sie spürt das Nahen des Unwetters, unterscheidet genau die Pflanzen, die ihr nicht zusagen, bewacht und beschützt ihr Junges und meidet achtsam gefährliche Stellen. Letzteres aber geht bei aller Vor- sicht doch nicht immer gut ab. Der Hunger dringt oft zu den noch unberührten, aber fetten Rasen- stellen, und indem sich die Kuh über die Geröllhalde bewegt, weicht der lockere Grund und sie be- ginnt bergab zu gleiten. Sowie sie bemerkt, daß sie selber sich nicht mehr helfen kann, läßt sie sich auf den Bauch nieder, schließt die Augen und ergibt sich ruhig in ihr Schicksal, indem sie langsam fortgleitet, bis sie in den Abgrund stürzt oder von einer Baumwurzel aufgehalten wird, an der sie gelassen die hilfreiche Dazwischenkunft des Sennen abwartet. ..."
"Sehr ausgebildet ist namentlich bei dem schweizerischen Alprindvieh jener Ehrgeiz, welcher das Recht des Stärkeren mit unerbittlicher Strenge handhabt und danach eine Rangordnung aufstellt, der sich Alle fügen. Die Heerkuh, welche die große Schelle trägt, ist nicht nur die schönste, sondern auch die stärkste der Herde und nimmt bei jenem Umzug unfehlbar den ersten Platz ein, indem keine andere Kuh es wagt, ihr voranzugehen. Jhr folgen die stärksten Häupter, gleichsam die Standespersonen der Herde. Wird ein neues Stück hinzugekauft, so hat es unfehlbar mit jedem Gliede der Genossen- schaft einen Hörnerkampf zu bestehen und nach dessen Erfolgen seine Stelle im Zuge einzunehmen. Bei gleicher Stärke setzt es oft böse, hartnäckige Zwiegefechte ab, da die Thiere stundenlang nicht von der Stelle weichen. Die Heerkuh, im Vollgefühl ihrer Würde, leitet die wandernde Herde, geht zur Hütte voran, und man hat oft bemerkt, daß sie, wenn sie ihres Ranges entsetzt und der Vor- schelle beraubt wurde, in eine nicht zu besänftigende Traurigkeit fiel und ganz krank wurde."
"Bei jeder großen Alpenviehherde ist ein Zuchtstier, welcher sein Vorrecht mit sultanischer Aus- schließlichkeit und ausgesprochenster Unduldsamkeit bewacht; es ist selbst für den Sennen nicht rathsam, vor seinen Augen eine rindernde Kuh von der Seute zu entfernen. Jn den öfters besuchten tieferen Weiden dürfen nur zahme und gutartige Stiere gehalten werden; in den höheren Alpen trifft man aber oft sehr wilde und gefährliche Thiere. Da stehen sie mit ihrem gedrungenen, markigen Körper- bau, ihrem breiten Kopf mit krausem Stirnhaar am Wege und messen alles Fremdartige mit stolzen, jähzornigen Blicken. Besucht ein Fremder, namentlich in Begleitung eines Hundes, die Alp, so be- merkt ihn der Herdenstier schon von weitem und kommt langsam mit dumpfem Gebrüll heran. Er beobachtet den Menschen mit Mißtrauen und Zeichen großen Unbehagens, und reizt ihn an der Er- scheinung desselben zufällig Etwas, vielleicht ein rothes Tuch oder ein Stock, so rennt er geradeaus mit tief gehaltenem Kopf, den Schwanz in die Höhe geworfen, in Zwischenräumen, wobei er öfters mit den Hörnern Erde aufwirft und dumpf brüllt, auf den vermeintlichen Feind los. Für diesen ist es nun hohe Zeit, sich zur Hütte, hinter Bäume oder Mauern zu retten; denn das gereizte Thier verfolgt ihn mit der hartnäckigsten Leidenschaftlichkeit und bewacht den Ort, wo es den Gegner ver- muthet, oft stundenlang. Es wäre in solchem Falle thöricht, sich vertheidigen zu wollen. Mit Stößen und Schlägen ist wenig auszurichten, und der Stier läßt sich eher in Stücke hauen, ehe er sich vom Kampfe zurückzieht."
