Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Ziegen.
chen leben einsiedlerisch; sonst halten sie sich stets mit anderen ihrer Art treu zusammen. Sie sind
thätig bei Tag und bei Nacht, obgleich sie dem Tage den Vorzug geben. Jhre Eigenschaften offen-
baren sich bei jeder Gelegenheit. Sie sind überaus geschickt im Klettern und Springen und bekunden
dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Entschiedenheit, welche ihnen alle Ehre machen. Sichern
Tritts überschreiten sie die gefährlichsten Stellen im Gebirge; schwindelfrei stehen sie auf den schmal-
sten Kanten, und gleichgiltig schauen sie in die furchtbarsten Abgründe hinab; ja, sie äßen sich noch
auf den bedenklichsten Stellen mit einer Tollkühnheit ohne Gleichen. Dabei besitzen sie eine verhält-
nißmäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer. Somit sind sie ganz geeignet, ein armes
Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erwor-
ben werden muß. Neckisch und spiellustig unter sich, zeigen sie sich vorsichtig und scheu anderen
Geschöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem geringsten Geräusch, obwohl man nicht eben
behaupten darf, daß es die Furcht ist, welche sie in die Flucht schreckt; denn im Nothfalle kämpfen
sie muthig und tapfer und mit einer gewissen Rauflust, welche ihnen sehr gut ansteht.

Die saftigsten Gebirgspflanzen aller Art bilden ihre Nahrung. Sie sind sehr lecker und suchen
sich nur die besten Bissen heraus, verstehen es auch vortrefflich, immer Orte auszuwählen, welche
ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb von einer Gegend in die andere, oft durch viele
Meilen weit. Alle Arten sind große Freunde vom Salz und suchen deshalb Stellen, wo diese
Leckerei sich findet, gierig auf. Wasser ist für sie ein Bedürfniß, daher meiden sie Gegenden,
in denen es weder Quellen, noch Bäche gibt. Jhre höheren Sinne scheinen ziemlich gleich entwickelt
zu sein. Sie äugen, vernehmen und wittern sehr scharf, manche Arten wirklich auf unglaubliche
Entfernungen hin. Das Gesicht ist wahrscheinlich noch ihr stumpfster Sinn. Jhre geistigen Fähig-
keiten stehen, wie schon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß sie als kluge, geweckte
Thiere bezeichnen. Das Gedächtniß ist zwar nicht besonders; aber Erfahrung witzigt sie doch bald in
hohem Grade, und dann wissen sie mit vieler Schlauheit und List drohenden Gefahren zu begegnen.
Manche Arten muß man launenhaft nennen, und andere sind wirklich boshaft und tückisch.

Die Zahl ihrer Jungen schwankt zwischen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten werfen höchstens
zwei, die gezähmten nur in sehr seltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit
offenen Augen zur Welt und sind schon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen.
Die wildlebenden Arten laufen schon am ersten Tage ihres Lebens ebenso kühn und sicher auf den Ge-
birgen umher, wie ihre Eltern.

Man darf wohl sagen, daß alle Ziegen nützliche Thiere sind. Der Schaden, welchen sie an-
richten, ist so gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen sehr bedeutend, nament-
lich in solchen Gegenden, wo man die Ziegen gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren
Schätze sonst ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens unseres Erdtheils sind
förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an solchen Wänden das Gras abweiden, wo keines
Menschen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden wie von den zahmen Arten kann man fast
Alles benutzen, Fleisch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen sind nicht blos der
Armen liebster Freund, sondern im Süden auch die beinahe ausschließlichen Milcherzeuger.

