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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Hirsche. -- Der Edelhirsch.

Alle Bewegungen des Edelwilds sind leicht, zierlich und anstandsvoll; namentlich der Hirsch
zeichnet sich durch seine edle Haltung aus. Der gewöhnliche Gang fördert hinlänglich; im Trollen
bewegt sich das Wild sehr schnell und im Lauf mit fast unglaublicher Geschwindigkeit. Beim Trollen
streckt es den Hals weit nach vorn, im Galopp legt es ihn mehr nach rückwärts. Ungeheure Sätze
werden mit spielender Leichtigkeit ausgeführt, Hindernisse aller Art ohne Bedenken überwunden, im
Nothfall breite Ströme, ja selbst -- in Norwegen oft genug -- Meeresarme ohne Besinnen über-
schwommen. Den Jäger fesselt jede Bewegung des Thieres, jedes Zeichen, welches es bei der Spur
zurückläßt, oder welches überhaupt von seinem Vorhandensein Kunde gibt. Schon seit alten Zeiten
sind alle Merkmale, welche den Hirsch bekunden, genau beobachtet worden. Der geübte Jäger lernt
nach kurzer Prüfung mit unfehlbarer Sicherheit aus der blosen Fährte, ob sie von einem Hirsch oder
von einem Thier herrührt; er schätzt nach ihr ziemlich richtig das Alter des Hirsches. Die Anzeichen
werden gerechte genannt, wenn sie untrüglich sind, und der Jäger spricht nach ihnen den Hirsch
an.
Die Alten kannten 72 solcher Zeichen; Dietrich aus dem Winckell glaubt, daß man diese auf
27 herabsetzen kann. Jch will nur einige von diesen anführen. Der Schrank oder das Schränken
besteht darin, daß, wenn der Hirsch feist ist, die Tritte des rechten und linken Laufes nicht gerade
hinter, sondern neben einander kommen; an der Weite des Schrittes erkennt man die Schwere des
Hirsches. Der Schritt kennzeichnet den Hirsch, weil die Eindrücke der Füße weiter von einander
stehen, als bei dem Thier; schreitet er weiter, als 21/2 Fuß aus, so kann er schon ein Geweih von
zehn Enden tragen. Der Burgstall oder das Grimmen ist eine kleine, gewölbte Erhebung in der
Mitte des Trittes, der Beitritt, der Eindruck des Hinterlaufes neben dem Tritt des Vorderlaufes;
er gehört dem feisten Hirsch an. Der Kreuztritt entsteht, wenn der Hirsch soweit ausschreitet,
daß der Tritt des Hinterlaufes in den zu stehen kommt, welchen der Vorderlauf zurückließ: das Thier
geht niemals in dieser Weise. Das Ballenzeichen bildet sich, wenn die Ballen an allen vier
Tritten ausgedrückt sind, das Blenden, wenn der Hirsch mit der Hinterschale fast genau in die
Vorderfährte tritt. Die Stümpfe deuten auf die stumpfere Form der Schale des Hirsches, während
die eines alten Thieres spitzer sind. Das Fädlein ist ein kleiner, schmaler, erhabener Längsstrich
zwischen den beiden Schalen, das Jnsigel, ein von der Schale abgeworfener Ballen Erde, welchen
der Hirsch bei feuchtem Wetter aufgenommen hat, der Abtritt, ein Eindruck auf Rasen, welcher
die Halme abgeschnitten hat (das Thier zerquetscht sie blos), der Einschlag, die Pflanzenblätter und
Halme, welche der Hirsch zwischen den Schalen aufnahm und auf harten Boden fallen ließ, der
Schloßtritt, der erste Eindruck, welchen der Hirsch macht, wenn er sich aus dem Bett erhebt etc.
Zu diesen gerechten Zeichen kommen nun noch die Himmelsspur, d. h. die Merkmale, welche der
Hirsch beim Fegen an Bäumen zurückgelassen hat u. a. m. Man sieht aus diesen Angaben, wie
genau die Jäger das Edelwild beobachten; denn man muß nur bedenken, welche lange Erfahrung
dazu gehört, um mit Sicherheit sagen zu können, daß diese Zeichen nur vom Hirsch, nicht aber vom
Thiere herrühren können. Für den Ungeübten dürfte es schwer sein, selbst wenn er die Schritte des
Hirsches und des alten Thieres neben einander gesehen hat, sie ein paar Schritte davon wieder zu
unterscheiden.

