Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite
Die stellersche Seekuh oder das nordische Borkenthier.

"Am ganzen Strande der Jnsel, sonderlich wo Bäche in die See fließen und alle Arten See-
wier
am häufigsten sind, hält sich zu allen Jahreszeiten die von unseren Russen Morskaja-Ko-
rowa
oder zu Deutsch Meerkuh in großer Menge und herdenweise auf. Da uns durch die Ver-
scheuchung der Seebiber von der nördlichen Seite die Versorgung mit Nahrungsbedarf beschwerlich
zu werden anfing, sannen wir auf Mittel, uns dieser Thiere zu bemeistern und unsere Nahrung,
weil sie uns nahe waren, auf eine leichtere Art davon zu ziehen. Jch stellte deswegen am 21. Mai
den ersten Versuch an mit einem verfertigten großen eisernen Haken, woran ein starkes und langes
Seil befestigt wurde, dieses mächtige und große Seethier anzuhauen und aus Land zu schleppen,
allein vergebens; denn die Haut war zu zähe und der Haken viel zu stumpf. Man änderte ihn auf
verschiedene Art und stellte mehrere Proben an, die aber noch schlechter geriethen, so daß uns die
Thiere mit dem Haken und daran befestigten Seil in die See entliefen. Endlich zwang uns die
Noth, zum Harpuniren Anstalt zu machen. Man besserte zu dem Ende gegen Ausgang des Junius
das Jollbot, so im Herbst auf den Felsen sehr beschädigt worden war, aus, setzte einen Harpunier
nebst Steuermann und vier Ruderern darauf und gab jenem ein Harpun nebst einem sehr langen,
wie beim Walfischfang in Ordnung gelegtes Seil in die Hand, von welchem das andere Ende am
Strande von den übrigen vierzig Mann gehalten wurde. Nun ruderte man ganz stille auf die
Thiere los, welche in größter Sicherheit herdenweise an den Ufern jhrer Weide im Seegrunde nach-
gingen. Sobald dann der Harpunier eines derselben angehauen hatte, zogen die am Lande solches all-
mählich nach dem Strande, die im Jolle Befindlichen fuhren indessen auf dasselbe zu und machten es
durch ihre Bewegungen noch matter, und wenn es entkräftet schien, so stießen sie ihm allenthalben
mit großen Messern und Bajonnetten in den Leib, so daß es fast alles Blut, welches wie Spring-
brunnen aus den Wunden quoll, verloren hatte, und so bei vollem Wasser auf den Strand gezogen
und befestigt werden konnte. Sowie dann das Wasser wieder ablief und das Thier auf trockenem
Strande lag, schnitt man allenthalben das Fleisch und den Speck stückweise herunter und trug es in
voller Freude nach den Wohnungen, wo das Fleisch in großen Fässern verwahrt, der Speck aber auf
hohe Böcke aufgehängt wurde. Und nun sahen wir uns bald in einen solchen Ueberfluß von Nah-
rung versetzt, daß wir den Bau unseres neuen Fahrzeuges, welches das Mittel zu unserer Rettung
werden sollte, ohne Hindernisse fortsetzen konnten."

Mit diesen Worten beginnt der schon oft erwähnte tüchtige Naturforscher Steller, welcher im
November des Jahres 1741 auf der vorher noch unbekannten Behringsinsel gestrandet war und
dort zehn traurige Monate verleben mußte, seinen Bericht über eins der merkwürdigsten Seesäugethiere,
über ein Geschöpf, welches bereits gänzlich ausgerottet und vernichtet worden zu sein scheint, über
die nach ihrem Entdecker benannte stellersche Seekuh oder das nordische Borkenthier
(Rhytina Stelleri). Bereits siebenundzwanzig Jahre nach der Entdeckung wurde die letzte Seekuh
erlegt. Seitdem hat man wohl noch einen Schädel und eine Gaumenplatte nebst einigen wenigen
Knochen des Geripps aufgefunden, aber keine lebende Morskaja mehr gesehen. Angelockt durch die
gewinnverheißenden Berichte der russischen Entdeckungsgesellschaft, unter welcher Steller sich be-
fand, strömten Walfischfänger und waghalsige Abenteurer in hellen Haufen nach der Behringssee
und begannen dort eine so furchtbare Metzelei unter den wehrlosen Meeresbewohnern, daß die See-
kühe von der Erde vertilgt wurden. Man hat sich seitdem vergeblich bemüht, wenigstens ein Stück die-
ser Thiere zu erhalten. Jedes Schiff, welches nach dem Behringsmeere absegelte, ist angewiesen
worden -- keins hat irgend eine Nachricht zurückgebracht.

