Jm Sommer besteht die Nahrung der Gemse aus den besten Alpenpflanzen, namentlich aus denen, welche nahe der Schneegrenze wachsen: aus jungen Trieben, dem Alpenröschen, selbst jungen Schößlingen von Nadelbäumen, z. B. Tannen und Fichten. Jm Winter muß ihr das lange Gras, welches über den Schnee hervorragt, und allerlei Mos und Flechten genügen. Sie ist an- spruchslos und kann lange hungern; Wasser aber ist für sie ein Bedürfniß, und Salz eine ganz besondere Leckerei.
Wenn die Weide gut ist, nimmt die Gemse beträchtlich an Umfang und Gewicht zu. Sie wird dann so feist, daß eine dicke Lage von Fett sie umhüllt. Nach der Brunstzeit magert sie wieder ab, und wenn tiefer Schnee den Boden deckt, hat sie große Noth, um ihr Leben zu fristen. Dann soll sie sich nach den Wäldern herabziehen und die langen, bartartigen, von den Zweigen hängenden Flechten abfressen. Unter solchen Umständen nimmt sie im Schutz der sogenannten Wetter- oder Schirmtannen ihren Winteraufenthalt und geht, sobald der Schnee es ihr erlaubt, mühselig von einem Baume zum anderen. Jn den Heuschobern, welche man in einigen Alpengegenden im Freien aufbewahrt, finden sie zuweilen eine höchst willkommene Nahrung; oft sammeln sich ganze Gesell- schaften in der Nähe solcher Speicher und fressen so große Löcher hinein, daß sie sich in dem Heue gleich gegen die Stürme decken können. Sehr unwahrscheinlich ist es, daß Gemsen im Winter ver- hungern, obgleich Tschudi von einem Berner Jäger versichert wurde, daß der Mann einmal im Frühjahr unter einer großen Schirmtanne fünf eingeschneite und verhungerte Gemsen gefunden habe. "Sie hätten," sagte der Mann aus, "den Schnee unter den Bäumen überall eingetreten, außerhalb der Zweige sei er aber ihren Kräften zu mächtig gewesen." Dagegen soll es öfters vorkommen, daß sich eine oder die andere Gemse beim Abäßen der Flechten einer Tanne mit den Hörnern in den Aesten verwickelt, hängen bleibt und verhungert. Tschudi erinnert sich selbst, ein derartig emporge- richtetes Gemsengeripp gesehen zu haben.
Die Brunstzeit der Gemsen fällt in den Spätherbst. Um diese Zeit stellen sich die alten Böcke, welche bisjetzt einsiedlerisch gelebt haben, beim Rudel ein, und nun beginnt ein sehr lustiges und fröhliches Leben. Man sieht oft ganze Rudel stundenlang in muthwilligen Sprüngen sich ergötzen. Auf den schmalsten Felsenkämmen treiben sich die Thiere lustig umher, und die liebesbrünstigen Böcke bestehen jetzt ganz ernsthafte Kämpfe. Dabei geht es oft schlimm ab: bald wird Eine über die Felsen hinausgedrängt, bald von einem stärkeren, welcher beim Anstoßen mit den Hörnern kräftig von oben nach unten haut, tödtlich verwundet. Die Jungen führen blos Scheinkämpfe aus. Sie üben sich gleichsam für den Streit, welchen das Alter ihnen sicher bringt. "Auf den schmalsten Felsenkanten," sagt Tschudi, "treiben sie sich umher, suchen sich mit den Hörnchen herunter zu stoßen, spiegeln an einem Ort den Angriff vor, um sich an einem anderen bloßzustellen und necken sich auf die muth- willigste Art. Gewahren sie aber, wenn auch in noch so großer Entfernung, einen Menschen, so ändert sich die ganze Sache. Alle Thiere, vom ältesten Bock bis zum kleinsten Zicklein, sind zur Flucht bereit, rührt sich auch der Beobachter nicht, so kehrt doch die gute Laune nicht wieder. Lang- sam ziehen sie bergan und lassen keinen Augenblick die mögliche Gefahr aus dem Auge. Gewöhn- lich gehen sie dann ganz in die Höhe. Am Rande der oberen Felsenkrone stellt sich das ganze Rudel neben einander auf, schaut unaufhörlich in die Tiefe und bewegt den weißen glänzenden Kopf fort- während bedenklich in den Lüften umher. Jm Sommer sieht man dann die Gemsen schwerlich wieder in demselben Gebiete; im Herbst, wo die Gebirge einsamer sind, jagen sie oft im Galopp die Alpen- gehänge herunter und beziehen die alten Spielplätze." So geht das fröhliche Spielen und Necken fort durch die ganze Brunstzeit, bis endlich die Stärkeren sich ihre Ziegen erstritten haben. Diese fol- gen willig dem Männchen und leben mit ihm bis zum Eintritt des hohen Winters allein; dann kehren beide zur Herde zurück.
