müßte man wirklich nicht viel Sinn für Naturschönheiten haben, wollte man den Anblick nicht über- aus anziehend finden." Man begegnet der Girafe hauptsächlich da, wo unzählige, verwitterte Stämme vorkommen, welche, Dank den Flechten, die auf ihnen sich ausbreiten, oft dem langen Hals einer Girafe täuschend ähneln. "Oft bin ich," fährt der genannte Jäger fort, "über die Anwesen- heit eines ganzen Trupps von Girafen in Zweifel gewesen, bis ich zu meinem Fernglase Zuflucht nahm; sogar meine halbwilden Begleiter mußten bekennen, daß ihre scharfen, geübten Augen zu- weilen getäuscht wurden; denn sie sahen bald jene verwitterten Stämme für Girafen an und verwech- selten wiederum wirkliche Girafen mit den hochbejahrten Bäumen."
Gewöhnlich trifft man die Girafe in kleinen Trupps von 6 bis 8 Stück; da, wo sich das edle Thier aber sicher weiß, kommt es häufig vor. Cumming spricht von Herden, welche aus 30 bis 40 Stück bestanden haben, meint aber, daß 16 als durchschnittliche Zahl betrachtet werden muß; ich habe das stolze Wild nur ein Mal, und zwar zu Dreien, gesehen, und in Kordofahn auch immer blos von schwachen Trupps reden hören.
Alle Bewegungen der Girafe haben etwas Sonderbares. Der Gang ist ein langsamer und ge- messener Paßschritt, der Lauf wegen des auffallenden Mißverhältnisses der vorderen zur hinteren Höhe und der Höhe zur Länge ein merkwürdig schwerfälliger, lahmer und plumper Galopp, welcher aber, Dank der Weite jedes einzelnen Sprunges, außerordentlich fördert. Wegen der Größe und Schwere des Vordertheils ist das Thier nicht im Stande, sich durch die Kraft der Muskeln allein vorn zu heben; dazu muß eine Zurückbeugung des langen Halses behilflich sein: erst wenn es den Schwerpunkt mehr nach hinten gerückt hat, wird es ihm möglich, zur Sprungbewegung von der Erde loszukommen. Die Girafe springt, ohne die Vorderbeine zu biegen, und setzt sie mit einer gleich- zeitigen Bewegung des Halses nach vorn steif auf; mit einer neuen Bewegung des Halses erfolgt dann der Nachsprung der Hinterfüße. So bewegt sich, wie Lichtenstein sagt, der Hals der sprin- genden Girafe "im steten Hin- und Herschwung, wie der Mast eines auf den hohen Wellen tanzen- den Schiffes". Während der Flucht schlägt sie sich mit dem langen Schwanze wie mit einer Reitgerte klatschend über den Rücken; auch dreht sie den Kopf mit den klugen, schönen Augen oft rückwärts, um nach ihren Verfolgern hinzusehen. Es gehört ein sehr gutes Pferd dazu, einer eilig laufenden Girafe nachzukommen, und besonders schwer ist es, sie auf die Dauer zu verfolgen, weil alle übrigen Thiere fast regelmäßig eher ermüden, als sie. Bei ruhigem Gange nimmt sich die Girafe entschieden am vortheilbastesten aus: sie hat dann etwas sehr Würdiges und Anmuthiges.
Höchst eigenthümlich ist eine Stellung, welche das Thier annimmt, wenn es Etwas von dem Boden aufnehmen, oder wenn es trinken will. Jn vielen Beschreibungen wird behauptet, daß die Girafe zu diesem Ende auf die vorderen Fußwurzelgelenke (Knie) niederfalle. Dies ist aber falsch. Sie bewirkt die Erniedrigung ihres Vordertheils, indem sie beide Vorderläufe soweit aus einander stellt, daß sie bequem mit dem langen Halse auf den Boden herabreichen kann. Wer diese Stellung nicht selbst gesehen hat, hält sie geradezu für unmöglich, und ich habe deshalb unseren Zeichner, Herrn Kretschmer, gebeten, die Girafe des amsterdamer Thiergartens in der betreffenden Stellung auf- zunehmen.