Noch gegenwärtig herrscht großer Streit unter den Naturforschern, wie viele Arten die bisjetzt
bekannten Ziegen bilden. Die Unterscheidung dieser Thiere ist außerordentlich schwer, weil die Arten
sich sehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens große Hindernisse entgegentreten. Soviel scheint
festzustehen, daß der Verbreitungskreis der Einzelnen ein verhältnißmäßig sehr beschränkter ist, und
daß somit jedes größere Gebirge, welches Mitglieder unserer Familie beherbergt, auch seine eigenen
Arten besitzt. Diese Arten lassen sich in drei verschiedene Sippen ordnen, in die der Steinböcke,
Ziegen
und Halbziegen. Noch können wir nicht sagen, in wieweit sich das Leben der einzelnen
Arten unterscheidet; denn bisjetzt sind wir blos im Stande, das Treiben von einzelnen in allgemei-
nen Umrissen zu zeichnen: schwebt doch selbst über der Herkunft und dem Freileben unserer Hausziege
noch ein unerklärliches Dunkel!

Die Ziegen.
chen leben einſiedleriſch; ſonſt halten ſie ſich ſtets mit anderen ihrer Art treu zuſammen. Sie ſind
thätig bei Tag und bei Nacht, obgleich ſie dem Tage den Vorzug geben. Jhre Eigenſchaften offen-
baren ſich bei jeder Gelegenheit. Sie ſind überaus geſchickt im Klettern und Springen und bekunden
dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Entſchiedenheit, welche ihnen alle Ehre machen. Sichern
Tritts überſchreiten ſie die gefährlichſten Stellen im Gebirge; ſchwindelfrei ſtehen ſie auf den ſchmal-
ſten Kanten, und gleichgiltig ſchauen ſie in die furchtbarſten Abgründe hinab; ja, ſie äßen ſich noch
auf den bedenklichſten Stellen mit einer Tollkühnheit ohne Gleichen. Dabei beſitzen ſie eine verhält-
nißmäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer. Somit ſind ſie ganz geeignet, ein armes
Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erwor-
ben werden muß. Neckiſch und ſpielluſtig unter ſich, zeigen ſie ſich vorſichtig und ſcheu anderen
Geſchöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem geringſten Geräuſch, obwohl man nicht eben
behaupten darf, daß es die Furcht iſt, welche ſie in die Flucht ſchreckt; denn im Nothfalle kämpfen
ſie muthig und tapfer und mit einer gewiſſen Raufluſt, welche ihnen ſehr gut anſteht.

Die ſaftigſten Gebirgspflanzen aller Art bilden ihre Nahrung. Sie ſind ſehr lecker und ſuchen
ſich nur die beſten Biſſen heraus, verſtehen es auch vortrefflich, immer Orte auszuwählen, welche
ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb von einer Gegend in die andere, oft durch viele
Meilen weit. Alle Arten ſind große Freunde vom Salz und ſuchen deshalb Stellen, wo dieſe
Leckerei ſich findet, gierig auf. Waſſer iſt für ſie ein Bedürfniß, daher meiden ſie Gegenden,
in denen es weder Quellen, noch Bäche gibt. Jhre höheren Sinne ſcheinen ziemlich gleich entwickelt
zu ſein. Sie äugen, vernehmen und wittern ſehr ſcharf, manche Arten wirklich auf unglaubliche
Entfernungen hin. Das Geſicht iſt wahrſcheinlich noch ihr ſtumpfſter Sinn. Jhre geiſtigen Fähig-
keiten ſtehen, wie ſchon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß ſie als kluge, geweckte
Thiere bezeichnen. Das Gedächtniß iſt zwar nicht beſonders; aber Erfahrung witzigt ſie doch bald in
hohem Grade, und dann wiſſen ſie mit vieler Schlauheit und Liſt drohenden Gefahren zu begegnen.
Manche Arten muß man launenhaft nennen, und andere ſind wirklich boshaft und tückiſch.

Die Zahl ihrer Jungen ſchwankt zwiſchen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten werfen höchſtens
zwei, die gezähmten nur in ſehr ſeltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit
offenen Augen zur Welt und ſind ſchon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen.
