ist, sind die geeignetsten Monate zu dieser Jagd. Der Jäger, welcher sie betreiben will, muß ein kühner Mann sein, dem es durchaus nicht darauf ankommt, 8 bis 14 Tage lang fern von dem Men- schen und dessen Treiben in der Wildniß zu leben und tagtäglich hunderte von Malen dem Tode in das Auge zu sehen; er muß in jenen eisigen Höhen die Nacht verbringen, und vertraut sein im gan- zen Gebirge. Gewöhnlich gehen ihrer Zwei oder Drei, den Ranzen mit den nothdürftigsten Lebens- mitteln gefüllt, zu solcher Jagd aus; oft schlafen sie auf den Steinen sogar stehend, indem sie sich umschlingen, um nicht in die Abgründe zu stürzen. "Der Steinbock," sagt Tschudi, "läßt sich nicht jagen, wie gewöhnliches Wild. Steht der Jäger nicht höher, als das Thier, welches ihn wit- tert, so ist an keine Schußnähe zu denken. Deshalb muß der Jäger früh auf den höchsten Spitzen sein; mit Tagesanbruch zieht sich auch das Hochwild in die Höhe. Das Uebernachten an der Schnee- grenze, ohne Obdach, oft nur durch Steinetragen und Springen vor dem Erfrieren sich zu schützen, ist wohl ein Tropfen Wermuth im Becher der Jagdlust. Dazu kommen noch die Gefahren der Gletscher, des Versteigens und hundert andere."
Jn einer alten Druckschrift wird erzählt, daß ein Jäger bei der Steinbocksjagd in eine tiefe Eisschrunde fiel, dort in der grauenvollsten Lage in steter Todesfurcht und Todesgefahr viele gräßliche Stunden verlebte und endlich erst mit zerschellten Armen aus Tageslicht gezogen wurde. "Jn diesem unergründlich tiefen Kerker," sagt der Erzähler, "stritten wider ihne das Wasser, die Lufft und das Eis, von welchen Elementen das erste ihne wollte verschlingen, das andere verstecken und durch auf- liegende Schwerkraft verdrucken, das dritte wegen seiner Schlüpferigkeit nicht halten." "Alle Jäger aber versichern," sagt Tschudi, "daß kein Gefühl auf Erden dem gleiche, wenn das weidende Thier sich ihnen schußgerecht zur Beute stelle. Wochenlang ist es verfolgt, belauscht, gespürt, Schritt für Schritt ist der Jäger dem herrlichen Bock nachgeschlichen, den er vielleicht noch nie gesehen; in den kalten Nächten hat die Hoffnung der nahen Beute die zitternden Glieder neu belebt. Endlich sieht er von fern das stattliche Thier mit den gewaltigen Knotenhörnern an der unzugänglichen Felswand lagernd. Jetzt den Wind abgewonnen, stundenlang über eifige Schneefelder geschritten, um ihm in den Rücken zu kommen. Er sieht das Thier nicht; er ahnt aber, daß es in seiner Lage geblieben ist, und endlich ist es umgangen. Behutsam blickt er vor nach dem Felsen, der Bock ist fort; hundert Schritte weiter wiegt er sich, in den Lüften, schnobernd, auf einer Zoll breiten Felsenkante. Mit hochklopfendem Herzen, zitternd vor Hoffnung und Furcht, naht der Jäger, legt den Stutzen auf, der Schuß hallt mächtig durch die todesstille Alpenwelt und der zuckende Bock liegt blutig zwischen den Steinen."
