seinem zarten Schnäbelchen nicht bewältigen, wenn sie ihm jedoch zerquetscht vorgelegt werden, nimmt er dieselben gern an. Wasser ist ihm unentbehrlich; er trinkt viel und verdurstet sehr leicht.
Jung Eingefangene gewöhnen sich bald an die Gefangenschaft, werden aber nicht sonderlich zahm. Sie bekunden auch im Käfig viele gute Eigenschaften. Die Männchen singen sehr fleißig, mit Aus- nahme der Mauser fast das ganze Jahr hindurch. Sie sind immer munter und guter Dinge, fried- fertig andern Vögeln gegenüber und gesellig im hohen Grade, sobald die Brutzeit vorüber ist. Jn Spanien sieht man sie zuweilen in sehr starken Flügen, immer aber erst im Herbst. Diese gesellen sich dann wohl auch auf kurze Zeit zu den Stieglitzen, Sperlingen und anderen Feldfinken, ohne jedoch eigentlich in Gemeinschaft mit ihnen zu treten. Jm Gesellschaftsbauer sind sie ganz allerliebst; sie bringen Leben unter die Menge und werden keinen der mit ihnen eingesperrten Vögel beschwerlich.
Unsere gewandten kleineren Raubsäugethiere und Raubvögel stellen auch dem Girlitz eifrig nach, und zumal die unerfahrenen Jungen mögen diesen Feinden oft zum Opfer fallen. Der Mensch be- fehdet sie bei uns zu Lande nicht, es sei denn, daß ein Liebhaber Einige sich erbeutet; in Spanien da- gegen werden sie in großer Menge gefangen und zu Markte gebracht, ebenso für den Käfig, als für die Küche. Man wendet dort eine ganz eigenthümliche Fangweise an. Der Esparto, ein hartbinsiges Gras, welches in großer Menge in den spanischen Ebenen wächst, wird zur Leimruthe vorgerichtet und dann massenhaft auf Baumwipfel gestreut, so daß eigentlich die ganze Krone mit Leimruthen überdeckt ist. Selbstverständlich wählt man immer einzeln stehende Bäume im Felde aus, welche den umwoh- nenden Vögeln als Ruheplatz dienen. Der Erfolg dieses Vogelfangs ist oft überraschend. Von zahl- reichen Finkenschwärmen, welche sich auf solchem Baume niederlassen, entgeht zuweilen kaum der vierte Theil den verrätherischen Ruthen. Selbst große schwere Vögel werden auf diese Weise gefangen: wir erhielten einen Adler (Pseudaetos Bonellii), dessen Gefieder durch diese feinen Rüthchen zusammen- geklebt und unbrauchbar geworden war.
"Dreihundert Jahre sind verflossen", sagt Bolle, "seit der Kanarienvogel durch Zähmung über die Grenzen seiner wahren Heimat hinausgeführt und Weltbürger geworden ist. Wie wenn von zwei Brüdern einer eine Laufbahn wählt, die ihm durch Gunst des Schicksals, seinen Begabungen eine ungeahnte Entfaltung gestattend, auf einen jener glänzenden Gipfel des Ruhmes hebt, an denen das Auge der Menschheit haftet, der andere aber im nächsten Umkreise seiner Geburtsstätte, den stillen Sit- ten und der schlichten Tracht seiner ländlichen Vorfahren getreu, nur von wenigen nahen Freunden gekannt und geschätzt, unberühmt und doch glücklicher vielleicht, fortlebt; ganz so ist es den beiden Arten eines Vogels ergangen, den die Natur ursprünglich zum Schmucke einsamer Jnseln des Welt- meeres bestimmt hatte. Der gesittete Mensch hat die Hand nach ihm ausgestreckt, ihn verpflanzt, ver- mehrt, an sein eigenes Schicksal gefesselt und durch Wartung und Pflege zahlreich auf einander fol- gender Geschlechter so durchgreifende Veränderungen an ihm bewirkt, daß wir jetzt fast geneigt sind, mit Linne und Brisson zu irren, indem wir in dem goldgelben Vögelchen das Urbild der Art erkennen möchten und darüber die wilde, grünliche Stammart, die unverändert geblieben ist, was sie von Anbe- ginn her war, beinahe vergessen haben. Wenn es nun für den Freund der Natur überhaupt von Wichtigkeit ist, das Lebensbild jeder beliebigen Art in möglichst klaren Zügen vor sich entrollt zu sehen, so wird im vorliegenden Falle die Theilnahme dadurch noch erhöht, daß wir es mit dem Urzustande eines Wesens zu thun haben, welches eine Geschichte besitzt und Vergleiche manchfacher Entwicklungs- stufen gestattet, welches, als ein fast nothwendiger Bestandtheil häuslicher Behaglichkeit, sich mit unsern frühesten Erinnerungen verknüpft, fast möchten wir sagen, als Echo des Familienglücks, eine wahrhafte Theilnahme des Herzens in Anspruch nimmt und zuletzt noch, abgesehen von seiner Schön- heit und seinen übrigen fesselnden Eigenschaften, aus weiter Ferne in unser Vaterland eingebürgert, seit lange schon für mehrere sonst arme Gegenden desselben eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle geworden ist."