Die wildlebenden Arten laufen ſchon am erſten Tage ihres Lebens ebenſo kühn und ſicher auf den Ge-
birgen umher, wie ihre Eltern.

Man darf wohl ſagen, daß alle Ziegen nützliche Thiere ſind. Der Schaden, welchen ſie an-
richten, iſt ſo gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen ſehr bedeutend, nament-
lich in ſolchen Gegenden, wo man die Ziegen gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren
Schätze ſonſt ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens unſeres Erdtheils ſind
förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an ſolchen Wänden das Gras abweiden, wo keines
Menſchen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden wie von den zahmen Arten kann man faſt
Alles benutzen, Fleiſch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen ſind nicht blos der
Armen liebſter Freund, ſondern im Süden auch die beinahe ausſchließlichen Milcherzeuger.

Noch gegenwärtig herrſcht großer Streit unter den Naturforſchern, wie viele Arten die bisjetzt
bekannten Ziegen bilden. Die Unterſcheidung dieſer Thiere iſt außerordentlich ſchwer, weil die Arten
ſich ſehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens große Hinderniſſe entgegentreten. Soviel ſcheint
feſtzuſtehen, daß der Verbreitungskreis der Einzelnen ein verhältnißmäßig ſehr beſchränkter iſt, und
daß ſomit jedes größere Gebirge, welches Mitglieder unſerer Familie beherbergt, auch ſeine eigenen
Arten beſitzt. Dieſe Arten laſſen ſich in drei verſchiedene Sippen ordnen, in die der Steinböcke,
Ziegen
und Halbziegen. Noch können wir nicht ſagen, in wieweit ſich das Leben der einzelnen
Arten unterſcheidet; denn bisjetzt ſind wir blos im Stande, das Treiben von einzelnen in allgemei-
nen Umriſſen zu zeichnen: ſchwebt doch ſelbſt über der Herkunft und dem Freileben unſerer Hausziege
noch ein unerklärliches Dunkel!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0596" n="566"/><fw place="top" type="header">Die Ziegen.</fw><lb/>
chen leben ein&#x017F;iedleri&#x017F;ch; &#x017F;on&#x017F;t halten &#x017F;ie &#x017F;ich &#x017F;tets mit anderen ihrer Art treu zu&#x017F;ammen. Sie &#x017F;ind<lb/>
thätig bei Tag und bei Nacht, obgleich &#x017F;ie dem Tage den Vorzug geben. Jhre Eigen&#x017F;chaften offen-<lb/>
baren &#x017F;ich bei jeder Gelegenheit. Sie &#x017F;ind überaus ge&#x017F;chickt im Klettern und Springen und bekunden<lb/>
dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Ent&#x017F;chiedenheit, welche ihnen alle Ehre machen. Sichern<lb/>
Tritts über&#x017F;chreiten &#x017F;ie die gefährlich&#x017F;ten Stellen im Gebirge; &#x017F;chwindelfrei &#x017F;tehen &#x017F;ie auf den &#x017F;chmal-<lb/>
&#x017F;ten Kanten, und gleichgiltig &#x017F;chauen &#x017F;ie in die furchtbar&#x017F;ten Abgründe hinab; ja, &#x017F;ie äßen &#x017F;ich noch<lb/>
auf den bedenklich&#x017F;ten Stellen mit einer Tollkühnheit ohne Gleichen. Dabei be&#x017F;itzen &#x017F;ie eine verhält-<lb/>
nißmäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer. Somit &#x017F;ind &#x017F;ie ganz geeignet, ein armes<lb/>
Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erwor-<lb/>
ben werden muß. Necki&#x017F;ch und &#x017F;piellu&#x017F;tig unter &#x017F;ich, zeigen &#x017F;ie &#x017F;ich vor&#x017F;ichtig und &#x017F;cheu anderen<lb/>