Unter den Sinnen des Edelwilds sind Gehör, Geruch und Gesicht vorzüglich ausgebildet, wie
jeder Jäger oft genug zu seinem Aerger erfahren muß. Es wird allgemein behauptet, daß das Wild
auch in Entfernungen von vier- bis sechshundert Schritt einen Menschen wittern kann, und nach
Dem, was ich an dem Renthier beobachten konnte, wage ich nicht mehr, an jener Behauptung zu
zweifeln. Auch das Gehör ist außerordentlich scharf; ihm entgeht nicht das geringste Geräusch, wel-
ches im Walde laut wird. Manche Töne scheinen einen höchst angenehmen Eindruck auf das Roth-
wild zu machen: so hat man beobachtet, daß es sich durch die Klänge des Waldhorns, der Schalmei
und der Flöte oft herbeilocken oder wenigstens zum Stillstand bringen läßt.

Wahrscheinlich ist das Edelwild deshalb so furchtsam, weil es erfahrungsmäßig den Menschen
als seinen schlimmsten Feind kennt und dessen Furchtbarkeit würdigen gelernt hat. An Orten, wo es

Die Hirſche. — Der Edelhirſch.

Alle Bewegungen des Edelwilds ſind leicht, zierlich und anſtandsvoll; namentlich der Hirſch
zeichnet ſich durch ſeine edle Haltung aus. Der gewöhnliche Gang fördert hinlänglich; im Trollen
bewegt ſich das Wild ſehr ſchnell und im Lauf mit faſt unglaublicher Geſchwindigkeit. Beim Trollen
ſtreckt es den Hals weit nach vorn, im Galopp legt es ihn mehr nach rückwärts. Ungeheure Sätze
werden mit ſpielender Leichtigkeit ausgeführt, Hinderniſſe aller Art ohne Bedenken überwunden, im
Nothfall breite Ströme, ja ſelbſt — in Norwegen oft genug — Meeresarme ohne Beſinnen über-
ſchwommen. Den Jäger feſſelt jede Bewegung des Thieres, jedes Zeichen, welches es bei der Spur
zurückläßt, oder welches überhaupt von ſeinem Vorhandenſein Kunde gibt. Schon ſeit alten Zeiten
ſind alle Merkmale, welche den Hirſch bekunden, genau beobachtet worden. Der geübte Jäger lernt
nach kurzer Prüfung mit unfehlbarer Sicherheit aus der bloſen Fährte, ob ſie von einem Hirſch oder
von einem Thier herrührt; er ſchätzt nach ihr ziemlich richtig das Alter des Hirſches. Die Anzeichen
werden gerechte genannt, wenn ſie untrüglich ſind, und der Jäger ſpricht nach ihnen den Hirſch
an.
Die Alten kannten 72 ſolcher Zeichen; Dietrich aus dem Winckell glaubt, daß man dieſe auf
27 herabſetzen kann. Jch will nur einige von dieſen anführen. Der Schrank oder das Schränken
beſteht darin, daß, wenn der Hirſch feiſt iſt, die Tritte des rechten und linken Laufes nicht gerade
hinter, ſondern neben einander kommen; an der Weite des Schrittes erkennt man die Schwere des
Hirſches. Der Schritt kennzeichnet den Hirſch, weil die Eindrücke der Füße weiter von einander
ſtehen, als bei dem Thier; ſchreitet er weiter, als 2½ Fuß aus, ſo kann er ſchon ein Geweih von
zehn Enden tragen. Der Burgſtall oder das Grimmen iſt eine kleine, gewölbte Erhebung in der
Mitte des Trittes, der Beitritt, der Eindruck des Hinterlaufes neben dem Tritt des Vorderlaufes;
er gehört dem feiſten Hirſch an. Der Kreuztritt entſteht, wenn der Hirſch ſoweit ausſchreitet,
daß der Tritt des Hinterlaufes in den zu ſtehen kommt, welchen der Vorderlauf zurückließ: das Thier
geht niemals in dieſer Weiſe. Das Ballenzeichen bildet ſich, wenn die Ballen an allen vier
Tritten ausgedrückt ſind, das Blenden, wenn der Hirſch mit der Hinterſchale faſt genau in die
Vorderfährte tritt. Die Stümpfe deuten auf die ſtumpfere Form der Schale des Hirſches, während
die eines alten Thieres ſpitzer ſind. Das Fädlein iſt ein kleiner, ſchmaler, erhabener Längsſtrich
zwiſchen den beiden Schalen, das Jnſigel, ein von der Schale abgeworfener Ballen Erde, welchen
der Hirſch bei feuchtem Wetter aufgenommen hat, der Abtritt, ein Eindruck auf Raſen, welcher
die Halme abgeſchnitten hat (das Thier zerquetſcht ſie blos), der Einſchlag, die Pflanzenblätter und
Halme, welche der Hirſch zwiſchen den Schalen aufnahm und auf harten Boden fallen ließ, der
Schloßtritt, der erſte Eindruck, welchen der Hirſch macht, wenn er ſich aus dem Bett erhebt ꝛc.
Zu dieſen gerechten Zeichen kommen nun noch die Himmelsſpur, d. h. die Merkmale, welche der
Hirſch beim Fegen an Bäumen zurückgelaſſen hat u. a. m. Man ſieht aus dieſen Angaben, wie
genau die Jäger das Edelwild beobachten; denn man muß nur bedenken, welche lange Erfahrung
dazu gehört, um mit Sicherheit ſagen zu können, daß dieſe Zeichen nur vom Hirſch, nicht aber vom
Thiere herrühren können. Für den Ungeübten dürfte es ſchwer ſein, ſelbſt wenn er die Schritte des
Hirſches und des alten Thieres neben einander geſehen hat, ſie ein paar Schritte davon wieder zu
unterſcheiden.