Zwanzig Wochen nach der Paarung, gewöhnlich Ende Aprils bis Ende Mais, werfen die Ziegen ein, seltener zwei Junge unter einem trockenen, verborgenen Felsenvorsprunge. Wenige Stunden nach der Geburt folgt das Junge der Mutter nach, und nach ein paar Tagen ist es bereits
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Die Gemſe.
Jm Sommer beſteht die Nahrung der Gemſe aus den beſten Alpenpflanzen, namentlich aus denen, welche nahe der Schneegrenze wachſen: aus jungen Trieben, dem Alpenröschen, ſelbſt jungen Schößlingen von Nadelbäumen, z. B. Tannen und Fichten. Jm Winter muß ihr das lange Gras, welches über den Schnee hervorragt, und allerlei Mos und Flechten genügen. Sie iſt an- ſpruchslos und kann lange hungern; Waſſer aber iſt für ſie ein Bedürfniß, und Salz eine ganz beſondere Leckerei.
Wenn die Weide gut iſt, nimmt die Gemſe beträchtlich an Umfang und Gewicht zu. Sie wird dann ſo feiſt, daß eine dicke Lage von Fett ſie umhüllt. Nach der Brunſtzeit magert ſie wieder ab, und wenn tiefer Schnee den Boden deckt, hat ſie große Noth, um ihr Leben zu friſten. Dann ſoll ſie ſich nach den Wäldern herabziehen und die langen, bartartigen, von den Zweigen hängenden Flechten abfreſſen. Unter ſolchen Umſtänden nimmt ſie im Schutz der ſogenannten Wetter- oder Schirmtannen ihren Winteraufenthalt und geht, ſobald der Schnee es ihr erlaubt, mühſelig von einem Baume zum anderen. Jn den Heuſchobern, welche man in einigen Alpengegenden im Freien aufbewahrt, finden ſie zuweilen eine höchſt willkommene Nahrung; oft ſammeln ſich ganze Geſell- ſchaften in der Nähe ſolcher Speicher und freſſen ſo große Löcher hinein, daß ſie ſich in dem Heue gleich gegen die Stürme decken können. Sehr unwahrſcheinlich iſt es, daß Gemſen im Winter ver- hungern, obgleich Tſchudi von einem Berner Jäger verſichert wurde, daß der Mann einmal im Frühjahr unter einer großen Schirmtanne fünf eingeſchneite und verhungerte Gemſen gefunden habe. „Sie hätten,‟ ſagte der Mann aus, „den Schnee unter den Bäumen überall eingetreten, außerhalb der Zweige ſei er aber ihren Kräften zu mächtig geweſen.‟ Dagegen ſoll es öfters vorkommen, daß ſich eine oder die andere Gemſe beim Abäßen der Flechten einer Tanne mit den Hörnern in den Aeſten verwickelt, hängen bleibt und verhungert. Tſchudi erinnert ſich ſelbſt, ein derartig emporge- richtetes Gemſengeripp geſehen zu haben.
