Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Knacker. Sperlingsvögel. Kernbeißer.
den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach Radde zu denjenigen Vögeln,
welche sich mit der Zeit an solche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche
gepflanzt werden. Diese berührt er dann nicht nur regelmäßig auf seinem Zuge, sondern nistet auch
in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach
derselben streift er mit seinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieser Gelegenheit auch in die
Kirsch- und Gemüsegärten herein.

Ende Oktobers oder im November beginnt er seine Wanderschaft, im März kehrt er wieder zurück;
einzeln aber kommt er auch erst im Mai an: so habe ich ihn am ersten Tage des letztgenannten Monats
bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.

Jm Sommer wählt sich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten
Baumgärten, am liebsten in der Nähe von Kirschpflanzungen, und sucht sich hier die höchsten Bäume
aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im einsamen Walde und zwar
in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte sitzen.

Der Kernbeißer ist, wie sein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel.
Er pflegt lange auf ein und derselben Stelle zu sitzen und regt sich, wenn es nicht sein muß, ungern,
bequemt sich auch erst nach einigem Besinnen zum Auffliegen, fliegt nur mit Widerstreben weit und
kehrt beharrlich zu demselben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume
bewegt er sich ziemlich hurtig, auf der Erde aber ungeschickt: es fällt ihm schwer, den gewichtigen Leib
vermittelst der kurzen Füße fortzuschaffen. Auch sein Flug ist schwerfällig, aber schnell und rauschend.
Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und beschreibt deshalb nur seichte Bogenlinien. Vor
dem Niedersetzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu schweben.

Man darf sich nicht verleiten lassen, von dem plumpen Aussehen des Vogels auf seine geistigen
Eigenschaften zu schließen. Der Kernbeißer ist ein sehr vorsichtiger und listiger Gesell, welcher seine
Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf seine Sicherung Bedacht nimmt. "Er fliegt ungern
auf", sagt mein Vater, "wenn man sich ihm nähert, ist aber auch beim Fressen immer so auf seiner
Hut, daß er jede Gefahr sogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen sucht, daß er sich in dichtes
Laub verbirgt oder, wenn dieses nicht vorhanden ist, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er sich
hinlänglich versteckt hat; denn dann hält er sehr lange aus, was nur selten der Fall ist, wenn er frei
sitzt. Wenn die Bäume belaubt sind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu sehen
bekommt. Er verbirgt sich so gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe,
weil ich seiner durchaus nicht ansichtig werden konnte. Wenn er aufgescheucht wird, setzt er sich fast
immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können.
Mit seiner List verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend stellte ich einstmal einem Kirsch-
kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenster des Wohnhaufes Kohlsamen
fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; so scheu und klug war dieser Vogel. Er schien das
Feuergewehr recht gut zu kennen." Wenn eine Gesellschaft Kernbeißer auf Kirschbäumen sitzt, ist sie
freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorsichtig sind, sich möglichst lange
lautlos verhalten und erst beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen lassen. Jn der Fremde auf dem
Zuge ist der Kernbeißer ebenso scheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch-
aus nicht mehr, als seinen deutschen Landsleuten.

Am liebsten verzehrt der Kirschkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verschie-
dener Baumarten. "Die Kerne der verschiedenen Weiß- und Rothbuchen", sagt mein Vater, "scheint
er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirsche ab, befreit den Kern von dem Fleische, welches er
wegwirft, knackt ihn auf, läßt die steinige Schale fallen und verschluckt den eigentlichen Kern. Dies
Alles geschieht in einer halben, höchstens ganzen Minute und mit so großer Gewalt, daß man das
Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf
ähnliche Weise. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiseröhre gleich in den
Magen, und erst, wenn dieser voll ist, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von

Die Knacker. Sperlingsvögel. Kernbeißer.
den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach Radde zu denjenigen Vögeln,
welche ſich mit der Zeit an ſolche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche
gepflanzt werden. Dieſe berührt er dann nicht nur regelmäßig auf ſeinem Zuge, ſondern niſtet auch
in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach
derſelben ſtreift er mit ſeinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieſer Gelegenheit auch in die
Kirſch- und Gemüſegärten herein.

Ende Oktobers oder im November beginnt er ſeine Wanderſchaft, im März kehrt er wieder zurück;
einzeln aber kommt er auch erſt im Mai an: ſo habe ich ihn am erſten Tage des letztgenannten Monats
bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.

Jm Sommer wählt ſich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten
Baumgärten, am liebſten in der Nähe von Kirſchpflanzungen, und ſucht ſich hier die höchſten Bäume
aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im einſamen Walde und zwar
in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte ſitzen.