Gewöhnlich ruht die Girafe nur während der Nachtzeit. Zu diesem Ende senkt sie sich zuerst auf die Beuggelenke der Vorderbeine, knickt hierauf die Hinterbeine zusammen und legt sich endlich auf die Brust, wie das Kamel. Während des Schlafes liegt sie zum Theil auf der Seite und schlägt dabei beide oder nur eins ihrer Vorderbeine ein, den Hals wendet sie rückwärts, den Kopf läßt sie gern auf den Hinterschenkeln ruhen. Jhr Schlaf ist sehr leise und währt nur kurze Zeit. Sie kann auch viele Tage lang den Schlaf entbehren und scheint sich dann stehend auszuruhen.
Es versteht sich ganz von selbst, daß die Nahrung der Girafe im Einklange steht mit ihrer Ge- stalt und ihrem Wesen. Das Thier ist nicht geeignet, Gras vom Boden abzuweiden, umsomehr aber befähigt, das Laub von den Bäumen zu pflücken. Hierbei unterstützt es seine ungemein beweg- liche Zunge ganz wesentlich. Wie bekannt, gebrauchen die meisten Wiederkäuer die Zunge zum Ab-
Die Girafe.
müßte man wirklich nicht viel Sinn für Naturſchönheiten haben, wollte man den Anblick nicht über- aus anziehend finden.‟ Man begegnet der Girafe hauptſächlich da, wo unzählige, verwitterte Stämme vorkommen, welche, Dank den Flechten, die auf ihnen ſich ausbreiten, oft dem langen Hals einer Girafe täuſchend ähneln. „Oft bin ich,‟ fährt der genannte Jäger fort, „über die Anweſen- heit eines ganzen Trupps von Girafen in Zweifel geweſen, bis ich zu meinem Fernglaſe Zuflucht nahm; ſogar meine halbwilden Begleiter mußten bekennen, daß ihre ſcharfen, geübten Augen zu- weilen getäuſcht wurden; denn ſie ſahen bald jene verwitterten Stämme für Girafen an und verwech- ſelten wiederum wirkliche Girafen mit den hochbejahrten Bäumen.‟
Gewöhnlich trifft man die Girafe in kleinen Trupps von 6 bis 8 Stück; da, wo ſich das edle Thier aber ſicher weiß, kommt es häufig vor. Cumming ſpricht von Herden, welche aus 30 bis 40 Stück beſtanden haben, meint aber, daß 16 als durchſchnittliche Zahl betrachtet werden muß; ich habe das ſtolze Wild nur ein Mal, und zwar zu Dreien, geſehen, und in Kordofahn auch immer blos von ſchwachen Trupps reden hören.
Alle Bewegungen der Girafe haben etwas Sonderbares. Der Gang iſt ein langſamer und ge- meſſener Paßſchritt, der Lauf wegen des auffallenden Mißverhältniſſes der vorderen zur hinteren Höhe und der Höhe zur Länge ein merkwürdig ſchwerfälliger, lahmer und plumper Galopp, welcher aber, Dank der Weite jedes einzelnen Sprunges, außerordentlich fördert. Wegen der Größe und Schwere des Vordertheils iſt das Thier nicht im Stande, ſich durch die Kraft der Muskeln allein vorn zu heben; dazu muß eine Zurückbeugung des langen Halſes behilflich ſein: erſt wenn es den Schwerpunkt mehr nach hinten gerückt hat, wird es ihm möglich, zur Sprungbewegung von der Erde loszukommen. Die Girafe ſpringt, ohne die Vorderbeine zu biegen, und ſetzt ſie mit einer gleich- zeitigen Bewegung des Halſes nach vorn ſteif auf; mit einer neuen Bewegung des Halſes erfolgt dann der Nachſprung der Hinterfüße. So bewegt ſich, wie Lichtenſtein ſagt, der Hals der ſprin- genden Girafe „im ſteten Hin- und Herſchwung, wie der Maſt eines auf den hohen Wellen tanzen- den Schiffes‟. Während der Flucht ſchlägt ſie ſich mit dem langen Schwanze wie mit einer Reitgerte klatſchend über den Rücken; auch dreht ſie den Kopf mit den klugen, ſchönen Augen oft rückwärts, um nach ihren Verfolgern hinzuſehen. Es gehört ein ſehr gutes Pferd dazu, einer eilig laufenden Girafe nachzukommen, und beſonders ſchwer iſt es, ſie auf die Dauer zu verfolgen, weil alle übrigen Thiere faſt regelmäßig eher ermüden, als ſie. Bei ruhigem Gange nimmt ſich die Girafe entſchieden am vortheilbaſteſten aus: ſie hat dann etwas ſehr Würdiges und Anmuthiges.