Die Brunſtzeit der Gemſen fällt in den Spätherbſt. Um dieſe Zeit ſtellen ſich die alten Böcke, welche bisjetzt einſiedleriſch gelebt haben, beim Rudel ein, und nun beginnt ein ſehr luſtiges und fröhliches Leben. Man ſieht oft ganze Rudel ſtundenlang in muthwilligen Sprüngen ſich ergötzen. Auf den ſchmalſten Felſenkämmen treiben ſich die Thiere luſtig umher, und die liebesbrünſtigen Böcke beſtehen jetzt ganz ernſthafte Kämpfe. Dabei geht es oft ſchlimm ab: bald wird Eine über die Felſen hinausgedrängt, bald von einem ſtärkeren, welcher beim Anſtoßen mit den Hörnern kräftig von oben nach unten haut, tödtlich verwundet. Die Jungen führen blos Scheinkämpfe aus. Sie üben ſich gleichſam für den Streit, welchen das Alter ihnen ſicher bringt. „Auf den ſchmalſten Felſenkanten,‟ ſagt Tſchudi, „treiben ſie ſich umher, ſuchen ſich mit den Hörnchen herunter zu ſtoßen, ſpiegeln an einem Ort den Angriff vor, um ſich an einem anderen bloßzuſtellen und necken ſich auf die muth- willigſte Art. Gewahren ſie aber, wenn auch in noch ſo großer Entfernung, einen Menſchen, ſo ändert ſich die ganze Sache. Alle Thiere, vom älteſten Bock bis zum kleinſten Zicklein, ſind zur Flucht bereit, rührt ſich auch der Beobachter nicht, ſo kehrt doch die gute Laune nicht wieder. Lang- ſam ziehen ſie bergan und laſſen keinen Augenblick die mögliche Gefahr aus dem Auge. Gewöhn- lich gehen ſie dann ganz in die Höhe. Am Rande der oberen Felſenkrone ſtellt ſich das ganze Rudel neben einander auf, ſchaut unaufhörlich in die Tiefe und bewegt den weißen glänzenden Kopf fort- während bedenklich in den Lüften umher. Jm Sommer ſieht man dann die Gemſen ſchwerlich wieder in demſelben Gebiete; im Herbſt, wo die Gebirge einſamer ſind, jagen ſie oft im Galopp die Alpen- gehänge herunter und beziehen die alten Spielplätze.‟ So geht das fröhliche Spielen und Necken fort durch die ganze Brunſtzeit, bis endlich die Stärkeren ſich ihre Ziegen erſtritten haben. Dieſe fol- gen willig dem Männchen und leben mit ihm bis zum Eintritt des hohen Winters allein; dann kehren beide zur Herde zurück.
Zwanzig Wochen nach der Paarung, gewöhnlich Ende Aprils bis Ende Mais, werfen die Ziegen ein, ſeltener zwei Junge unter einem trockenen, verborgenen Felſenvorſprunge. Wenige Stunden nach der Geburt folgt das Junge der Mutter nach, und nach ein paar Tagen iſt es bereits
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Die Gemſe.
Jm Sommer beſteht die Nahrung der Gemſe aus den beſten Alpenpflanzen, namentlich aus
denen, welche nahe der Schneegrenze wachſen: aus jungen Trieben, dem Alpenröschen, ſelbſt
jungen Schößlingen von Nadelbäumen, z. B. Tannen und Fichten. Jm Winter muß ihr das lange
Gras, welches über den Schnee hervorragt, und allerlei Mos und Flechten genügen. Sie iſt an-
ſpruchslos und kann lange hungern; Waſſer aber iſt für ſie ein Bedürfniß, und Salz eine ganz
beſondere Leckerei.
Wenn die Weide gut iſt, nimmt die Gemſe beträchtlich an Umfang und Gewicht zu. Sie wird
dann ſo feiſt, daß eine dicke Lage von Fett ſie umhüllt. Nach der Brunſtzeit magert ſie wieder ab,
und wenn tiefer Schnee den Boden deckt, hat ſie große Noth, um ihr Leben zu friſten. Dann
ſoll ſie ſich nach den Wäldern herabziehen und die langen, bartartigen, von den Zweigen hängenden
Flechten abfreſſen. Unter ſolchen Umſtänden nimmt ſie im Schutz der ſogenannten Wetter- oder
Schirmtannen ihren Winteraufenthalt und geht, ſobald der Schnee es ihr erlaubt, mühſelig von
einem Baume zum anderen. Jn den Heuſchobern, welche man in einigen Alpengegenden im Freien
aufbewahrt, finden ſie zuweilen eine höchſt willkommene Nahrung; oft ſammeln ſich ganze Geſell-
ſchaften in der Nähe ſolcher Speicher und freſſen ſo große Löcher hinein, daß ſie ſich in dem Heue
gleich gegen die Stürme decken können. Sehr unwahrſcheinlich iſt es, daß Gemſen im Winter ver-
hungern, obgleich Tſchudi von einem Berner Jäger verſichert wurde, daß der Mann einmal im
Frühjahr unter einer großen Schirmtanne fünf eingeſchneite und verhungerte Gemſen gefunden habe.