Steller hielt das Borkenthier für den von Hernandez entdeckten Lamantin. Aus seiner Be-
schreibung geht aber deutlich genug hervor, daß die Seekuh ein von den früher beschriebenen Sirenen
weit verschiedenes Thier war. Anstatt der Zähne waren die Kiefern mit vier Kauplatten belegt,
welche nur mit dem Zahnfleische zusammenhingen. Diese einzige Angabe genügt zur Kennzeichnung

Die ſtellerſche Seekuh oder das nordiſche Borkenthier.

„Am ganzen Strande der Jnſel, ſonderlich wo Bäche in die See fließen und alle Arten See-
wier
am häufigſten ſind, hält ſich zu allen Jahreszeiten die von unſeren Ruſſen Morskaja-Ko-
rowa
oder zu Deutſch Meerkuh in großer Menge und herdenweiſe auf. Da uns durch die Ver-
ſcheuchung der Seebiber von der nördlichen Seite die Verſorgung mit Nahrungsbedarf beſchwerlich
zu werden anfing, ſannen wir auf Mittel, uns dieſer Thiere zu bemeiſtern und unſere Nahrung,
weil ſie uns nahe waren, auf eine leichtere Art davon zu ziehen. Jch ſtellte deswegen am 21. Mai
den erſten Verſuch an mit einem verfertigten großen eiſernen Haken, woran ein ſtarkes und langes
Seil befeſtigt wurde, dieſes mächtige und große Seethier anzuhauen und aus Land zu ſchleppen,
allein vergebens; denn die Haut war zu zähe und der Haken viel zu ſtumpf. Man änderte ihn auf
verſchiedene Art und ſtellte mehrere Proben an, die aber noch ſchlechter geriethen, ſo daß uns die
Thiere mit dem Haken und daran befeſtigten Seil in die See entliefen. Endlich zwang uns die
Noth, zum Harpuniren Anſtalt zu machen. Man beſſerte zu dem Ende gegen Ausgang des Junius
das Jollbot, ſo im Herbſt auf den Felſen ſehr beſchädigt worden war, aus, ſetzte einen Harpunier
nebſt Steuermann und vier Ruderern darauf und gab jenem ein Harpun nebſt einem ſehr langen,
wie beim Walfiſchfang in Ordnung gelegtes Seil in die Hand, von welchem das andere Ende am
Strande von den übrigen vierzig Mann gehalten wurde. Nun ruderte man ganz ſtille auf die
Thiere los, welche in größter Sicherheit herdenweiſe an den Ufern jhrer Weide im Seegrunde nach-
gingen. Sobald dann der Harpunier eines derſelben angehauen hatte, zogen die am Lande ſolches all-
mählich nach dem Strande, die im Jolle Befindlichen fuhren indeſſen auf daſſelbe zu und machten es
durch ihre Bewegungen noch matter, und wenn es entkräftet ſchien, ſo ſtießen ſie ihm allenthalben
mit großen Meſſern und Bajonnetten in den Leib, ſo daß es faſt alles Blut, welches wie Spring-
brunnen aus den Wunden quoll, verloren hatte, und ſo bei vollem Waſſer auf den Strand gezogen
und befeſtigt werden konnte. Sowie dann das Waſſer wieder ablief und das Thier auf trockenem
Strande lag, ſchnitt man allenthalben das Fleiſch und den Speck ſtückweiſe herunter und trug es in
voller Freude nach den Wohnungen, wo das Fleiſch in großen Fäſſern verwahrt, der Speck aber auf
hohe Böcke aufgehängt wurde. Und nun ſahen wir uns bald in einen ſolchen Ueberfluß von Nah-
rung verſetzt, daß wir den Bau unſeres neuen Fahrzeuges, welches das Mittel zu unſerer Rettung
werden ſollte, ohne Hinderniſſe fortſetzen konnten.‟

