haben eine Menge Anderer Dieses und Jenes berichtet, und somit kann die Naturgeschichte des Ren- thieres als ziemlich abgeschlossen betrachtet werden. Jch selbst habe die wilden Rudel und die zahmen Herden beobachten können und bin dadurch in den Stand gesetzt worden, aus eigener Anschauung zu sprechen. Sehr Vieles habe ich auch von meinem alten Jäger Erik Swensen und von anderen glaubwürdigen Norwegern erfahren.
Der hohe Norden der alten, und, wenn man das amerikanische Renthier zu unserer Art zählt, auch die nördlichsten Gegenden der neuen Welt, sind die Heimat des Ren. Es findet sich in allen Ländern nördlich des 60. Grades; steigt aber in manchen Gegenden sogar bis zum 52. Grad nördlicher Breite herab. Wild trifft man es noch auf den Alpengebirgen Skandinaviens und Lapplands, in Finnland, im ganzen nördlichen Sibirien, in Grönland und auf den nördlich- sten Gebirgen des festländischen Amerika. Auch auf Spitzbergen lebt es, und auf Jsland ist es, nachdem es vor ungefähr hundert Jahren dort eingeführt wurde, vollständig verwildert und hat sich bereits in namhafter Anzahl über alle Gebirge der Jnsel verbreitet. Jn Norwegen fand ich es auf dem Dovre-Fjeld noch in ziemlicher Anzahl vor: nach der Versicherung meines alten Erik sollen mindestens 4000 Stück allein auf diesem Gebirgsstock leben. Aber es kommt auch auf den Hoch- gebirgen des Bergener Stifts vor und reicht dort sicherlich bis zum 60. Grad nördlicher Breite herab.
Das Renthier ist ein echtes Alpenkind, wie die Gemse, und findet sich nur auf den baumlosen mit Mos und wenigen Alpenpflanzen bestandenen, breiten Rücken der nordischen Gebirge, welche die Eingeborenen so bezeichnend "Fjelds" nennen. Niemals steigt es bis in den Waldgürtel herab, wie es überhaupt ängstlich die Waldungen meidet. Jn Norwegen ist ein Gürtel zwischen 2500 bis 6000 Fuß sein gewöhnlicher Aufenthalt. Die kahlen Bergebenen, namentlich Halden, zwischen deren Gestein einzelne Pflanzen wachsen, oder jene weiten Ebenen, welche dünn mit Renthier- flechten übersponnen sind, müssen als Standorte dieses Wildes angesehen werden, und nur dann, wenn es von einem Höhenzuge nach dem anderen streift, trollt es über eine der sumpfigen, morastähnlichen, niederen Flächen hinweg; aber auch bei solchen Wanderungen vermeidet es noch ängstlich den Wald. Pallas gibt an, daß es im nördlichen Sibirien zuweilen in Waldungen vor- komme, und auch von Wrangel bestätigt Dies. Von beiden Schriftstellern erfahren wir, daß es in Sibirien große, regelmäßige Wanderungen ausführt. "Gegen Ende des Mai", sagt Wrangel, "verläßt das wilde Renthier in großen Herden die Wälder, wo es den Winter über einigen Schutz gegen die grimmige Kälte sucht, und zieht nach den nördlichen Flächen, theils, weil es dort bessere Nahrung auf der Mosfläche findet, theils aber auch, um den Fliegen und Mücken zu entgehen, welche mit Eintritt des Frühlings in ungeheuren Schwärmen die ganze Luft verfinstern. Der Frühlingszug ist für die dortigen Völkerschaften nicht vortheilhaft; denn in dieser Jahreszeit sind die Thiere mager und durch die Stiche der Kerbthiere ganz mit Beulen und Wunden bedeckt; im August und September aber, wo die Renthiere wieder aus der Ebene in die Wälder zurückkehren, sind sie gesund und wohl genährt und geben eine schmackhafte, kräftige Speise. Jn guten Jahren besteht der Renthierzug aus mehreren Tausenden, welche, obgleich sie in Herden von zwei- bis dreihundert Stücken gehen, sich doch immer einander ziemlich nahe bleiben, so daß das Ganze eine ungeheure Masse ausmacht. Jhr Weg ist stets unabänderlich derselbe. Zum Uebergang über den Fluß wählen sie eine Stelle, wo an dem Ufer ein trockener Thalweg hinabführt und an dem gegenüber- stehenden eine flache Sandbank ihnen das Hinaufkommen erleichtert. Hier drängt sich jede einzelne Herde dicht zusammen, und die ganze Oberfläche bedeckt sich mit schwimmenden Thieren." An dem Baranicha in Sibirien sah Wrangel zwei unabsehbare Herden wandernder Renthiere, welche mit ihren hohen Geweihen wandelnden Wäldern gleichen. Die Züge währten zwei Stunden.