Girlitz. Kanarienvogel.
ſeinem zarten Schnäbelchen nicht bewältigen, wenn ſie ihm jedoch zerquetſcht vorgelegt werden, nimmt er dieſelben gern an. Waſſer iſt ihm unentbehrlich; er trinkt viel und verdurſtet ſehr leicht.
Jung Eingefangene gewöhnen ſich bald an die Gefangenſchaft, werden aber nicht ſonderlich zahm. Sie bekunden auch im Käfig viele gute Eigenſchaften. Die Männchen ſingen ſehr fleißig, mit Aus- nahme der Mauſer faſt das ganze Jahr hindurch. Sie ſind immer munter und guter Dinge, fried- fertig andern Vögeln gegenüber und geſellig im hohen Grade, ſobald die Brutzeit vorüber iſt. Jn Spanien ſieht man ſie zuweilen in ſehr ſtarken Flügen, immer aber erſt im Herbſt. Dieſe geſellen ſich dann wohl auch auf kurze Zeit zu den Stieglitzen, Sperlingen und anderen Feldfinken, ohne jedoch eigentlich in Gemeinſchaft mit ihnen zu treten. Jm Geſellſchaftsbauer ſind ſie ganz allerliebſt; ſie bringen Leben unter die Menge und werden keinen der mit ihnen eingeſperrten Vögel beſchwerlich.
Unſere gewandten kleineren Raubſäugethiere und Raubvögel ſtellen auch dem Girlitz eifrig nach, und zumal die unerfahrenen Jungen mögen dieſen Feinden oft zum Opfer fallen. Der Menſch be- fehdet ſie bei uns zu Lande nicht, es ſei denn, daß ein Liebhaber Einige ſich erbeutet; in Spanien da- gegen werden ſie in großer Menge gefangen und zu Markte gebracht, ebenſo für den Käfig, als für die Küche. Man wendet dort eine ganz eigenthümliche Fangweiſe an. Der Eſparto, ein hartbinſiges Gras, welches in großer Menge in den ſpaniſchen Ebenen wächſt, wird zur Leimruthe vorgerichtet und dann maſſenhaft auf Baumwipfel geſtreut, ſo daß eigentlich die ganze Krone mit Leimruthen überdeckt iſt. Selbſtverſtändlich wählt man immer einzeln ſtehende Bäume im Felde aus, welche den umwoh- nenden Vögeln als Ruheplatz dienen. Der Erfolg dieſes Vogelfangs iſt oft überraſchend. Von zahl- reichen Finkenſchwärmen, welche ſich auf ſolchem Baume niederlaſſen, entgeht zuweilen kaum der vierte Theil den verrätheriſchen Ruthen. Selbſt große ſchwere Vögel werden auf dieſe Weiſe gefangen: wir erhielten einen Adler (Pseudaëtos Bonellii), deſſen Gefieder durch dieſe feinen Rüthchen zuſammen- geklebt und unbrauchbar geworden war.