Mit dieſen Worten beginnt der ſchon oft erwähnte tüchtige Naturforſcher Steller, welcher im
November des Jahres 1741 auf der vorher noch unbekannten Behringsinſel geſtrandet war und
dort zehn traurige Monate verleben mußte, ſeinen Bericht über eins der merkwürdigſten Seeſäugethiere,
über ein Geſchöpf, welches bereits gänzlich ausgerottet und vernichtet worden zu ſein ſcheint, über
die nach ihrem Entdecker benannte ſtellerſche Seekuh oder das nordiſche Borkenthier
(Rhytina Stelleri). Bereits ſiebenundzwanzig Jahre nach der Entdeckung wurde die letzte Seekuh
erlegt. Seitdem hat man wohl noch einen Schädel und eine Gaumenplatte nebſt einigen wenigen
Knochen des Geripps aufgefunden, aber keine lebende Morskaja mehr geſehen. Angelockt durch die
gewinnverheißenden Berichte der ruſſiſchen Entdeckungsgeſellſchaft, unter welcher Steller ſich be-
fand, ſtrömten Walfiſchfänger und waghalſige Abenteurer in hellen Haufen nach der Behringsſee
und begannen dort eine ſo furchtbare Metzelei unter den wehrloſen Meeresbewohnern, daß die See-
kühe von der Erde vertilgt wurden. Man hat ſich ſeitdem vergeblich bemüht, wenigſtens ein Stück die-
ſer Thiere zu erhalten. Jedes Schiff, welches nach dem Behringsmeere abſegelte, iſt angewieſen
worden — keins hat irgend eine Nachricht zurückgebracht.

Steller hielt das Borkenthier für den von Hernandez entdeckten Lamantin. Aus ſeiner Be-
ſchreibung geht aber deutlich genug hervor, daß die Seekuh ein von den früher beſchriebenen Sirenen
weit verſchiedenes Thier war. Anſtatt der Zähne waren die Kiefern mit vier Kauplatten belegt,
welche nur mit dem Zahnfleiſche zuſammenhingen. Dieſe einzige Angabe genügt zur Kennzeichnung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0870" n="822"/>
              <fw place="top" type="header">Die &#x017F;teller&#x017F;che Seekuh oder das nordi&#x017F;che Borkenthier.</fw><lb/>
              <p>&#x201E;Am ganzen Strande der Jn&#x017F;el, &#x017F;onderlich wo Bäche in die See fließen und alle Arten <hi rendition="#g">See-<lb/>
wier</hi> am häufig&#x017F;ten &#x017F;ind, hält &#x017F;ich zu allen Jahreszeiten die von un&#x017F;eren Ru&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#g">Morskaja-Ko-<lb/>
rowa</hi> oder zu Deut&#x017F;ch <hi rendition="#g">Meerkuh</hi> in großer Menge und herdenwei&#x017F;e auf. Da uns durch die Ver-<lb/>
&#x017F;cheuchung der Seebiber von der nördlichen Seite die Ver&#x017F;orgung mit Nahrungsbedarf be&#x017F;chwerlich<lb/>
zu werden anfing, &#x017F;annen wir auf Mittel, uns die&#x017F;er Thiere zu bemei&#x017F;tern und un&#x017F;ere Nahrung,<lb/>
weil &#x017F;ie uns nahe waren, auf eine leichtere Art davon zu ziehen. Jch &#x017F;tellte deswegen am 21. Mai<lb/>
den er&#x017F;ten Ver&#x017F;uch an mit einem verfertigten großen ei&#x017F;ernen Haken, woran ein &#x017F;tarkes und langes<lb/>
Seil befe&#x017F;tigt wurde, die&#x017F;es mächtige und große Seethier anzuhauen und aus Land zu &#x017F;chleppen,<lb/>
allein vergebens; denn die Haut war zu zähe und der Haken viel zu &#x017F;tumpf. Man änderte ihn auf<lb/>