"Die festlichste Zeit für das Alpenrindvieh ist ohne Zweifel der Tag der Alpfahrt, welche ge- wöhnlich im Mai stattfindet. Jede der ins Gebirge ziehenden Herden hat ihr Geläut. Die statt- lichsten Kühe erhalten, wie bemerkt, die ungeheuren Schellen, welche oft über einen Fuß im Durch- messer halten und 40 bis 50 Gulden kosten. Es sind die Prunkstücke des Sennen; mit drei oder vier solchen in harmonischem Verhältniß zu einander stehenden läutet er von Dorf zu Dorf seine Abfahrt ein. Zwischen hinein tönen die kleinen Erzglocken."
"Trauriger, als die Alpfahrt, ist für Vieh und Hirt die Thalfahrt, welche in ähnlicher Ord- nung vor sich geht. Gewöhnlich ist sie das Zeichen der Auflösung des familienartigen Herden- verbandes."
Solches Herdentreiben ist so zu sagen die Dichtung im Rinderleben. Jn den meisten übrigen Ländern hat das gute Hausthier kein so schönes Loos. Jn Deutschland genießt es blos in den Ge- birgen und in den nördlichen Marschgegenden während des Sommers eine mehr oder weniger be-
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Das Alpenrindvieh.
ſie ſpürt das Nahen des Unwetters, unterſcheidet genau die Pflanzen, die ihr nicht zuſagen, bewacht und beſchützt ihr Junges und meidet achtſam gefährliche Stellen. Letzteres aber geht bei aller Vor- ſicht doch nicht immer gut ab. Der Hunger dringt oft zu den noch unberührten, aber fetten Raſen- ſtellen, und indem ſich die Kuh über die Geröllhalde bewegt, weicht der lockere Grund und ſie be- ginnt bergab zu gleiten. Sowie ſie bemerkt, daß ſie ſelber ſich nicht mehr helfen kann, läßt ſie ſich auf den Bauch nieder, ſchließt die Augen und ergibt ſich ruhig in ihr Schickſal, indem ſie langſam fortgleitet, bis ſie in den Abgrund ſtürzt oder von einer Baumwurzel aufgehalten wird, an der ſie gelaſſen die hilfreiche Dazwiſchenkunft des Sennen abwartet. …‟
„Sehr ausgebildet iſt namentlich bei dem ſchweizeriſchen Alprindvieh jener Ehrgeiz, welcher das Recht des Stärkeren mit unerbittlicher Strenge handhabt und danach eine Rangordnung aufſtellt, der ſich Alle fügen. Die Heerkuh, welche die große Schelle trägt, iſt nicht nur die ſchönſte, ſondern auch die ſtärkſte der Herde und nimmt bei jenem Umzug unfehlbar den erſten Platz ein, indem keine andere Kuh es wagt, ihr voranzugehen. Jhr folgen die ſtärkſten Häupter, gleichſam die Standesperſonen der Herde. Wird ein neues Stück hinzugekauft, ſo hat es unfehlbar mit jedem Gliede der Genoſſen- ſchaft einen Hörnerkampf zu beſtehen und nach deſſen Erfolgen ſeine Stelle im Zuge einzunehmen. Bei gleicher Stärke ſetzt es oft böſe, hartnäckige Zwiegefechte ab, da die Thiere ſtundenlang nicht von der Stelle weichen. Die Heerkuh, im Vollgefühl ihrer Würde, leitet die wandernde Herde, geht zur Hütte voran, und man hat oft bemerkt, daß ſie, wenn ſie ihres Ranges entſetzt und der Vor- ſchelle beraubt wurde, in eine nicht zu beſänftigende Traurigkeit fiel und ganz krank wurde.‟
„Bei jeder großen Alpenviehherde iſt ein Zuchtſtier, welcher ſein Vorrecht mit ſultaniſcher Aus- ſchließlichkeit und ausgeſprochenſter Unduldſamkeit bewacht; es iſt ſelbſt für den Sennen nicht rathſam, vor ſeinen Augen eine rindernde Kuh von der Seute zu entfernen. Jn den öfters beſuchten tieferen Weiden dürfen nur zahme und gutartige Stiere gehalten werden; in den höheren Alpen trifft man aber oft ſehr wilde und gefährliche Thiere. Da ſtehen ſie mit ihrem gedrungenen, markigen Körper- bau, ihrem breiten Kopf mit krauſem Stirnhaar am Wege und meſſen alles Fremdartige mit ſtolzen, jähzornigen