Höchſt eigenthümlich iſt eine Stellung, welche das Thier annimmt, wenn es Etwas von dem Boden aufnehmen, oder wenn es trinken will. Jn vielen Beſchreibungen wird behauptet, daß die Girafe zu dieſem Ende auf die vorderen Fußwurzelgelenke (Knie) niederfalle. Dies iſt aber falſch. Sie bewirkt die Erniedrigung ihres Vordertheils, indem ſie beide Vorderläufe ſoweit aus einander ſtellt, daß ſie bequem mit dem langen Halſe auf den Boden herabreichen kann. Wer dieſe Stellung nicht ſelbſt geſehen hat, hält ſie geradezu für unmöglich, und ich habe deshalb unſeren Zeichner, Herrn Kretſchmer, gebeten, die Girafe des amſterdamer Thiergartens in der betreffenden Stellung auf- zunehmen.
Gewöhnlich ruht die Girafe nur während der Nachtzeit. Zu dieſem Ende ſenkt ſie ſich zuerſt auf die Beuggelenke der Vorderbeine, knickt hierauf die Hinterbeine zuſammen und legt ſich endlich auf die Bruſt, wie das Kamel. Während des Schlafes liegt ſie zum Theil auf der Seite und ſchlägt dabei beide oder nur eins ihrer Vorderbeine ein, den Hals wendet ſie rückwärts, den Kopf läßt ſie gern auf den Hinterſchenkeln ruhen. Jhr Schlaf iſt ſehr leiſe und währt nur kurze Zeit. Sie kann auch viele Tage lang den Schlaf entbehren und ſcheint ſich dann ſtehend auszuruhen.
Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß die Nahrung der Girafe im Einklange ſteht mit ihrer Ge- ſtalt und ihrem Weſen. Das Thier iſt nicht geeignet, Gras vom Boden abzuweiden, umſomehr aber befähigt, das Laub von den Bäumen zu pflücken. Hierbei unterſtützt es ſeine ungemein beweg- liche Zunge ganz weſentlich. Wie bekannt, gebrauchen die meiſten Wiederkäuer die Zunge zum Ab-
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[491/0519]
Die Girafe.
müßte man wirklich nicht viel Sinn für Naturſchönheiten haben, wollte man den Anblick nicht über-
aus anziehend finden.‟ Man begegnet der Girafe hauptſächlich da, wo unzählige, verwitterte
Stämme vorkommen, welche, Dank den Flechten, die auf ihnen ſich ausbreiten, oft dem langen Hals
einer Girafe täuſchend ähneln. „Oft bin ich,‟ fährt der genannte Jäger fort, „über die Anweſen-
heit eines ganzen Trupps von Girafen in Zweifel geweſen, bis ich zu meinem Fernglaſe Zuflucht
nahm; ſogar meine halbwilden Begleiter mußten bekennen, daß ihre ſcharfen, geübten Augen zu-
weilen getäuſcht wurden; denn ſie ſahen bald jene verwitterten Stämme für Girafen an und verwech-
ſelten wiederum wirkliche Girafen mit den hochbejahrten Bäumen.‟
Gewöhnlich trifft man die Girafe in kleinen Trupps von 6 bis 8 Stück; da, wo ſich das
edle Thier aber ſicher weiß, kommt es häufig vor. Cumming ſpricht von Herden, welche aus 30
bis 40 Stück beſtanden haben, meint aber, daß 16 als durchſchnittliche Zahl betrachtet werden
muß; ich habe das ſtolze Wild nur ein Mal, und zwar zu Dreien, geſehen, und in Kordofahn auch
immer blos von ſchwachen Trupps reden hören.