ver&#x017F;chiedene Art und &#x017F;tellte mehrere Proben an, die aber noch &#x017F;chlechter geriethen, &#x017F;o daß uns die<lb/>
Thiere mit dem Haken und daran befe&#x017F;tigten Seil in die See entliefen. Endlich zwang uns die<lb/>
Noth, zum Harpuniren An&#x017F;talt zu machen. Man be&#x017F;&#x017F;erte zu dem Ende gegen Ausgang des Junius<lb/>
das Jollbot, &#x017F;o im Herb&#x017F;t auf den Fel&#x017F;en &#x017F;ehr be&#x017F;chädigt worden war, aus, &#x017F;etzte einen Harpunier<lb/>
neb&#x017F;t Steuermann und vier Ruderern darauf und gab jenem ein Harpun neb&#x017F;t einem &#x017F;ehr langen,<lb/>
wie beim Walfi&#x017F;chfang in Ordnung gelegtes Seil in die Hand, von welchem das andere Ende am<lb/>
Strande von den übrigen vierzig Mann gehalten wurde. Nun ruderte man ganz &#x017F;tille auf die<lb/>
Thiere los, welche in größter Sicherheit herdenwei&#x017F;e an den Ufern jhrer Weide im Seegrunde nach-<lb/>
gingen. Sobald dann der Harpunier eines der&#x017F;elben angehauen hatte, zogen die am Lande &#x017F;olches all-<lb/>
mählich nach dem Strande, die im Jolle Befindlichen fuhren inde&#x017F;&#x017F;en auf da&#x017F;&#x017F;elbe zu und machten es<lb/>
durch ihre Bewegungen noch matter, und wenn es entkräftet &#x017F;chien, &#x017F;o &#x017F;tießen &#x017F;ie ihm allenthalben<lb/>
mit großen Me&#x017F;&#x017F;ern und Bajonnetten in den Leib, &#x017F;o daß es fa&#x017F;t alles Blut, welches wie Spring-<lb/>
brunnen aus den Wunden quoll, verloren hatte, und &#x017F;o bei vollem Wa&#x017F;&#x017F;er auf den Strand gezogen<lb/>
und befe&#x017F;tigt werden konnte. Sowie dann das Wa&#x017F;&#x017F;er wieder ablief und das Thier auf trockenem<lb/>
Strande lag, &#x017F;chnitt man allenthalben das Flei&#x017F;ch und den Speck &#x017F;tückwei&#x017F;e herunter und trug es in<lb/>
voller Freude nach den Wohnungen, wo das Flei&#x017F;ch in großen Fä&#x017F;&#x017F;ern verwahrt, der Speck aber auf<lb/>
hohe Böcke aufgehängt wurde. Und nun &#x017F;ahen wir uns bald in einen &#x017F;olchen Ueberfluß von Nah-<lb/>
rung ver&#x017F;etzt, daß wir den Bau un&#x017F;eres neuen Fahrzeuges, welches das Mittel zu un&#x017F;erer Rettung<lb/>
werden &#x017F;ollte, ohne Hinderni&#x017F;&#x017F;e fort&#x017F;etzen konnten.&#x201F;</p><lb/>
              <p>Mit die&#x017F;en Worten beginnt der &#x017F;chon oft erwähnte tüchtige Naturfor&#x017F;cher <hi rendition="#g">Steller,</hi> welcher im<lb/>
November des Jahres 1741 auf der vorher noch unbekannten <hi rendition="#g">Behringsin&#x017F;el</hi> ge&#x017F;trandet war und<lb/>
dort zehn traurige Monate verleben mußte, &#x017F;einen Bericht über eins der merkwürdig&#x017F;ten See&#x017F;äugethiere,<lb/>
über ein Ge&#x017F;chöpf, welches bereits gänzlich ausgerottet und vernichtet worden zu &#x017F;ein &#x017F;cheint, über<lb/>
die nach ihrem Entdecker benannte <hi rendition="#g">&#x017F;teller&#x017F;che Seekuh</hi> oder das <hi rendition="#g">nordi&#x017F;che Borkenthier</hi><lb/>
(<hi rendition="#aq">Rhytina Stelleri</hi>). Bereits &#x017F;iebenundzwanzig Jahre nach der Entdeckung wurde die letzte Seekuh<lb/>