Wahrhaft grauenvoll sind die Erzählungen, welche einzelne Jäger uns hinterlassen haben. Sie kämpfen buchstäblich oft wochenlang fortwährend mit dem Tode; sie leiden alle Qualen, welche ein un- wirthliches, gefahrreiches Land über den Menschen verhängen kann -- und sie verzagen doch nicht! Oft genug kommt es vor, daß das erlegte Thier noch flüchtig fortrennt und in der Todesangst über die furchtbaren Felswände hinabstürzt, da unten zerschellend, und anstatt dem Menschen, nur den Adlern und Geiern zur Beute werdend. Und wenn auch der Jäger glücklich gewesen ist und ein Thier erlegt hat: mit der Erlegung beginnen die Beschwerden von neuem. Der Bock wird auf der Stelle ausgeweidet, um die schwere Last möglichst zu vermindern. Dann bindet man die vier Füße am Knie zusammen und den Kopf mit den schweren Hörnern hinten fest. Die Flinte wird über die rechte Schulter und Brust gehängt, das Thier mit den zusammengebundenen Beinen über die Stirn gelegt; und so tritt der Mann mit seiner gegen zwei Centner schweren Bürde den Rückweg an: -- einen Rückweg, welcher oft genug an steilen Abgründen und an Kanten dahinführt, wo ein einziger Fehltritt Mann und Thier in die gierige Tiefe stürzt. Und weil es nun meistens noch Raubschützen sind, welche auf verbotenen Wegen wandeln, so müssen die Jäger noch anderer Feinde gewärtig sein. Sie müssen, wie Verbrecher, nach allen Seiten hin ausschauen, um der ihnen sonst sicheren Kugel des Jagdberechtigten zu entgehen. So kommt es nur zu oft vor, daß die Steinbocksjäger, anstatt
Der Alpenſteinbock.
iſt, ſind die geeignetſten Monate zu dieſer Jagd. Der Jäger, welcher ſie betreiben will, muß ein kühner Mann ſein, dem es durchaus nicht darauf ankommt, 8 bis 14 Tage lang fern von dem Men- ſchen und deſſen Treiben in der Wildniß zu leben und tagtäglich hunderte von Malen dem Tode in das Auge zu ſehen; er muß in jenen eiſigen Höhen die Nacht verbringen, und vertraut ſein im gan- zen Gebirge. Gewöhnlich gehen ihrer Zwei oder Drei, den Ranzen mit den nothdürftigſten Lebens- mitteln gefüllt, zu ſolcher Jagd aus; oft ſchlafen ſie auf den Steinen ſogar ſtehend, indem ſie ſich umſchlingen, um nicht in die Abgründe zu ſtürzen. „Der Steinbock,‟ ſagt Tſchudi, „läßt ſich nicht jagen, wie gewöhnliches Wild. Steht der Jäger nicht höher, als das Thier, welches ihn wit- tert, ſo iſt an keine Schußnähe zu denken. Deshalb muß der Jäger früh auf den höchſten Spitzen ſein; mit Tagesanbruch zieht ſich auch das Hochwild in die Höhe. Das Uebernachten an der Schnee- grenze, ohne Obdach, oft nur durch Steinetragen und Springen vor dem Erfrieren ſich zu ſchützen, iſt wohl ein Tropfen Wermuth im Becher der Jagdluſt. Dazu kommen noch die Gefahren der Gletſcher, des Verſteigens und hundert andere.‟
Jn einer alten Druckſchrift wird erzählt, daß ein Jäger bei der Steinbocksjagd in eine tiefe Eisſchrunde fiel, dort in der grauenvollſten Lage in ſteter Todesfurcht und Todesgefahr viele gräßliche Stunden verlebte und endlich erſt mit zerſchellten Armen aus Tageslicht gezogen wurde. „Jn dieſem unergründlich tiefen Kerker,‟ ſagt der Erzähler, „ſtritten wider ihne das Waſſer, die Lufft und das Eis, von welchen Elementen das erſte ihne wollte verſchlingen, das andere verſtecken und durch auf- liegende Schwerkraft verdrucken, das dritte wegen ſeiner Schlüpferigkeit nicht halten.