Ge&#x017F;chöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem gering&#x017F;ten Geräu&#x017F;ch, obwohl man nicht eben<lb/>
behaupten darf, daß es die Furcht i&#x017F;t, welche &#x017F;ie in die Flucht &#x017F;chreckt; denn im Nothfalle kämpfen<lb/>
&#x017F;ie muthig und tapfer und mit einer gewi&#x017F;&#x017F;en Rauflu&#x017F;t, welche ihnen &#x017F;ehr gut an&#x017F;teht.</p><lb/>
              <p>Die &#x017F;aftig&#x017F;ten Gebirgspflanzen aller Art bilden ihre Nahrung. Sie &#x017F;ind &#x017F;ehr lecker und &#x017F;uchen<lb/>
&#x017F;ich nur die be&#x017F;ten Bi&#x017F;&#x017F;en heraus, ver&#x017F;tehen es auch vortrefflich, immer Orte auszuwählen, welche<lb/>
ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb von einer Gegend in die andere, oft durch viele<lb/>
Meilen weit. Alle Arten &#x017F;ind große Freunde vom Salz und &#x017F;uchen deshalb Stellen, wo die&#x017F;e<lb/>
Leckerei &#x017F;ich findet, gierig auf. Wa&#x017F;&#x017F;er i&#x017F;t für &#x017F;ie ein Bedürfniß, daher meiden &#x017F;ie Gegenden,<lb/>
in denen es weder Quellen, noch Bäche gibt. Jhre höheren Sinne &#x017F;cheinen ziemlich gleich entwickelt<lb/>
zu &#x017F;ein. Sie äugen, vernehmen und wittern &#x017F;ehr &#x017F;charf, manche Arten wirklich auf unglaubliche<lb/>
Entfernungen hin. Das Ge&#x017F;icht i&#x017F;t wahr&#x017F;cheinlich noch ihr &#x017F;tumpf&#x017F;ter Sinn. Jhre gei&#x017F;tigen Fähig-<lb/>
keiten &#x017F;tehen, wie &#x017F;chon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß &#x017F;ie als kluge, geweckte<lb/>
Thiere bezeichnen. Das Gedächtniß i&#x017F;t zwar nicht be&#x017F;onders; aber Erfahrung witzigt &#x017F;ie doch bald in<lb/>
hohem Grade, und dann wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie mit vieler Schlauheit und Li&#x017F;t drohenden Gefahren zu begegnen.<lb/>
Manche Arten muß man launenhaft nennen, und andere &#x017F;ind wirklich boshaft und tücki&#x017F;ch.</p><lb/>
              <p>Die Zahl ihrer Jungen &#x017F;chwankt zwi&#x017F;chen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten werfen höch&#x017F;tens<lb/>
zwei, die gezähmten nur in &#x017F;ehr &#x017F;eltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit<lb/>
offenen Augen zur Welt und &#x017F;ind &#x017F;chon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen.<lb/>
Die wildlebenden Arten laufen &#x017F;chon am er&#x017F;ten Tage ihres Lebens eben&#x017F;o kühn und &#x017F;icher auf den Ge-<lb/>
birgen umher, wie ihre Eltern.</p><lb/>
              <p>Man darf wohl &#x017F;agen, daß alle Ziegen nützliche Thiere &#x017F;ind. Der Schaden, welchen &#x017F;ie an-<lb/>
richten, i&#x017F;t &#x017F;o gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen &#x017F;ehr bedeutend, nament-<lb/>
lich in &#x017F;olchen Gegenden, wo man die Ziegen gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren<lb/>
Schätze &#x017F;on&#x017F;t ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens un&#x017F;eres Erdtheils &#x017F;ind<lb/>
förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an &#x017F;olchen Wänden das Gras abweiden, wo keines<lb/>