erlegt. Seitdem hat man wohl noch einen Schädel und eine Gaumenplatte neb&#x017F;t einigen wenigen<lb/>
Knochen des Geripps aufgefunden, aber keine lebende Morskaja mehr ge&#x017F;ehen. Angelockt durch die<lb/>
gewinnverheißenden Berichte der ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Entdeckungsge&#x017F;ell&#x017F;chaft, unter welcher <hi rendition="#g">Steller</hi> &#x017F;ich be-<lb/>
fand, &#x017F;trömten Walfi&#x017F;chfänger und waghal&#x017F;ige Abenteurer in hellen Haufen nach der Behrings&#x017F;ee<lb/>
und begannen dort eine &#x017F;o furchtbare Metzelei unter den wehrlo&#x017F;en Meeresbewohnern, daß die See-<lb/>
kühe von der Erde vertilgt wurden. Man hat &#x017F;ich &#x017F;eitdem vergeblich bemüht, wenig&#x017F;tens ein Stück die-<lb/>
&#x017F;er Thiere zu erhalten. Jedes Schiff, welches nach dem Behringsmeere ab&#x017F;egelte, i&#x017F;t angewie&#x017F;en<lb/>
worden &#x2014; keins hat irgend eine Nachricht zurückgebracht.</p><lb/>
              <p><hi rendition="#g">Steller</hi> hielt das Borkenthier für den von Hernandez entdeckten Lamantin. Aus &#x017F;einer Be-<lb/>
&#x017F;chreibung geht aber deutlich genug hervor, daß die Seekuh ein von den früher be&#x017F;chriebenen Sirenen<lb/>
weit ver&#x017F;chiedenes Thier war. An&#x017F;tatt der Zähne waren die Kiefern mit <hi rendition="#g">vier Kauplatten</hi> belegt,<lb/>
welche nur mit dem Zahnflei&#x017F;che zu&#x017F;ammenhingen. Die&#x017F;e einzige Angabe genügt zur Kennzeichnung<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[822/0870] Die ſtellerſche Seekuh oder das nordiſche Borkenthier. „Am ganzen Strande der Jnſel, ſonderlich wo Bäche in die See fließen und alle Arten See- wier am häufigſten ſind, hält ſich zu allen Jahreszeiten die von unſeren Ruſſen Morskaja-Ko- rowa oder zu Deutſch Meerkuh in großer Menge und herdenweiſe auf. Da uns durch die Ver- ſcheuchung der Seebiber von der nördlichen Seite die Verſorgung mit Nahrungsbedarf beſchwerlich zu werden anfing, ſannen wir auf Mittel, uns dieſer Thiere zu bemeiſtern und unſere Nahrung, weil ſie uns nahe waren, auf eine leichtere Art davon zu ziehen. Jch ſtellte deswegen am 21. Mai den erſten Verſuch an mit einem verfertigten großen eiſernen Haken, woran ein ſtarkes und langes Seil befeſtigt wurde, dieſes mächtige und große Seethier anzuhauen und aus Land zu ſchleppen, allein vergebens; denn die Haut war zu zähe und der Haken viel zu ſtumpf. Man änderte ihn auf verſchiedene Art und ſtellte mehrere Proben an, die aber noch ſchlechter geriethen, ſo daß uns die Thiere mit dem Haken und daran befeſtigten Seil in die See entliefen. Endlich zwang uns die Noth, zum Harpuniren Anſtalt zu machen. Man beſſerte zu dem Ende gegen Ausgang des Junius das Jollbot, ſo im Herbſt auf den Felſen ſehr beſchädigt worden war, aus, ſetzte einen Harpunier nebſt Steuermann und vier Ruderern darauf und gab jenem ein Harpun nebſt einem ſehr langen, wie beim Walfiſchfang in Ordnung gelegtes Seil in die Hand, von welchem das andere Ende am Strande von den