Jn Norwegen wandern die Thiere nicht, sondern streichen höchstens von einem Gebirgsrücken auf den anderen, wie weit, ist nicht ermittelt. Jene Gebirge sind aber auch so beschaffen, daß sie ihnen alle Vortheile, welche den sibirischen die Wanderungen bieten, gewähren können. Zur Zeit
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Das Renthier.
haben eine Menge Anderer Dieſes und Jenes berichtet, und ſomit kann die Naturgeſchichte des Ren- thieres als ziemlich abgeſchloſſen betrachtet werden. Jch ſelbſt habe die wilden Rudel und die zahmen Herden beobachten können und bin dadurch in den Stand geſetzt worden, aus eigener Anſchauung zu ſprechen. Sehr Vieles habe ich auch von meinem alten Jäger Erik Swenſen und von anderen glaubwürdigen Norwegern erfahren.
Der hohe Norden der alten, und, wenn man das amerikaniſche Renthier zu unſerer Art zählt, auch die nördlichſten Gegenden der neuen Welt, ſind die Heimat des Ren. Es findet ſich in allen Ländern nördlich des 60. Grades; ſteigt aber in manchen Gegenden ſogar bis zum 52. Grad nördlicher Breite herab. Wild trifft man es noch auf den Alpengebirgen Skandinaviens und Lapplands, in Finnland, im ganzen nördlichen Sibirien, in Grönland und auf den nördlich- ſten Gebirgen des feſtländiſchen Amerika. Auch auf Spitzbergen lebt es, und auf Jsland iſt es, nachdem es vor ungefähr hundert Jahren dort eingeführt wurde, vollſtändig verwildert und hat ſich bereits in namhafter Anzahl über alle Gebirge der Jnſel verbreitet. Jn Norwegen fand ich es auf dem Dovre-Fjeld noch in ziemlicher Anzahl vor: nach der Verſicherung meines alten Erik ſollen mindeſtens 4000 Stück allein auf dieſem Gebirgsſtock leben. Aber es kommt auch auf den Hoch- gebirgen des Bergener Stifts vor und reicht dort ſicherlich bis zum 60. Grad nördlicher Breite herab.