Unter den Sinnen des Edelwilds ſind Gehör, Geruch und Geſicht vorzüglich ausgebildet, wie
jeder Jäger oft genug zu ſeinem Aerger erfahren muß. Es wird allgemein behauptet, daß das Wild
auch in Entfernungen von vier- bis ſechshundert Schritt einen Menſchen wittern kann, und nach
Dem, was ich an dem Renthier beobachten konnte, wage ich nicht mehr, an jener Behauptung zu
zweifeln. Auch das Gehör iſt außerordentlich ſcharf; ihm entgeht nicht das geringſte Geräuſch, wel-
ches im Walde laut wird. Manche Töne ſcheinen einen höchſt angenehmen Eindruck auf das Roth-
wild zu machen: ſo hat man beobachtet, daß es ſich durch die Klänge des Waldhorns, der Schalmei
und der Flöte oft herbeilocken oder wenigſtens zum Stillſtand bringen läßt.

Wahrſcheinlich iſt das Edelwild deshalb ſo furchtſam, weil es erfahrungsmäßig den Menſchen
als ſeinen ſchlimmſten Feind kennt und deſſen Furchtbarkeit würdigen gelernt hat. An Orten, wo es

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[454/0480] Die Hirſche. — Der Edelhirſch. Alle Bewegungen des Edelwilds ſind leicht, zierlich und anſtandsvoll; namentlich der Hirſch zeichnet ſich durch ſeine edle Haltung aus. Der gewöhnliche Gang fördert hinlänglich; im Trollen bewegt ſich das Wild ſehr ſchnell und im Lauf mit faſt unglaublicher Geſchwindigkeit. Beim Trollen ſtreckt es den Hals weit nach vorn, im Galopp legt es ihn mehr nach rückwärts. Ungeheure Sätze werden mit ſpielender Leichtigkeit ausgeführt, Hinderniſſe aller Art ohne Bedenken überwunden, im Nothfall breite Ströme, ja ſelbſt — in Norwegen oft genug — Meeresarme ohne Beſinnen über- ſchwommen. Den Jäger feſſelt jede Bewegung des Thieres, jedes Zeichen, welches es bei der Spur zurückläßt, oder welches überhaupt von ſeinem Vorhandenſein Kunde gibt. Schon ſeit alten Zeiten ſind alle Merkmale, welche den Hirſch bekunden, genau beobachtet worden. Der geübte Jäger lernt nach kurzer Prüfung mit unfehlbarer Sicherheit aus der bloſen Fährte, ob ſie von einem Hirſch oder von einem Thier herrührt; er ſchätzt nach ihr ziemlich richtig das Alter des Hirſches. Die Anzeichen werden gerechte genannt, wenn ſie untrüglich ſind, und der Jäger ſpricht nach ihnen den Hirſch an. Die Alten kannten 72 ſolcher Zeichen; Dietrich aus dem Winckell glaubt, daß man dieſe auf 27 herabſetzen kann. Jch will nur einige von dieſen anführen. Der Schrank oder das Schränken beſteht darin, daß, wenn der Hirſch feiſt iſt, die Tritte des rechten und linken Laufes nicht gerade hinter, ſondern neben einander kommen; an der Weite des Schrittes erkennt man die Schwere des Hirſches. Der Schritt kennzeichnet den Hirſch, weil die Eindrücke der Füße weiter von einander ſtehen, als bei dem Thier; ſchreitet er weiter, als 2½ Fuß aus, ſo kann er ſchon ein Geweih von zehn Enden tragen. Der Burgſtall oder das