Men&#x017F;chen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden wie von den zahmen Arten kann man fa&#x017F;t<lb/>
Alles benutzen, Flei&#x017F;ch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen &#x017F;ind nicht blos der<lb/>
Armen lieb&#x017F;ter Freund, &#x017F;ondern im Süden auch die beinahe aus&#x017F;chließlichen Milcherzeuger.</p><lb/>
              <p>Noch gegenwärtig herr&#x017F;cht großer Streit unter den Naturfor&#x017F;chern, wie viele Arten die bisjetzt<lb/>
bekannten Ziegen bilden. Die Unter&#x017F;cheidung die&#x017F;er Thiere i&#x017F;t außerordentlich &#x017F;chwer, weil die Arten<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;ehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens große Hinderni&#x017F;&#x017F;e entgegentreten. Soviel &#x017F;cheint<lb/>
fe&#x017F;tzu&#x017F;tehen, daß der Verbreitungskreis der Einzelnen ein verhältnißmäßig &#x017F;ehr be&#x017F;chränkter i&#x017F;t, und<lb/>
daß &#x017F;omit jedes größere Gebirge, welches Mitglieder un&#x017F;erer Familie beherbergt, auch &#x017F;eine eigenen<lb/>
Arten be&#x017F;itzt. Die&#x017F;e Arten la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich in drei ver&#x017F;chiedene Sippen ordnen, in die der <hi rendition="#g">Steinböcke,<lb/>
Ziegen</hi> und <hi rendition="#g">Halbziegen.</hi> Noch können wir nicht &#x017F;agen, in wieweit &#x017F;ich das Leben der einzelnen<lb/>
Arten unter&#x017F;cheidet; denn bisjetzt &#x017F;ind wir blos im Stande, das Treiben von einzelnen in allgemei-<lb/>
nen Umri&#x017F;&#x017F;en zu zeichnen: &#x017F;chwebt doch &#x017F;elb&#x017F;t über der Herkunft und dem Freileben un&#x017F;erer Hausziege<lb/>
noch ein unerklärliches Dunkel!</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[566/0596] Die Ziegen. chen leben einſiedleriſch; ſonſt halten ſie ſich ſtets mit anderen ihrer Art treu zuſammen. Sie ſind thätig bei Tag und bei Nacht, obgleich ſie dem Tage den Vorzug geben. Jhre Eigenſchaften offen- baren ſich bei jeder Gelegenheit. Sie ſind überaus geſchickt im Klettern und Springen und bekunden dabei einen Muth, eine Berechnung und eine Entſchiedenheit, welche ihnen alle Ehre machen. Sichern Tritts überſchreiten ſie die gefährlichſten Stellen im Gebirge; ſchwindelfrei ſtehen ſie auf den ſchmal- ſten Kanten, und gleichgiltig ſchauen ſie in die furchtbarſten Abgründe hinab; ja, ſie äßen ſich noch auf den bedenklichſten Stellen mit einer Tollkühnheit ohne Gleichen. Dabei beſitzen ſie eine verhält- nißmäßig ungeheuere Kraft und eine wunderbare Ausdauer. Somit ſind ſie ganz geeignet, ein armes Gebiet zu bewohnen, in welchem jedes Blättchen, jedes Hälmchen unter Kämpfen und Ringen erwor- ben werden muß. Neckiſch und ſpielluſtig unter ſich, zeigen ſie ſich vorſichtig und ſcheu anderen Geſchöpfen gegenüber und fliehen gewöhnlich bei dem geringſten Geräuſch, obwohl man nicht eben behaupten darf, daß es die Furcht iſt, welche ſie in die Flucht ſchreckt; denn im Nothfalle kämpfen ſie muthig und tapfer und mit einer gewiſſen Raufluſt, welche ihnen ſehr gut anſteht. Die ſaftigſten Gebirgspflanzen aller Art bilden ihre Nahrung. Sie ſind ſehr lecker und ſuchen ſich nur die beſten Biſſen heraus, verſtehen es auch