‟ „Alle Jäger aber verſichern,‟ ſagt Tſchudi, „daß kein Gefühl auf Erden dem gleiche, wenn das weidende Thier ſich ihnen ſchußgerecht zur Beute ſtelle. Wochenlang iſt es verfolgt, belauſcht, geſpürt, Schritt für Schritt iſt der Jäger dem herrlichen Bock nachgeſchlichen, den er vielleicht noch nie geſehen; in den kalten Nächten hat die Hoffnung der nahen Beute die zitternden Glieder neu belebt. Endlich ſieht er von fern das ſtattliche Thier mit den gewaltigen Knotenhörnern an der unzugänglichen Felswand lagernd. Jetzt den Wind abgewonnen, ſtundenlang über eifige Schneefelder geſchritten, um ihm in den Rücken zu kommen. Er ſieht das Thier nicht; er ahnt aber, daß es in ſeiner Lage geblieben iſt, und endlich iſt es umgangen. Behutſam blickt er vor nach dem Felſen, der Bock iſt fort; hundert Schritte weiter wiegt er ſich, in den Lüften, ſchnobernd, auf einer Zoll breiten Felſenkante. Mit hochklopfendem Herzen, zitternd vor Hoffnung und Furcht, naht der Jäger, legt den Stutzen auf, der Schuß hallt mächtig durch die todesſtille Alpenwelt und der zuckende Bock liegt blutig zwiſchen den Steinen.‟
Wahrhaft grauenvoll ſind die Erzählungen, welche einzelne Jäger uns hinterlaſſen haben. Sie kämpfen buchſtäblich oft wochenlang fortwährend mit dem Tode; ſie leiden alle Qualen, welche ein un- wirthliches, gefahrreiches Land über den Menſchen verhängen kann — und ſie verzagen doch nicht! Oft genug kommt es vor, daß das erlegte Thier noch flüchtig fortrennt und in der Todesangſt über die furchtbaren Felswände hinabſtürzt, da unten zerſchellend, und anſtatt dem Menſchen, nur den Adlern und Geiern zur Beute werdend. Und wenn auch der Jäger glücklich geweſen iſt und ein Thier erlegt hat: mit der Erlegung beginnen die Beſchwerden von neuem. Der Bock wird auf der Stelle ausgeweidet, um die ſchwere Laſt möglichſt zu vermindern. Dann bindet man die vier Füße am Knie zuſammen und den Kopf mit den ſchweren Hörnern hinten feſt. Die Flinte wird über die rechte Schulter und Bruſt gehängt, das Thier mit den zuſammengebundenen Beinen über die Stirn gelegt; und ſo tritt der Mann mit ſeiner gegen zwei Centner ſchweren Bürde den Rückweg an: — einen Rückweg, welcher oft genug an ſteilen Abgründen und an Kanten dahinführt, wo ein einziger Fehltritt Mann und Thier in die gierige Tiefe ſtürzt. Und weil es nun meiſtens noch Raubſchützen ſind, welche auf verbotenen Wegen wandeln, ſo müſſen die Jäger noch anderer Feinde gewärtig ſein. Sie müſſen, wie Verbrecher, nach allen Seiten hin ausſchauen, um der ihnen ſonſt ſicheren Kugel des Jagdberechtigten zu entgehen. So kommt es nur zu oft vor, daß die Steinbocksjäger, anſtatt
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[573/0603]
Der Alpenſteinbock.
iſt, ſind die geeignetſten Monate zu dieſer Jagd. Der Jäger, welcher ſie betreiben will, muß ein
kühner Mann ſein, dem es durchaus nicht darauf ankommt, 8 bis 14 Tage lang fern von dem Men-
ſchen und deſſen Treiben in der Wildniß zu leben und tagtäglich hunderte von Malen dem Tode in
das Auge zu ſehen; er muß in jenen eiſigen Höhen die Nacht verbringen, und vertraut ſein im gan-
zen Gebirge. Gewöhnlich gehen ihrer Zwei oder Drei, den Ranzen mit den nothdürftigſten Lebens-
mitteln gefüllt, zu ſolcher Jagd aus; oft ſchlafen ſie auf den Steinen ſogar ſtehend, indem ſie ſich
umſchlingen, um nicht in die Abgründe zu ſtürzen. „Der Steinbock,‟ ſagt Tſchudi, „läßt ſich
nicht jagen, wie gewöhnliches Wild. Steht der Jäger nicht höher, als das Thier, welches ihn wit-
tert, ſo iſt an keine Schußnähe zu denken. Deshalb muß der Jäger früh auf den höchſten Spitzen
ſein; mit Tagesanbruch zieht ſich auch das Hochwild in die Höhe. Das Uebernachten an der Schnee-
grenze, ohne Obdach, oft nur durch Steinetragen und Springen vor dem Erfrieren ſich zu ſchützen,