„Sie hätten,‟ ſagte der Mann aus, „den Schnee unter den Bäumen überall eingetreten, außerhalb
der Zweige ſei er aber ihren Kräften zu mächtig geweſen.‟ Dagegen ſoll es öfters vorkommen, daß
ſich eine oder die andere Gemſe beim Abäßen der Flechten einer Tanne mit den Hörnern in den
Aeſten verwickelt, hängen bleibt und verhungert. Tſchudi erinnert ſich ſelbſt, ein derartig emporge-
richtetes Gemſengeripp geſehen zu haben.
Die Brunſtzeit der Gemſen fällt in den Spätherbſt. Um dieſe Zeit ſtellen ſich die alten Böcke,
welche bisjetzt einſiedleriſch gelebt haben, beim Rudel ein, und nun beginnt ein ſehr luſtiges und
fröhliches Leben. Man ſieht oft ganze Rudel ſtundenlang in muthwilligen Sprüngen ſich ergötzen.
Auf den ſchmalſten Felſenkämmen treiben ſich die Thiere luſtig umher, und die liebesbrünſtigen Böcke
beſtehen jetzt ganz ernſthafte Kämpfe. Dabei geht es oft ſchlimm ab: bald wird Eine über die Felſen
hinausgedrängt, bald von einem ſtärkeren, welcher beim Anſtoßen mit den Hörnern kräftig von oben
nach unten haut, tödtlich verwundet. Die Jungen führen blos Scheinkämpfe aus. Sie üben ſich
gleichſam für den Streit, welchen das Alter ihnen ſicher bringt. „Auf den ſchmalſten Felſenkanten,‟
ſagt Tſchudi, „treiben ſie ſich umher, ſuchen ſich mit den Hörnchen herunter zu ſtoßen, ſpiegeln an
einem Ort den Angriff vor, um ſich an einem anderen bloßzuſtellen und necken ſich auf die muth-
willigſte Art. Gewahren ſie aber, wenn auch in noch ſo großer Entfernung, einen Menſchen, ſo
ändert ſich die ganze Sache. Alle Thiere, vom älteſten Bock bis zum kleinſten Zicklein, ſind zur
Flucht bereit, rührt ſich auch der Beobachter nicht, ſo kehrt doch die gute Laune nicht wieder. Lang-
ſam ziehen ſie bergan und laſſen keinen Augenblick die mögliche Gefahr aus dem Auge. Gewöhn-
lich gehen ſie dann ganz in die Höhe. Am Rande der oberen Felſenkrone ſtellt ſich das ganze Rudel
neben einander auf, ſchaut unaufhörlich in die Tiefe und bewegt den weißen glänzenden Kopf fort-
während bedenklich in den Lüften umher. Jm Sommer ſieht man dann die Gemſen ſchwerlich wieder
in demſelben Gebiete; im Herbſt, wo die Gebirge einſamer ſind, jagen ſie oft im Galopp die Alpen-
gehänge herunter und beziehen die alten Spielplätze.‟ So geht das fröhliche Spielen und Necken
fort durch die ganze Brunſtzeit, bis endlich die Stärkeren ſich ihre Ziegen erſtritten haben. Dieſe fol-
gen willig dem Männchen und leben mit ihm bis zum Eintritt des hohen Winters allein; dann kehren
beide zur Herde zurück.
Zwanzig Wochen nach der Paarung, gewöhnlich Ende Aprils bis Ende Mais, werfen die
Ziegen ein, ſeltener zwei Junge unter einem trockenen, verborgenen Felſenvorſprunge. Wenige
Stunden nach der Geburt folgt das Junge der Mutter nach, und nach ein paar Tagen iſt es bereits
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 531. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/561>, abgerufen am 23.11.2024.
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