Das Renthier iſt ein echtes Alpenkind, wie die Gemſe, und findet ſich nur auf den baumloſen mit Mos und wenigen Alpenpflanzen beſtandenen, breiten Rücken der nordiſchen Gebirge, welche die Eingeborenen ſo bezeichnend „Fjelds‟ nennen. Niemals ſteigt es bis in den Waldgürtel herab, wie es überhaupt ängſtlich die Waldungen meidet. Jn Norwegen iſt ein Gürtel zwiſchen 2500 bis 6000 Fuß ſein gewöhnlicher Aufenthalt. Die kahlen Bergebenen, namentlich Halden, zwiſchen deren Geſtein einzelne Pflanzen wachſen, oder jene weiten Ebenen, welche dünn mit Renthier- flechten überſponnen ſind, müſſen als Standorte dieſes Wildes angeſehen werden, und nur dann, wenn es von einem Höhenzuge nach dem anderen ſtreift, trollt es über eine der ſumpfigen, moraſtähnlichen, niederen Flächen hinweg; aber auch bei ſolchen Wanderungen vermeidet es noch ängſtlich den Wald. Pallas gibt an, daß es im nördlichen Sibirien zuweilen in Waldungen vor- komme, und auch von Wrangel beſtätigt Dies. Von beiden Schriftſtellern erfahren wir, daß es in Sibirien große, regelmäßige Wanderungen ausführt. „Gegen Ende des Mai‟, ſagt Wrangel, „verläßt das wilde Renthier in großen Herden die Wälder, wo es den Winter über einigen Schutz gegen die grimmige Kälte ſucht, und zieht nach den nördlichen Flächen, theils, weil es dort beſſere Nahrung auf der Mosfläche findet, theils aber auch, um den Fliegen und Mücken zu entgehen, welche mit Eintritt des Frühlings in ungeheuren Schwärmen die ganze Luft verfinſtern. Der Frühlingszug iſt für die dortigen Völkerſchaften nicht vortheilhaft; denn in dieſer Jahreszeit ſind die Thiere mager und durch die Stiche der Kerbthiere ganz mit Beulen und Wunden bedeckt; im Auguſt und September aber, wo die Renthiere wieder aus der Ebene in die Wälder zurückkehren, ſind ſie geſund und wohl genährt und geben eine ſchmackhafte, kräftige Speiſe. Jn guten Jahren beſteht der Renthierzug aus mehreren Tauſenden, welche, obgleich ſie in Herden von zwei- bis dreihundert Stücken gehen, ſich doch immer einander ziemlich nahe bleiben, ſo daß das Ganze eine ungeheure Maſſe ausmacht. Jhr Weg iſt ſtets unabänderlich derſelbe. Zum Uebergang über den Fluß wählen ſie eine Stelle, wo an dem Ufer ein trockener Thalweg hinabführt und an dem gegenüber- ſtehenden eine flache Sandbank ihnen das Hinaufkommen erleichtert. Hier drängt ſich jede einzelne Herde dicht zuſammen, und die ganze Oberfläche bedeckt ſich mit ſchwimmenden Thieren.‟ An dem Baranicha in Sibirien ſah Wrangel zwei unabſehbare Herden wandernder Renthiere, welche mit ihren hohen Geweihen wandelnden Wäldern gleichen. Die Züge währten zwei Stunden.
Jn Norwegen wandern die Thiere nicht, ſondern ſtreichen höchſtens von einem Gebirgsrücken auf den anderen, wie weit, iſt nicht ermittelt. Jene Gebirge ſind aber auch ſo beſchaffen, daß ſie ihnen alle Vortheile, welche den ſibiriſchen die Wanderungen bieten, gewähren können. Zur Zeit
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Das Renthier.
haben eine Menge Anderer Dieſes und Jenes berichtet, und ſomit kann die Naturgeſchichte des Ren-
thieres als ziemlich abgeſchloſſen betrachtet werden. Jch ſelbſt habe die wilden Rudel und die zahmen
Herden beobachten können und bin dadurch in den Stand geſetzt worden, aus eigener Anſchauung zu
ſprechen. Sehr Vieles habe ich auch von meinem alten Jäger Erik Swenſen und von anderen
glaubwürdigen Norwegern erfahren.
Der hohe Norden der alten, und, wenn man das amerikaniſche Renthier zu unſerer Art
zählt, auch die nördlichſten Gegenden der neuen Welt, ſind die Heimat des Ren. Es findet ſich in
allen Ländern nördlich des 60. Grades; ſteigt aber in manchen Gegenden ſogar bis zum 52. Grad
nördlicher Breite herab. Wild trifft man es noch auf den Alpengebirgen Skandinaviens und
Lapplands, in Finnland, im ganzen nördlichen Sibirien, in Grönland und auf den nördlich-
ſten Gebirgen des feſtländiſchen Amerika. Auch auf Spitzbergen lebt es, und auf Jsland iſt
es, nachdem es vor ungefähr hundert Jahren dort eingeführt wurde, vollſtändig verwildert und hat
ſich bereits in namhafter Anzahl über alle Gebirge der Jnſel verbreitet. Jn Norwegen fand ich es
auf dem Dovre-Fjeld noch in ziemlicher Anzahl vor: nach der Verſicherung meines alten Erik ſollen
mindeſtens 4000 Stück allein auf dieſem Gebirgsſtock leben. Aber es kommt auch auf den Hoch-
gebirgen des Bergener Stifts vor und reicht dort ſicherlich bis zum 60. Grad nördlicher
Breite herab.