Blicken. Beſucht ein Fremder, namentlich in Begleitung eines Hundes, die Alp, ſo be- merkt ihn der Herdenſtier ſchon von weitem und kommt langſam mit dumpfem Gebrüll heran. Er beobachtet den Menſchen mit Mißtrauen und Zeichen großen Unbehagens, und reizt ihn an der Er- ſcheinung deſſelben zufällig Etwas, vielleicht ein rothes Tuch oder ein Stock, ſo rennt er geradeaus mit tief gehaltenem Kopf, den Schwanz in die Höhe geworfen, in Zwiſchenräumen, wobei er öfters mit den Hörnern Erde aufwirft und dumpf brüllt, auf den vermeintlichen Feind los. Für dieſen iſt es nun hohe Zeit, ſich zur Hütte, hinter Bäume oder Mauern zu retten; denn das gereizte Thier verfolgt ihn mit der hartnäckigſten Leidenſchaftlichkeit und bewacht den Ort, wo es den Gegner ver- muthet, oft ſtundenlang. Es wäre in ſolchem Falle thöricht, ſich vertheidigen zu wollen. Mit Stößen und Schlägen iſt wenig auszurichten, und der Stier läßt ſich eher in Stücke hauen, ehe er ſich vom Kampfe zurückzieht.‟
„Die feſtlichſte Zeit für das Alpenrindvieh iſt ohne Zweifel der Tag der Alpfahrt, welche ge- wöhnlich im Mai ſtattfindet. Jede der ins Gebirge ziehenden Herden hat ihr Geläut. Die ſtatt- lichſten Kühe erhalten, wie bemerkt, die ungeheuren Schellen, welche oft über einen Fuß im Durch- meſſer halten und 40 bis 50 Gulden koſten. Es ſind die Prunkſtücke des Sennen; mit drei oder vier ſolchen in harmoniſchem Verhältniß zu einander ſtehenden läutet er von Dorf zu Dorf ſeine Abfahrt ein. Zwiſchen hinein tönen die kleinen Erzglocken.‟
„Trauriger, als die Alpfahrt, iſt für Vieh und Hirt die Thalfahrt, welche in ähnlicher Ord- nung vor ſich geht. Gewöhnlich iſt ſie das Zeichen der Auflöſung des familienartigen Herden- verbandes.‟
Solches Herdentreiben iſt ſo zu ſagen die Dichtung im Rinderleben. Jn den meiſten übrigen Ländern hat das gute Hausthier kein ſo ſchönes Loos. Jn Deutſchland genießt es blos in den Ge- birgen und in den nördlichen Marſchgegenden während des Sommers eine mehr oder weniger be-
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Das Alpenrindvieh.
ſie ſpürt das Nahen des Unwetters, unterſcheidet genau die Pflanzen, die ihr nicht zuſagen, bewacht
und beſchützt ihr Junges und meidet achtſam gefährliche Stellen. Letzteres aber geht bei aller Vor-
ſicht doch nicht immer gut ab. Der Hunger dringt oft zu den noch unberührten, aber fetten Raſen-
ſtellen, und indem ſich die Kuh über die Geröllhalde bewegt, weicht der lockere Grund und ſie be-
ginnt bergab zu gleiten. Sowie ſie bemerkt, daß ſie ſelber ſich nicht mehr helfen kann, läßt ſie ſich
auf den Bauch nieder, ſchließt die Augen und ergibt ſich ruhig in ihr Schickſal, indem ſie langſam
fortgleitet, bis ſie in den Abgrund ſtürzt oder von einer Baumwurzel aufgehalten wird, an der ſie
gelaſſen die hilfreiche Dazwiſchenkunft des Sennen abwartet. …‟
„Sehr ausgebildet iſt namentlich bei dem ſchweizeriſchen Alprindvieh jener Ehrgeiz, welcher das
Recht des Stärkeren mit unerbittlicher Strenge handhabt und danach eine Rangordnung aufſtellt, der
ſich Alle fügen. Die Heerkuh, welche die große Schelle trägt, iſt nicht nur die ſchönſte, ſondern auch
die ſtärkſte der Herde und nimmt bei jenem Umzug unfehlbar den erſten Platz ein, indem keine andere
Kuh es wagt, ihr voranzugehen. Jhr folgen die ſtärkſten Häupter, gleichſam die Standesperſonen
der Herde. Wird ein neues Stück hinzugekauft, ſo hat es unfehlbar mit jedem Gliede der Genoſſen-
ſchaft einen Hörnerkampf zu beſtehen und nach deſſen Erfolgen ſeine Stelle im Zuge einzunehmen.