iſt wohl ein Tropfen Wermuth im Becher der Jagdluſt. Dazu kommen noch die Gefahren der
Gletſcher, des Verſteigens und hundert andere.‟
Jn einer alten Druckſchrift wird erzählt, daß ein Jäger bei der Steinbocksjagd in eine tiefe
Eisſchrunde fiel, dort in der grauenvollſten Lage in ſteter Todesfurcht und Todesgefahr viele gräßliche
Stunden verlebte und endlich erſt mit zerſchellten Armen aus Tageslicht gezogen wurde. „Jn dieſem
unergründlich tiefen Kerker,‟ ſagt der Erzähler, „ſtritten wider ihne das Waſſer, die Lufft und das
Eis, von welchen Elementen das erſte ihne wollte verſchlingen, das andere verſtecken und durch auf-
liegende Schwerkraft verdrucken, das dritte wegen ſeiner Schlüpferigkeit nicht halten.‟ „Alle Jäger
aber verſichern,‟ ſagt Tſchudi, „daß kein Gefühl auf Erden dem gleiche, wenn das weidende Thier
ſich ihnen ſchußgerecht zur Beute ſtelle. Wochenlang iſt es verfolgt, belauſcht, geſpürt, Schritt für
Schritt iſt der Jäger dem herrlichen Bock nachgeſchlichen, den er vielleicht noch nie geſehen; in den
kalten Nächten hat die Hoffnung der nahen Beute die zitternden Glieder neu belebt. Endlich ſieht er
von fern das ſtattliche Thier mit den gewaltigen Knotenhörnern an der unzugänglichen Felswand
lagernd. Jetzt den Wind abgewonnen, ſtundenlang über eifige Schneefelder geſchritten, um ihm in
den Rücken zu kommen. Er ſieht das Thier nicht; er ahnt aber, daß es in ſeiner Lage geblieben iſt,
und endlich iſt es umgangen. Behutſam blickt er vor nach dem Felſen, der Bock iſt fort; hundert
Schritte weiter wiegt er ſich, in den Lüften, ſchnobernd, auf einer Zoll breiten Felſenkante. Mit
hochklopfendem Herzen, zitternd vor Hoffnung und Furcht, naht der Jäger, legt den Stutzen auf, der
Schuß hallt mächtig durch die todesſtille Alpenwelt und der zuckende Bock liegt blutig zwiſchen den
Steinen.‟
Wahrhaft grauenvoll ſind die Erzählungen, welche einzelne Jäger uns hinterlaſſen haben. Sie
kämpfen buchſtäblich oft wochenlang fortwährend mit dem Tode; ſie leiden alle Qualen, welche ein un-
wirthliches, gefahrreiches Land über den Menſchen verhängen kann — und ſie verzagen doch nicht!
Oft genug kommt es vor, daß das erlegte Thier noch flüchtig fortrennt und in der Todesangſt über
die furchtbaren Felswände hinabſtürzt, da unten zerſchellend, und anſtatt dem Menſchen, nur den
Adlern und Geiern zur Beute werdend. Und wenn auch der Jäger glücklich geweſen iſt und ein
Thier erlegt hat: mit der Erlegung beginnen die Beſchwerden von neuem. Der Bock wird auf der
Stelle ausgeweidet, um die ſchwere Laſt möglichſt zu vermindern. Dann bindet man die vier Füße
am Knie zuſammen und den Kopf mit den ſchweren Hörnern hinten feſt. Die Flinte wird über die
rechte Schulter und Bruſt gehängt, das Thier mit den zuſammengebundenen Beinen über die Stirn
gelegt; und ſo tritt der Mann mit ſeiner gegen zwei Centner ſchweren Bürde den Rückweg an: —
einen Rückweg, welcher oft genug an ſteilen Abgründen und an Kanten dahinführt, wo ein einziger
Fehltritt Mann und Thier in die gierige Tiefe ſtürzt. Und weil es nun meiſtens noch Raubſchützen
ſind, welche auf verbotenen Wegen wandeln, ſo müſſen die Jäger noch anderer Feinde gewärtig ſein.
Sie müſſen, wie Verbrecher, nach allen Seiten hin ausſchauen, um der ihnen ſonſt ſicheren Kugel
des Jagdberechtigten zu entgehen. So kommt es nur zu oft vor, daß die Steinbocksjäger, anſtatt
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/603>, abgerufen am 23.11.2024.
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