Das Renthier iſt ein echtes Alpenkind, wie die Gemſe, und findet ſich nur auf den baumloſen
mit Mos und wenigen Alpenpflanzen beſtandenen, breiten Rücken der nordiſchen Gebirge, welche die
Eingeborenen ſo bezeichnend „Fjelds‟ nennen. Niemals ſteigt es bis in den Waldgürtel herab,
wie es überhaupt ängſtlich die Waldungen meidet. Jn Norwegen iſt ein Gürtel zwiſchen 2500 bis
6000 Fuß ſein gewöhnlicher Aufenthalt. Die kahlen Bergebenen, namentlich Halden, zwiſchen
deren Geſtein einzelne Pflanzen wachſen, oder jene weiten Ebenen, welche dünn mit Renthier-
flechten überſponnen ſind, müſſen als Standorte dieſes Wildes angeſehen werden, und nur
dann, wenn es von einem Höhenzuge nach dem anderen ſtreift, trollt es über eine der ſumpfigen,
moraſtähnlichen, niederen Flächen hinweg; aber auch bei ſolchen Wanderungen vermeidet es noch
ängſtlich den Wald. Pallas gibt an, daß es im nördlichen Sibirien zuweilen in Waldungen vor-
komme, und auch von Wrangel beſtätigt Dies. Von beiden Schriftſtellern erfahren wir, daß es in
Sibirien große, regelmäßige Wanderungen ausführt. „Gegen Ende des Mai‟, ſagt Wrangel,
„verläßt das wilde Renthier in großen Herden die Wälder, wo es den Winter über einigen Schutz
gegen die grimmige Kälte ſucht, und zieht nach den nördlichen Flächen, theils, weil es dort beſſere
Nahrung auf der Mosfläche findet, theils aber auch, um den Fliegen und Mücken zu entgehen,
welche mit Eintritt des Frühlings in ungeheuren Schwärmen die ganze Luft verfinſtern. Der
Frühlingszug iſt für die dortigen Völkerſchaften nicht vortheilhaft; denn in dieſer Jahreszeit ſind die
Thiere mager und durch die Stiche der Kerbthiere ganz mit Beulen und Wunden bedeckt; im Auguſt
und September aber, wo die Renthiere wieder aus der Ebene in die Wälder zurückkehren, ſind ſie
geſund und wohl genährt und geben eine ſchmackhafte, kräftige Speiſe. Jn guten Jahren beſteht der
Renthierzug aus mehreren Tauſenden, welche, obgleich ſie in Herden von zwei- bis dreihundert
Stücken gehen, ſich doch immer einander ziemlich nahe bleiben, ſo daß das Ganze eine ungeheure
Maſſe ausmacht. Jhr Weg iſt ſtets unabänderlich derſelbe. Zum Uebergang über den Fluß
wählen ſie eine Stelle, wo an dem Ufer ein trockener Thalweg hinabführt und an dem gegenüber-
ſtehenden eine flache Sandbank ihnen das Hinaufkommen erleichtert. Hier drängt ſich jede einzelne
Herde dicht zuſammen, und die ganze Oberfläche bedeckt ſich mit ſchwimmenden Thieren.‟ An dem
Baranicha in Sibirien ſah Wrangel zwei unabſehbare Herden wandernder Renthiere, welche mit
ihren hohen Geweihen wandelnden Wäldern gleichen. Die Züge währten zwei Stunden.
Jn Norwegen wandern die Thiere nicht, ſondern ſtreichen höchſtens von einem Gebirgsrücken
auf den anderen, wie weit, iſt nicht ermittelt. Jene Gebirge ſind aber auch ſo beſchaffen, daß ſie
ihnen alle Vortheile, welche den ſibiriſchen die Wanderungen bieten, gewähren können. Zur Zeit
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/461>, abgerufen am 23.11.2024.
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