Querfalten erſt von der zweiten an in der Mitte getheilt. Man ſieht daraus, daß dieſe Unterſchei-
dungsmerkmale immerhin einer ziemlich ſorgfältigen Prüfung bedürfen und eigentlich nur für den
Forſcher von Fach beſonderen Werth haben. Jn ihrem Leben dagegen unterſcheiden ſich die eigentlichen
Ratten von den wahren Mäuſen auffallend genug. —

Die hohen Würdenträger der chriſtlichen Kirche haben ſchon im funfzehnten Jahrhundert von den
Ratten eine gewaltige Niederlage erlitten; denn dieſe Thiere fürchteten ſich bereits zu jener Zeit nicht
im geringſten vor den Schreckmitteln, durch deren Hilfe dieſe irdiſchen Himmelskönige zu herr-
ſchen ſuchten. Der Biſchof von Autun erklärte nämlich unſere Hausratte, die zu ſeiner Zeit
ganz die Rolle ſpielte, welche die Wanderratte in unſeren Tagen übernommen hat, feierlichſt in den
Kirchenbann, ohne daß dieſe Handlung irgendwelche Wirkung hervorgebracht hätte; denn die Ratten
vermehrten ſich nach wie vor, und bewieſen auf das ſchlagendſte, daß die Bannblitze nur dem gläu-
bigen Menſchengeſchlecht ſchädlich werden konnten. Die proteſtantiſchen Geiſtlichen Sondershauſens
ſuchten ſich auf andere Weiſe der Ratten zu entledigen, welche ihnen als eine von Gott zur Strafe der
ſündigen Menſchheit verhängte Landplage erſchienen. Wahrſcheinlich hatten die Thiere dem aufge-
ſpeicherten Zehntel der frommen Herren empfindlichen Schaden zugefügt und ſie deshalb zum Nach-
denken darüber veranlaßt, wie jener Plage zu ſteuern: kurz und gut, man verordnete einen feierlichen
Buß- und Bettag im ganzen Lande. Die Gläubigen wallten zerknirſcht in die Kirchen und erbaten
von dem Höchſten Abhilfe von aller Noth und allem Elend, ſo die Ratten ihren treuen Hirten zuge-
fügt; aber obgleich der ſündige Menſch das ihm von Adams Zeiten her anererbte Böſe frommen Her-
zens anerkannte und nach Kräften Leib und Seele zu kaſteien verſuchte: — die erwünſchte Wirkung
blieb aus. Auch der Buß- und Bettag war vergebeus angeſetzt worden; nach wie vor vermehrten ſich
die Ratten, und bis zum heutigen Tage hat man noch kein Mittel gefunden, ihrer Verbreitung zu
ſteuern, obgleich man ſeitdem viel vernünftiger geworden iſt und ganz andere Geſchoſſe gegen ſie an-
wendet, obgleich man ſchon ſeit langer Zeit anſtatt mit leerem Wortſchwall, mit allen nur erdenkbaren
Mitteln gegen ſie zu Felde zieht. Die egyptiſche Plage währt nicht nur fort, ſondern nimmt ſogar
überhand; denn die eine, und zwar die ſchlimmere, der Rattenarten verbreitet ſich von Tag zu Tag
mehr über das Erdeurund.

Jn unſerem Vaterlande wohnen noch immer beide Rattenarten hier und da neben einander, wenn
auch gegenwärtig die ſtärkere Art ſich bereits an vielen Orten der unbeſchränkten Herrſchaft des menſch-
lichen Eigenthums bemächtigt hat. Dieſe beiden Arten ſind die gewöhnliche Hausratte und die
Wanderratte. Erſtere (Mus Rattus) iſt ziemlich einfarbig. Die Oberſeite ihres Körpers und des
Schwanzes iſt dunkelbraunſchwarz. Dieſe Färbung geht ganz allmählich in die nur wenig hellere,
grauſchwarze der Unterſeite über. Der Schwanz, welcher etwas länger als der Körper iſt, hat 250
bis 260 Schuppenringe, die Gaumenfalten ſind glatt. Alte, ausgewachſene Männchen werden unge-
fähr 13 Zoll lang; hiervon kommen 6 Zoll auf den Leib.

Wann dieſe Art eigentlich zuerſt in Europa erſchienen iſt, läßt ſich mit Gewißheit nicht be-
ſtimmen. Jn den Schriften der Alten hat man bis jetzt noch keine Stelle aufgefunden, welche auf
die Hausratte bezogen werden könnte. Albertus Magnus iſt der erſte Thierkundige, welcher ſie
als deutſches Thier aufführt; demnach war ſie alſo im zwölften Jahrhundert bereits bei uns heimiſch.
Möglicherweiſe ſtammt ſie, wie ihre ſtärkere Schweſter, aus Perſien, wo ſie noch gegenwärtig in