Alle Bewegungen der Girafe haben etwas Sonderbares. Der Gang iſt ein langſamer und ge-
meſſener Paßſchritt, der Lauf wegen des auffallenden Mißverhältniſſes der vorderen zur hinteren
Höhe und der Höhe zur Länge ein merkwürdig ſchwerfälliger, lahmer und plumper Galopp, welcher
aber, Dank der Weite jedes einzelnen Sprunges, außerordentlich fördert. Wegen der Größe und
Schwere des Vordertheils iſt das Thier nicht im Stande, ſich durch die Kraft der Muskeln allein
vorn zu heben; dazu muß eine Zurückbeugung des langen Halſes behilflich ſein: erſt wenn es den
Schwerpunkt mehr nach hinten gerückt hat, wird es ihm möglich, zur Sprungbewegung von der Erde
loszukommen. Die Girafe ſpringt, ohne die Vorderbeine zu biegen, und ſetzt ſie mit einer gleich-
zeitigen Bewegung des Halſes nach vorn ſteif auf; mit einer neuen Bewegung des Halſes erfolgt
dann der Nachſprung der Hinterfüße. So bewegt ſich, wie Lichtenſtein ſagt, der Hals der ſprin-
genden Girafe „im ſteten Hin- und Herſchwung, wie der Maſt eines auf den hohen Wellen tanzen-
den Schiffes‟. Während der Flucht ſchlägt ſie ſich mit dem langen Schwanze wie mit einer Reitgerte
klatſchend über den Rücken; auch dreht ſie den Kopf mit den klugen, ſchönen Augen oft rückwärts, um
nach ihren Verfolgern hinzuſehen. Es gehört ein ſehr gutes Pferd dazu, einer eilig laufenden Girafe
nachzukommen, und beſonders ſchwer iſt es, ſie auf die Dauer zu verfolgen, weil alle übrigen Thiere
faſt regelmäßig eher ermüden, als ſie. Bei ruhigem Gange nimmt ſich die Girafe entſchieden am
vortheilbaſteſten aus: ſie hat dann etwas ſehr Würdiges und Anmuthiges.
Höchſt eigenthümlich iſt eine Stellung, welche das Thier annimmt, wenn es Etwas von dem
Boden aufnehmen, oder wenn es trinken will. Jn vielen Beſchreibungen wird behauptet, daß die
Girafe zu dieſem Ende auf die vorderen Fußwurzelgelenke (Knie) niederfalle. Dies iſt aber falſch.
Sie bewirkt die Erniedrigung ihres Vordertheils, indem ſie beide Vorderläufe ſoweit aus einander
ſtellt, daß ſie bequem mit dem langen Halſe auf den Boden herabreichen kann. Wer dieſe Stellung
nicht ſelbſt geſehen hat, hält ſie geradezu für unmöglich, und ich habe deshalb unſeren Zeichner, Herrn
Kretſchmer, gebeten, die Girafe des amſterdamer Thiergartens in der betreffenden Stellung auf-
zunehmen.
Gewöhnlich ruht die Girafe nur während der Nachtzeit. Zu dieſem Ende ſenkt ſie ſich zuerſt
auf die Beuggelenke der Vorderbeine, knickt hierauf die Hinterbeine zuſammen und legt ſich endlich
auf die Bruſt, wie das Kamel. Während des Schlafes liegt ſie zum Theil auf der Seite und ſchlägt
dabei beide oder nur eins ihrer Vorderbeine ein, den Hals wendet ſie rückwärts, den Kopf läßt ſie
gern auf den Hinterſchenkeln ruhen. Jhr Schlaf iſt ſehr leiſe und währt nur kurze Zeit. Sie kann
auch viele Tage lang den Schlaf entbehren und ſcheint ſich dann ſtehend auszuruhen.
Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß die Nahrung der Girafe im Einklange ſteht mit ihrer Ge-
ſtalt und ihrem Weſen. Das Thier iſt nicht geeignet, Gras vom Boden abzuweiden, umſomehr
aber befähigt, das Laub von den Bäumen zu pflücken. Hierbei unterſtützt es ſeine ungemein beweg-
liche Zunge ganz weſentlich. Wie bekannt, gebrauchen die meiſten Wiederkäuer die Zunge zum Ab-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/519>, abgerufen am 23.11.2024.
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