„Dreihundert Jahre ſind verfloſſen‟, ſagt Bolle, „ſeit der Kanarienvogel durch Zähmung über die Grenzen ſeiner wahren Heimat hinausgeführt und Weltbürger geworden iſt. Wie wenn von zwei Brüdern einer eine Laufbahn wählt, die ihm durch Gunſt des Schickſals, ſeinen Begabungen eine ungeahnte Entfaltung geſtattend, auf einen jener glänzenden Gipfel des Ruhmes hebt, an denen das Auge der Menſchheit haftet, der andere aber im nächſten Umkreiſe ſeiner Geburtsſtätte, den ſtillen Sit- ten und der ſchlichten Tracht ſeiner ländlichen Vorfahren getreu, nur von wenigen nahen Freunden gekannt und geſchätzt, unberühmt und doch glücklicher vielleicht, fortlebt; ganz ſo iſt es den beiden Arten eines Vogels ergangen, den die Natur urſprünglich zum Schmucke einſamer Jnſeln des Welt- meeres beſtimmt hatte. Der geſittete Menſch hat die Hand nach ihm ausgeſtreckt, ihn verpflanzt, ver- mehrt, an ſein eigenes Schickſal gefeſſelt und durch Wartung und Pflege zahlreich auf einander fol- gender Geſchlechter ſo durchgreifende Veränderungen an ihm bewirkt, daß wir jetzt faſt geneigt ſind, mit Linné und Briſſon zu irren, indem wir in dem goldgelben Vögelchen das Urbild der Art erkennen möchten und darüber die wilde, grünliche Stammart, die unverändert geblieben iſt, was ſie von Anbe- ginn her war, beinahe vergeſſen haben. Wenn es nun für den Freund der Natur überhaupt von Wichtigkeit iſt, das Lebensbild jeder beliebigen Art in möglichſt klaren Zügen vor ſich entrollt zu ſehen, ſo wird im vorliegenden Falle die Theilnahme dadurch noch erhöht, daß wir es mit dem Urzuſtande eines Weſens zu thun haben, welches eine Geſchichte beſitzt und Vergleiche manchfacher Entwicklungs- ſtufen geſtattet, welches, als ein faſt nothwendiger Beſtandtheil häuslicher Behaglichkeit, ſich mit unſern früheſten Erinnerungen verknüpft, faſt möchten wir ſagen, als Echo des Familienglücks, eine wahrhafte Theilnahme des Herzens in Anſpruch nimmt und zuletzt noch, abgeſehen von ſeiner Schön- heit und ſeinen übrigen feſſelnden Eigenſchaften, aus weiter Ferne in unſer Vaterland eingebürgert, ſeit lange ſchon für mehrere ſonſt arme Gegenden deſſelben eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle geworden iſt.‟
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Girlitz. Kanarienvogel.
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Jung Eingefangene gewöhnen ſich bald an die Gefangenſchaft, werden aber nicht ſonderlich zahm.
Sie bekunden auch im Käfig viele gute Eigenſchaften. Die Männchen ſingen ſehr fleißig, mit Aus-
nahme der Mauſer faſt das ganze Jahr hindurch. Sie ſind immer munter und guter Dinge, fried-
fertig andern Vögeln gegenüber und geſellig im hohen Grade, ſobald die Brutzeit vorüber iſt. Jn
Spanien ſieht man ſie zuweilen in ſehr ſtarken Flügen, immer aber erſt im Herbſt. Dieſe geſellen ſich
dann wohl auch auf kurze Zeit zu den Stieglitzen, Sperlingen und anderen Feldfinken, ohne jedoch
eigentlich in Gemeinſchaft mit ihnen zu treten. Jm Geſellſchaftsbauer ſind ſie ganz allerliebſt; ſie
bringen Leben unter die Menge und werden keinen der mit ihnen eingeſperrten Vögel beſchwerlich.