übrigen vierzig Mann gehalten wurde. Nun ruderte man ganz ſtille auf die Thiere los, welche in größter Sicherheit herdenweiſe an den Ufern jhrer Weide im Seegrunde nach- gingen. Sobald dann der Harpunier eines derſelben angehauen hatte, zogen die am Lande ſolches all- mählich nach dem Strande, die im Jolle Befindlichen fuhren indeſſen auf daſſelbe zu und machten es durch ihre Bewegungen noch matter, und wenn es entkräftet ſchien, ſo ſtießen ſie ihm allenthalben mit großen Meſſern und Bajonnetten in den Leib, ſo daß es faſt alles Blut, welches wie Spring- brunnen aus den Wunden quoll, verloren hatte, und ſo bei vollem Waſſer auf den Strand gezogen und befeſtigt werden konnte. Sowie dann das Waſſer wieder ablief und das Thier auf trockenem Strande lag, ſchnitt man allenthalben das Fleiſch und den Speck ſtückweiſe herunter und trug es in voller Freude nach den Wohnungen, wo das Fleiſch in großen Fäſſern verwahrt, der Speck aber auf hohe Böcke aufgehängt wurde. Und nun ſahen wir uns bald in einen ſolchen Ueberfluß von Nah- rung verſetzt, daß wir den Bau unſeres neuen Fahrzeuges, welches das Mittel zu unſerer Rettung werden ſollte, ohne Hinderniſſe fortſetzen konnten.‟ Mit dieſen Worten beginnt der ſchon oft erwähnte tüchtige Naturforſcher Steller, welcher im November des Jahres 1741 auf der vorher noch unbekannten Behringsinſel geſtrandet war und dort zehn traurige Monate verleben mußte, ſeinen Bericht über eins der merkwürdigſten Seeſäugethiere, über ein Geſchöpf, welches bereits gänzlich ausgerottet und vernichtet worden zu ſein ſcheint, über die nach ihrem Entdecker benannte ſtellerſche Seekuh oder das nordiſche Borkenthier (Rhytina Stelleri). Bereits ſiebenundzwanzig Jahre nach der Entdeckung wurde die letzte Seekuh erlegt. Seitdem hat man wohl noch einen Schädel und eine Gaumenplatte nebſt einigen wenigen Knochen des Geripps aufgefunden, aber keine lebende Morskaja mehr geſehen. Angelockt durch die gewinnverheißenden Berichte der ruſſiſchen Entdeckungsgeſellſchaft, unter welcher Steller ſich be- fand, ſtrömten Walfiſchfänger und waghalſige Abenteurer in hellen Haufen nach der Behringsſee und begannen dort eine ſo furchtbare Metzelei unter den wehrloſen Meeresbewohnern, daß die See- kühe von der Erde vertilgt wurden. Man hat ſich ſeitdem vergeblich bemüht, wenigſtens ein Stück die- ſer Thiere zu erhalten. Jedes Schiff, welches nach dem Behringsmeere abſegelte, iſt angewieſen worden — keins hat irgend eine Nachricht zurückgebracht. Steller hielt das Borkenthier für den von Hernandez entdeckten Lamantin. Aus ſeiner Be- ſchreibung geht aber deutlich genug hervor, daß die Seekuh ein von den früher beſchriebenen Sirenen weit verſchiedenes Thier war. Anſtatt der Zähne waren die Kiefern mit vier Kauplatten belegt, welche nur mit dem Zahnfleiſche zuſammenhingen. Dieſe einzige Angabe genügt zur Kennzeichnung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/870
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 822. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/870>, abgerufen am 23.11.2024.