Bei gleicher Stärke ſetzt es oft böſe, hartnäckige Zwiegefechte ab, da die Thiere ſtundenlang nicht von
der Stelle weichen. Die Heerkuh, im Vollgefühl ihrer Würde, leitet die wandernde Herde, geht
zur Hütte voran, und man hat oft bemerkt, daß ſie, wenn ſie ihres Ranges entſetzt und der Vor-
ſchelle beraubt wurde, in eine nicht zu beſänftigende Traurigkeit fiel und ganz krank wurde.‟
„Bei jeder großen Alpenviehherde iſt ein Zuchtſtier, welcher ſein Vorrecht mit ſultaniſcher Aus-
ſchließlichkeit und ausgeſprochenſter Unduldſamkeit bewacht; es iſt ſelbſt für den Sennen nicht rathſam,
vor ſeinen Augen eine rindernde Kuh von der Seute zu entfernen. Jn den öfters beſuchten tieferen
Weiden dürfen nur zahme und gutartige Stiere gehalten werden; in den höheren Alpen trifft man
aber oft ſehr wilde und gefährliche Thiere. Da ſtehen ſie mit ihrem gedrungenen, markigen Körper-
bau, ihrem breiten Kopf mit krauſem Stirnhaar am Wege und meſſen alles Fremdartige mit ſtolzen,
jähzornigen Blicken. Beſucht ein Fremder, namentlich in Begleitung eines Hundes, die Alp, ſo be-
merkt ihn der Herdenſtier ſchon von weitem und kommt langſam mit dumpfem Gebrüll heran. Er
beobachtet den Menſchen mit Mißtrauen und Zeichen großen Unbehagens, und reizt ihn an der Er-
ſcheinung deſſelben zufällig Etwas, vielleicht ein rothes Tuch oder ein Stock, ſo rennt er geradeaus
mit tief gehaltenem Kopf, den Schwanz in die Höhe geworfen, in Zwiſchenräumen, wobei er öfters
mit den Hörnern Erde aufwirft und dumpf brüllt, auf den vermeintlichen Feind los. Für dieſen iſt
es nun hohe Zeit, ſich zur Hütte, hinter Bäume oder Mauern zu retten; denn das gereizte Thier
verfolgt ihn mit der hartnäckigſten Leidenſchaftlichkeit und bewacht den Ort, wo es den Gegner ver-
muthet, oft ſtundenlang. Es wäre in ſolchem Falle thöricht, ſich vertheidigen zu wollen. Mit
Stößen und Schlägen iſt wenig auszurichten, und der Stier läßt ſich eher in Stücke hauen, ehe er
ſich vom Kampfe zurückzieht.‟
„Die feſtlichſte Zeit für das Alpenrindvieh iſt ohne Zweifel der Tag der Alpfahrt, welche ge-
wöhnlich im Mai ſtattfindet. Jede der ins Gebirge ziehenden Herden hat ihr Geläut. Die ſtatt-
lichſten Kühe erhalten, wie bemerkt, die ungeheuren Schellen, welche oft über einen Fuß im Durch-
meſſer halten und 40 bis 50 Gulden koſten. Es ſind die Prunkſtücke des Sennen; mit drei oder vier
ſolchen in harmoniſchem Verhältniß zu einander ſtehenden läutet er von Dorf zu Dorf ſeine Abfahrt
ein. Zwiſchen hinein tönen die kleinen Erzglocken.‟
„Trauriger, als die Alpfahrt, iſt für Vieh und Hirt die Thalfahrt, welche in ähnlicher Ord-
nung vor ſich geht. Gewöhnlich iſt ſie das Zeichen der Auflöſung des familienartigen Herden-
verbandes.‟
Solches Herdentreiben iſt ſo zu ſagen die Dichtung im Rinderleben. Jn den meiſten übrigen
Ländern hat das gute Hausthier kein ſo ſchönes Loos. Jn Deutſchland genießt es blos in den Ge-
birgen und in den nördlichen Marſchgegenden während des Sommers eine mehr oder weniger be-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 675. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/709>, abgerufen am 23.11.2024.
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