Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.Der Wisent. beamten es schützten und zur Winterszeit in einer offenen Futterscheuer mit Nahrung versorgten. Nurhöchst selten fing man einige ein, welche dann gewöhnlich zu Geschenken an fremde Höfe benutzt wur- den. So kamen im Jahre 1717 zwei Stück an den Landgrafen von Hessen-Kassel, an den König Georg von England, und 1738 einige zur Kaiserin Katharine von Rußland. Eine allgemeine Seuche vernichtete im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts den größten Theil dieser Herden, bis endlich der erwähnte Wilddieb dem letzten das Lebenslicht ausblies. Jedenfalls würde es den im Forste von Bialowicza lebenden Wisents nicht anders ergangen sein, als den in Preußen hausenden, hätten der König von Polen und später der Kaiser von Rußland es sich nicht zur Pflicht gemacht, ein so seltenes Thier der Jetztwelt zu erhalten. Derzeit ist der Bestand dieses Wildes im Bialowiczaer Walde immer noch gar nicht unbedeutend. Nach einer im Jahre 1829 vorgenommenen Zählung betrug er 711 Stück, worunter sich 633 ältere befanden; denn nur 48 Kälber waren zur Welt gekommen; im fol- genden Jahre hatten sich die Thiere auf 772 Stück vermehrt, im Jahre 1831 aber wieder auf 657 Stück vermindert in Folge der inzwischen eingetretenen staatlichen Umwälzung. Nach dieser Zeit sind die Schutzgesetze verschärft worden, und die Thiere haben sich demzufolge vermehrt. Pastor Kawall gibt für das Jahr 1853 die Zahl der Bialowiczaer Wisents auf 1543 Stück an. Am Kaukasus ist der Wisent, wenn auch nur in manchen Gegenden, nicht besonders selten, und Bevor ich zur Leibes- und Lebensbeschreibung des gedachten Wildochsen übergehe, muß ich Wenn man die Schriften der alten Naturkundigen mit Aufmerksamkeit durchliest, gelangt man *) Durch ein Versehen des Druckers sind leider auch die auf unserer Abbildung dargestellten Wisents als
"Auerochsen" bezeichnet worden. Der Wiſent. beamten es ſchützten und zur Winterszeit in einer offenen Futterſcheuer mit Nahrung verſorgten. Nurhöchſt ſelten fing man einige ein, welche dann gewöhnlich zu Geſchenken an fremde Höfe benutzt wur- den. So kamen im Jahre 1717 zwei Stück an den Landgrafen von Heſſen-Kaſſel, an den König Georg von England, und 1738 einige zur Kaiſerin Katharine von Rußland. Eine allgemeine Seuche vernichtete im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts den größten Theil dieſer Herden, bis endlich der erwähnte Wilddieb dem letzten das Lebenslicht ausblies. Jedenfalls würde es den im Forſte von Bialowicza lebenden Wiſents nicht anders ergangen ſein, als den in Preußen hauſenden, hätten der König von Polen und ſpäter der Kaiſer von Rußland es ſich nicht zur Pflicht gemacht, ein ſo ſeltenes Thier der Jetztwelt zu erhalten. Derzeit iſt der Beſtand dieſes Wildes im Bialowiczaer Walde immer noch gar nicht unbedeutend. Nach einer im Jahre 1829 vorgenommenen Zählung betrug er 711 Stück, worunter ſich 633 ältere befanden; denn nur 48 Kälber waren zur Welt gekommen; im fol- genden Jahre hatten ſich die Thiere auf 772 Stück vermehrt, im Jahre 1831 aber wieder auf 657 Stück vermindert in Folge der inzwiſchen eingetretenen ſtaatlichen Umwälzung. Nach dieſer Zeit ſind die Schutzgeſetze verſchärft worden, und die Thiere haben ſich demzufolge vermehrt. Paſtor Kawall gibt für das Jahr 1853 die Zahl der Bialowiczaer Wiſents auf 1543 Stück an. Am Kaukaſus iſt der Wiſent, wenn auch nur in manchen Gegenden, nicht beſonders ſelten, und Bevor ich zur Leibes- und Lebensbeſchreibung des gedachten Wildochſen übergehe, muß ich Wenn man die Schriften der alten Naturkundigen mit Aufmerkſamkeit durchlieſt, gelangt man *) Durch ein Verſehen des Druckers ſind leider auch die auf unſerer Abbildung dargeſtellten Wiſents als
„Auerochſen‟ bezeichnet worden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0671" n="637"/><fw place="top" type="header">Der Wiſent.</fw><lb/> beamten es ſchützten und zur Winterszeit in einer offenen Futterſcheuer mit Nahrung verſorgten. Nur<lb/> höchſt ſelten fing man einige ein, welche dann gewöhnlich zu Geſchenken an fremde Höfe benutzt wur-<lb/> den. So kamen im Jahre 1717 zwei Stück an den Landgrafen von Heſſen-Kaſſel, an den König<lb/> Georg von England, und 1738 einige zur Kaiſerin Katharine von Rußland. Eine allgemeine Seuche<lb/> vernichtete im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts den größten Theil dieſer Herden, bis endlich der<lb/> erwähnte Wilddieb dem letzten das Lebenslicht ausblies. 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Der Wiſent.