vortrefflich, immer Orte auszuwählen, welche ihnen gute Weide bieten, und wandern deshalb von einer Gegend in die andere, oft durch viele Meilen weit. Alle Arten ſind große Freunde vom Salz und ſuchen deshalb Stellen, wo dieſe Leckerei ſich findet, gierig auf. Waſſer iſt für ſie ein Bedürfniß, daher meiden ſie Gegenden, in denen es weder Quellen, noch Bäche gibt. Jhre höheren Sinne ſcheinen ziemlich gleich entwickelt zu ſein. Sie äugen, vernehmen und wittern ſehr ſcharf, manche Arten wirklich auf unglaubliche Entfernungen hin. Das Geſicht iſt wahrſcheinlich noch ihr ſtumpfſter Sinn. Jhre geiſtigen Fähig- keiten ſtehen, wie ſchon angedeutet, auf ziemlich hoher Stufe; man muß ſie als kluge, geweckte Thiere bezeichnen. Das Gedächtniß iſt zwar nicht beſonders; aber Erfahrung witzigt ſie doch bald in hohem Grade, und dann wiſſen ſie mit vieler Schlauheit und Liſt drohenden Gefahren zu begegnen. Manche Arten muß man launenhaft nennen, und andere ſind wirklich boshaft und tückiſch. Die Zahl ihrer Jungen ſchwankt zwiſchen Eins und Vier. Alle wildlebenden Arten werfen höchſtens zwei, die gezähmten nur in ſehr ſeltenen Fällen vier. Die Zicklein kommen ausgebildet und mit offenen Augen zur Welt und ſind ſchon nach wenigen Minuten im Stande, der Alten zu folgen. Die wildlebenden Arten laufen ſchon am erſten Tage ihres Lebens ebenſo kühn und ſicher auf den Ge- birgen umher, wie ihre Eltern. Man darf wohl ſagen, daß alle Ziegen nützliche Thiere ſind. Der Schaden, welchen ſie an- richten, iſt ſo gering, daß er kaum in Betracht kommt, der Nutzen dagegen ſehr bedeutend, nament- lich in ſolchen Gegenden, wo man die Ziegen gebraucht, um Oertlichkeiten auszunutzen, deren Schätze ſonſt ganz verloren gehen würden. Die öden Gebirge des Südens unſeres Erdtheils ſind förmlich bedeckt mit Ziegenherden, welche auch an ſolchen Wänden das Gras abweiden, wo keines Menſchen Fuß Halt gewinnen könnte. Von den wilden wie von den zahmen Arten kann man faſt Alles benutzen, Fleiſch und Fell, Horn und Haar, und die zahmen Ziegen ſind nicht blos der Armen liebſter Freund, ſondern im Süden auch die beinahe ausſchließlichen Milcherzeuger. Noch gegenwärtig herrſcht großer Streit unter den Naturforſchern, wie viele Arten die bisjetzt bekannten Ziegen bilden. Die Unterſcheidung dieſer Thiere iſt außerordentlich ſchwer, weil die Arten ſich ſehr ähneln und der Beobachtung ihres Lebens große Hinderniſſe entgegentreten. Soviel ſcheint feſtzuſtehen, daß der Verbreitungskreis der Einzelnen ein verhältnißmäßig ſehr beſchränkter iſt, und daß ſomit jedes größere Gebirge, welches Mitglieder unſerer Familie beherbergt, auch ſeine eigenen Arten beſitzt. Dieſe Arten laſſen ſich in drei verſchiedene Sippen ordnen, in die der Steinböcke, Ziegen und Halbziegen. Noch können wir nicht ſagen, in wieweit ſich das Leben der einzelnen Arten unterſcheidet; denn bisjetzt ſind wir blos im Stande, das Treiben von einzelnen in allgemei- nen Umriſſen zu zeichnen: ſchwebt doch ſelbſt über der Herkunft und dem Freileben unſerer Hausziege noch ein unerklärliches Dunkel!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/596
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/596>, abgerufen am 23.11.2024.