Grimmen iſt eine kleine, gewölbte Erhebung in der Mitte des Trittes, der Beitritt, der Eindruck des Hinterlaufes neben dem Tritt des Vorderlaufes; er gehört dem feiſten Hirſch an. Der Kreuztritt entſteht, wenn der Hirſch ſoweit ausſchreitet, daß der Tritt des Hinterlaufes in den zu ſtehen kommt, welchen der Vorderlauf zurückließ: das Thier geht niemals in dieſer Weiſe. Das Ballenzeichen bildet ſich, wenn die Ballen an allen vier Tritten ausgedrückt ſind, das Blenden, wenn der Hirſch mit der Hinterſchale faſt genau in die Vorderfährte tritt. Die Stümpfe deuten auf die ſtumpfere Form der Schale des Hirſches, während die eines alten Thieres ſpitzer ſind. Das Fädlein iſt ein kleiner, ſchmaler, erhabener Längsſtrich zwiſchen den beiden Schalen, das Jnſigel, ein von der Schale abgeworfener Ballen Erde, welchen der Hirſch bei feuchtem Wetter aufgenommen hat, der Abtritt, ein Eindruck auf Raſen, welcher die Halme abgeſchnitten hat (das Thier zerquetſcht ſie blos), der Einſchlag, die Pflanzenblätter und Halme, welche der Hirſch zwiſchen den Schalen aufnahm und auf harten Boden fallen ließ, der Schloßtritt, der erſte Eindruck, welchen der Hirſch macht, wenn er ſich aus dem Bett erhebt ꝛc. Zu dieſen gerechten Zeichen kommen nun noch die Himmelsſpur, d. h. die Merkmale, welche der Hirſch beim Fegen an Bäumen zurückgelaſſen hat u. a. m. Man ſieht aus dieſen Angaben, wie genau die Jäger das Edelwild beobachten; denn man muß nur bedenken, welche lange Erfahrung dazu gehört, um mit Sicherheit ſagen zu können, daß dieſe Zeichen nur vom Hirſch, nicht aber vom Thiere herrühren können. Für den Ungeübten dürfte es ſchwer ſein, ſelbſt wenn er die Schritte des Hirſches und des alten Thieres neben einander geſehen hat, ſie ein paar Schritte davon wieder zu unterſcheiden. Unter den Sinnen des Edelwilds ſind Gehör, Geruch und Geſicht vorzüglich ausgebildet, wie jeder Jäger oft genug zu ſeinem Aerger erfahren muß. Es wird allgemein behauptet, daß das Wild auch in Entfernungen von vier- bis ſechshundert Schritt einen Menſchen wittern kann, und nach Dem, was ich an dem Renthier beobachten konnte, wage ich nicht mehr, an jener Behauptung zu zweifeln. Auch das Gehör iſt außerordentlich ſcharf; ihm entgeht nicht das geringſte Geräuſch, wel- ches im Walde laut wird. Manche Töne ſcheinen einen höchſt angenehmen Eindruck auf das Roth- wild zu machen: ſo hat man beobachtet, daß es ſich durch die Klänge des Waldhorns, der Schalmei und der Flöte oft herbeilocken oder wenigſtens zum Stillſtand bringen läßt. Wahrſcheinlich iſt das Edelwild deshalb ſo furchtſam, weil es erfahrungsmäßig den Menſchen als ſeinen ſchlimmſten Feind kennt und deſſen Furchtbarkeit würdigen gelernt hat. An Orten, wo es

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/480>, abgerufen am 23.11.2024.