beamten es ſchützten und zur Winterszeit in einer offenen Futterſcheuer mit Nahrung verſorgten. Nur
höchſt ſelten fing man einige ein, welche dann gewöhnlich zu Geſchenken an fremde Höfe benutzt wur-
den. So kamen im Jahre 1717 zwei Stück an den Landgrafen von Heſſen-Kaſſel, an den König
Georg von England, und 1738 einige zur Kaiſerin Katharine von Rußland. Eine allgemeine Seuche
vernichtete im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts den größten Theil dieſer Herden, bis endlich der
erwähnte Wilddieb dem letzten das Lebenslicht ausblies. Jedenfalls würde es den im Forſte von
Bialowicza lebenden Wiſents nicht anders ergangen ſein, als den in Preußen hauſenden, hätten der
König von Polen und ſpäter der Kaiſer von Rußland es ſich nicht zur Pflicht gemacht, ein ſo ſeltenes
Thier der Jetztwelt zu erhalten. Derzeit iſt der Beſtand dieſes Wildes im Bialowiczaer Walde immer
noch gar nicht unbedeutend. Nach einer im Jahre 1829 vorgenommenen Zählung betrug er 711
Stück, worunter ſich 633 ältere befanden; denn nur 48 Kälber waren zur Welt gekommen; im fol-
genden Jahre hatten ſich die Thiere auf 772 Stück vermehrt, im Jahre 1831 aber wieder auf 657
Stück vermindert in Folge der inzwiſchen eingetretenen ſtaatlichen Umwälzung. Nach dieſer Zeit ſind
die Schutzgeſetze verſchärft worden, und die Thiere haben ſich demzufolge vermehrt. Paſtor Kawall
gibt für das Jahr 1853 die Zahl der Bialowiczaer Wiſents auf 1543 Stück an.
Am Kaukaſus iſt der Wiſent, wenn auch nur in manchen Gegenden, nicht beſonders ſelten, und
noch vor hundert Jahren kam er faſt überall vor; gegenwärtig findet er ſich in Zaadan noch am
häufigſten. Jn Mittelaſien ſoll er noch um den See Koko-Nor heimiſch ſein.
Bevor ich zur Leibes- und Lebensbeſchreibung des gedachten Wildochſen übergehe, muß ich
bemerken, daß ich unter dem Namen Wiſent daſſelbe Thier verſtehe, welches von den meiſten neueren
Schriftſtellern und auch von Naturforſchern Auer oder Auerochs genannt wird. Dem jetzt noch
lebenden Wildochſen des Waldes von Bialowies gebührt einzig und allein der Name Wiſent; denn
mit dem Namen Auer bezeichneten unſere Vorfahren einen von jenem durchaus verſchiedenen
Wildochſen. *)
Wenn man die Schriften der alten Naturkundigen mit Aufmerkſamkeit durchlieſt, gelangt man
ſehr bald zu der Anſicht, daß in früheren Zeiten zwei Rinderarten in Europa neben einander in wil-
dem Zuſtand gelebt haben. Alle älteren Schriftſteller unterſcheiden die beiden Thiere ſehr genau und
verwechſeln die ihnen zukommenden Namen nie. Seneca, Plinius, Albertus Magnus, Tho-
mas Cantapratenſis, Johann von Marignola, Bartholomäus Anglicus, Paul
Zidek, von Herberſtain und Geßner, altdeutſche Geſetze und Jagdberichte aus vergangenen
Jahrhunderten ſprechen von zwei gleichzeitig lebenden Wildochſen und beſchreiben die beiden mit hin-
länglicher Genauigkeit. Da wir den Wiſent noch zur Vergleichung vor uns haben und an ihm ſehen
können, daß die ihm geltende Beſchreibung naturgetreu iſt, dürfen wir daſſelbe wohl auch von dem
uns höchſtens durch verſteinerte Schädel bekannten Anerochſen erwarten. Plinius kennt den
Bonassus oder Wiſent, weil derſelbe lebend nach Rom gebracht wurde, um in den Thierkampfſpielen
zu glänzen, und unterſcheidet ihn beſtimmt von dem Urus oder Auer, indem er hervorhebt, daß den
Erſteren ſeine reiche Mähne, den Letzteren ſein großes Gehörn kennzeichnet. Cäſar erwähnt einen
in Deutſchland vorkommenden Wildochſen, welcher dem zahmen nicht unähnlich ſei, aber viel größere
Hörner als dieſer beſitze und an Größe dem Elefanten wenig nachſtehe. „Seine Jagd,‟ ſagt er, „gilt
unter den Deutſchen als die rühmlichſte.‟ Er meint den Auer, nicht den Wiſent. Mit noch größerer
Beſtimmtheit ſprechen ſich die ſpäteren Schriftſteller aus. Lukas David gibt an, daß der Herzog
Otto von Braunſchweig im Jahre 1240 „den Brüdern‟ Aueroxen und Viſonten ſchenkte,
Cramer, daß Fürſt Wradislaw um das Jahr 1364 in Hinterpommern ein Wyſant erlegte,
„welcher größer geachtet worden, als ein Uhrochs‟, Mathias v. Michow, daß es in den
*) Durch ein Verſehen des Druckers ſind leider auch die auf unſerer Abbildung dargeſtellten Wiſents als
„Auerochſen‟ bezeichnet worden.
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