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[118/0132] Die eigentlichen Mäuſe. ſteifen Grannen, welche abgeplattet erſcheinen. Jn der Pelzfärbung ſind Schwarzbraun und Weißgelb vorwiegend. Schon im gewöhnlichen Leben unterſcheidet man zwei Hauptgruppen, die Ratten und Mäuſe, und dieſe Unterſcheidung nimmt auch die Wiſſenſchaft an. Die Ratten ſind die plumperen und häß- licheren, die Mäuſe die leichteren und zierlicheren Geſtalten. Bei jenen hat der Schwanz zwiſchen 200 und 260 Schuppenringe, bei dieſen nur zwiſchen 120 und 180; dort ſind die Füße dick und plump, hier ſchlank und fein; die Ratten werden im ausgewachſenen Zuſtande über zwölf Zoll, die Mäuſe nur gegen neun Zoll lang; jene haben getheilte Querfalten im Gaumen, bei dieſen ſind die Querfalten erſt von der zweiten an in der Mitte getheilt. Man ſieht daraus, daß dieſe Unterſchei- dungsmerkmale immerhin einer ziemlich ſorgfältigen Prüfung bedürfen und eigentlich nur für den Forſcher von Fach beſonderen Werth haben. Jn ihrem Leben dagegen unterſcheiden ſich die eigentlichen Ratten von den wahren Mäuſen auffallend genug. — Die hohen Würdenträger der chriſtlichen Kirche haben ſchon im funfzehnten Jahrhundert von den Ratten eine gewaltige Niederlage erlitten; denn dieſe Thiere fürchteten ſich bereits zu jener Zeit nicht im geringſten vor den Schreckmitteln, durch deren Hilfe dieſe irdiſchen Himmelskönige zu herr- ſchen ſuchten. Der Biſchof von Autun erklärte nämlich unſere Hausratte, die zu ſeiner Zeit ganz die Rolle ſpielte, welche die Wanderratte in unſeren Tagen übernommen hat, feierlichſt in den Kirchenbann, ohne daß dieſe Handlung irgendwelche Wirkung hervorgebracht hätte; denn die Ratten vermehrten ſich nach wie vor, und bewieſen auf das ſchlagendſte, daß die Bannblitze nur dem gläu- bigen Menſchengeſchlecht ſchädlich werden konnten. Die proteſtantiſchen Geiſtlichen Sondershauſens ſuchten ſich auf andere Weiſe der Ratten zu entledigen, welche ihnen als eine von Gott zur Strafe der ſündigen Menſchheit verhängte Landplage erſchienen. Wahrſcheinlich hatten die Thiere dem aufge- ſpeicherten Zehntel der frommen Herren empfindlichen Schaden zugefügt und ſie deshalb zum Nach- denken darüber veranlaßt, wie jener Plage zu ſteuern: kurz und gut, man verordnete einen feierlichen Buß- und Bettag im ganzen Lande. Die Gläubigen wallten zerknirſcht in die Kirchen und erbaten von dem Höchſten Abhilfe von aller Noth und allem Elend, ſo die Ratten ihren treuen Hirten zuge- fügt; aber obgleich der ſündige Menſch das ihm von Adams Zeiten her anererbte Böſe frommen Her- zens anerkannte und nach Kräften Leib und Seele zu kaſteien verſuchte: — die erwünſchte Wirkung blieb aus. Auch der Buß- und Bettag war vergebeus angeſetzt worden; nach wie vor vermehrten ſich die Ratten, und bis zum heutigen Tage hat man noch kein Mittel gefunden, ihrer Verbreitung zu ſteuern, obgleich man ſeitdem viel vernünftiger geworden iſt und ganz andere Geſchoſſe gegen ſie an- wendet, obgleich man ſchon ſeit langer Zeit anſtatt mit leerem Wortſchwall, mit allen nur erdenkbaren Mitteln gegen ſie zu Felde zieht. Die egyptiſche Plage währt nicht nur fort, ſondern nimmt ſogar überhand; denn die eine, und zwar die ſchlimmere, der Rattenarten verbreitet ſich von Tag zu Tag mehr über das Erdeurund. Jn unſerem Vaterlande wohnen noch immer beide Rattenarten hier und da neben einander, wenn auch gegenwärtig die ſtärkere Art ſich bereits an vielen Orten der unbeſchränkten Herrſchaft des menſch- lichen Eigenthums bemächtigt hat. Dieſe beiden Arten ſind die gewöhnliche Hausratte und die Wanderratte. Erſtere (Mus Rattus) iſt ziemlich einfarbig. Die Oberſeite ihres Körpers und des Schwanzes iſt dunkelbraunſchwarz. Dieſe Färbung geht ganz allmählich in die nur wenig hellere, grauſchwarze der Unterſeite über. Der Schwanz, welcher etwas länger als der Körper iſt, hat 250 bis 260 Schuppenringe, die Gaumenfalten ſind glatt. Alte, ausgewachſene Männchen werden unge- fähr 13 Zoll lang; hiervon kommen 6 Zoll auf den Leib. Wann dieſe Art eigentlich zuerſt in Europa erſchienen iſt, läßt ſich mit Gewißheit nicht be- ſtimmen. Jn den Schriften der Alten hat man bis jetzt noch keine Stelle aufgefunden, welche auf die Hausratte bezogen werden könnte. Albertus Magnus iſt der erſte Thierkundige, welcher ſie als deutſches Thier aufführt; demnach war ſie alſo im zwölften Jahrhundert bereits bei uns heimiſch. Möglicherweiſe ſtammt ſie, wie ihre ſtärkere Schweſter, aus Perſien, wo ſie noch gegenwärtig in

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/132>, abgerufen am 26.11.2024.