Unſere gewandten kleineren Raubſäugethiere und Raubvögel ſtellen auch dem Girlitz eifrig nach,
und zumal die unerfahrenen Jungen mögen dieſen Feinden oft zum Opfer fallen. Der Menſch be-
fehdet ſie bei uns zu Lande nicht, es ſei denn, daß ein Liebhaber Einige ſich erbeutet; in Spanien da-
gegen werden ſie in großer Menge gefangen und zu Markte gebracht, ebenſo für den Käfig, als für
die Küche. Man wendet dort eine ganz eigenthümliche Fangweiſe an. Der Eſparto, ein hartbinſiges
Gras, welches in großer Menge in den ſpaniſchen Ebenen wächſt, wird zur Leimruthe vorgerichtet und
dann maſſenhaft auf Baumwipfel geſtreut, ſo daß eigentlich die ganze Krone mit Leimruthen überdeckt
iſt. Selbſtverſtändlich wählt man immer einzeln ſtehende Bäume im Felde aus, welche den umwoh-
nenden Vögeln als Ruheplatz dienen. Der Erfolg dieſes Vogelfangs iſt oft überraſchend. Von zahl-
reichen Finkenſchwärmen, welche ſich auf ſolchem Baume niederlaſſen, entgeht zuweilen kaum der vierte
Theil den verrätheriſchen Ruthen. Selbſt große ſchwere Vögel werden auf dieſe Weiſe gefangen: wir
erhielten einen Adler (Pseudaëtos Bonellii), deſſen Gefieder durch dieſe feinen Rüthchen zuſammen-
geklebt und unbrauchbar geworden war.
„Dreihundert Jahre ſind verfloſſen‟, ſagt Bolle, „ſeit der Kanarienvogel durch Zähmung über
die Grenzen ſeiner wahren Heimat hinausgeführt und Weltbürger geworden iſt. Wie wenn von
zwei Brüdern einer eine Laufbahn wählt, die ihm durch Gunſt des Schickſals, ſeinen Begabungen eine
ungeahnte Entfaltung geſtattend, auf einen jener glänzenden Gipfel des Ruhmes hebt, an denen das
Auge der Menſchheit haftet, der andere aber im nächſten Umkreiſe ſeiner Geburtsſtätte, den ſtillen Sit-
ten und der ſchlichten Tracht ſeiner ländlichen Vorfahren getreu, nur von wenigen nahen Freunden
gekannt und geſchätzt, unberühmt und doch glücklicher vielleicht, fortlebt; ganz ſo iſt es den beiden
Arten eines Vogels ergangen, den die Natur urſprünglich zum Schmucke einſamer Jnſeln des Welt-
meeres beſtimmt hatte. Der geſittete Menſch hat die Hand nach ihm ausgeſtreckt, ihn verpflanzt, ver-
mehrt, an ſein eigenes Schickſal gefeſſelt und durch Wartung und Pflege zahlreich auf einander fol-
gender Geſchlechter ſo durchgreifende Veränderungen an ihm bewirkt, daß wir jetzt faſt geneigt ſind, mit
Linné und Briſſon zu irren, indem wir in dem goldgelben Vögelchen das Urbild der Art erkennen
möchten und darüber die wilde, grünliche Stammart, die unverändert geblieben iſt, was ſie von Anbe-
ginn her war, beinahe vergeſſen haben. Wenn es nun für den Freund der Natur überhaupt von
Wichtigkeit iſt, das Lebensbild jeder beliebigen Art in möglichſt klaren Zügen vor ſich entrollt zu ſehen,
ſo wird im vorliegenden Falle die Theilnahme dadurch noch erhöht, daß wir es mit dem Urzuſtande
eines Weſens zu thun haben, welches eine Geſchichte beſitzt und Vergleiche manchfacher Entwicklungs-
ſtufen geſtattet, welches, als ein faſt nothwendiger Beſtandtheil häuslicher Behaglichkeit, ſich mit
unſern früheſten Erinnerungen verknüpft, faſt möchten wir ſagen, als Echo des Familienglücks, eine
wahrhafte Theilnahme des Herzens in Anſpruch nimmt und zuletzt noch, abgeſehen von ſeiner Schön-
heit und ſeinen übrigen feſſelnden Eigenſchaften, aus weiter Ferne in unſer Vaterland eingebürgert,
ſeit lange ſchon für mehrere ſonſt arme Gegenden deſſelben eine nicht unbedeutende Erwerbsquelle
geworden iſt.‟
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/137>, abgerufen am 21.11.2024.
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