Der Kernbeißer iſt, wie ſein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel.
Er pflegt lange auf ein und derſelben Stelle zu ſitzen und regt ſich, wenn es nicht ſein muß, ungern,
bequemt ſich auch erſt nach einigem Beſinnen zum Auffliegen, fliegt nur mit Widerſtreben weit und
kehrt beharrlich zu demſelben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume
bewegt er ſich ziemlich hurtig, auf der Erde aber ungeſchickt: es fällt ihm ſchwer, den gewichtigen Leib
vermittelſt der kurzen Füße fortzuſchaffen. Auch ſein Flug iſt ſchwerfällig, aber ſchnell und rauſchend.
Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und beſchreibt deshalb nur ſeichte Bogenlinien. Vor
dem Niederſetzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu ſchweben.

Man darf ſich nicht verleiten laſſen, von dem plumpen Ausſehen des Vogels auf ſeine geiſtigen
Eigenſchaften zu ſchließen. Der Kernbeißer iſt ein ſehr vorſichtiger und liſtiger Geſell, welcher ſeine
Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf ſeine Sicherung Bedacht nimmt. „Er fliegt ungern
auf‟, ſagt mein Vater, „wenn man ſich ihm nähert, iſt aber auch beim Freſſen immer ſo auf ſeiner
Hut, daß er jede Gefahr ſogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen ſucht, daß er ſich in dichtes
Laub verbirgt oder, wenn dieſes nicht vorhanden iſt, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er ſich
hinlänglich verſteckt hat; denn dann hält er ſehr lange aus, was nur ſelten der Fall iſt, wenn er frei
ſitzt. Wenn die Bäume belaubt ſind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu ſehen
bekommt. Er verbirgt ſich ſo gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe,
weil ich ſeiner durchaus nicht anſichtig werden konnte. Wenn er aufgeſcheucht wird, ſetzt er ſich faſt
immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können.
Mit ſeiner Liſt verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend ſtellte ich einſtmal einem Kirſch-
kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenſter des Wohnhaufes Kohlſamen
fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; ſo ſcheu und klug war dieſer Vogel. Er ſchien das
Feuergewehr recht gut zu kennen.‟ Wenn eine Geſellſchaft Kernbeißer auf Kirſchbäumen ſitzt, iſt ſie
freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorſichtig ſind, ſich möglichſt lange
lautlos verhalten und erſt beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen laſſen. Jn der Fremde auf dem
Zuge iſt der Kernbeißer ebenſo ſcheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch-
aus nicht mehr, als ſeinen deutſchen Landsleuten.

Am liebſten verzehrt der Kirſchkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verſchie-
dener Baumarten. „Die Kerne der verſchiedenen Weiß- und Rothbuchen‟, ſagt mein Vater, „ſcheint
er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirſche ab, befreit den Kern von dem Fleiſche, welches er
wegwirft, knackt ihn auf, läßt die ſteinige Schale fallen und verſchluckt den eigentlichen Kern. Dies
Alles geſchieht in einer halben, höchſtens ganzen Minute und mit ſo großer Gewalt, daß man das
Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf
ähnliche Weiſe. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiſeröhre gleich in den
Magen, und erſt, wenn dieſer voll iſt, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0194" n="174"/><fw place="top" type="header">Die Knacker. Sperlingsvögel. Kernbeißer.</fw><lb/>
den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach <hi rendition="#g">Radde</hi> zu denjenigen Vögeln,<lb/>
welche &#x017F;ich mit der Zeit an &#x017F;olche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche<lb/>
gepflanzt werden. Die&#x017F;e berührt er dann nicht nur regelmäßig auf &#x017F;einem Zuge, &#x017F;ondern ni&#x017F;tet auch<lb/>
in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach<lb/>
der&#x017F;elben &#x017F;treift er mit &#x017F;einen Jungen im Lande umher und kommt bei die&#x017F;er Gelegenheit auch in die<lb/>
Kir&#x017F;ch- und Gemü&#x017F;egärten herein.</p><lb/>
          <p>Ende Oktobers oder im November beginnt er &#x017F;eine Wander&#x017F;chaft, im März kehrt er wieder zurück;<lb/>
einzeln aber kommt er auch er&#x017F;t im Mai an: &#x017F;o habe ich ihn am er&#x017F;ten Tage des letztgenannten Monats<lb/>
bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.</p><lb/>
          <p>Jm Sommer wählt &#x017F;ich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten<lb/>
Baumgärten, am lieb&#x017F;ten in der Nähe von Kir&#x017F;chpflanzungen, und &#x017F;ucht &#x017F;ich hier die höch&#x017F;ten Bäume<lb/>
aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im ein&#x017F;amen Walde und zwar<lb/>
in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte &#x017F;itzen.</p><lb/>
          <p>Der Kernbeißer i&#x017F;t, wie &#x017F;ein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel.<lb/>
Er pflegt lange auf ein und der&#x017F;elben Stelle zu &#x017F;itzen und regt &#x017F;ich, wenn es nicht &#x017F;ein muß, ungern,<lb/>
bequemt &#x017F;ich auch er&#x017F;t nach einigem Be&#x017F;innen zum Auffliegen, fliegt nur mit Wider&#x017F;treben weit und<lb/>
kehrt beharrlich zu dem&#x017F;elben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume<lb/>
bewegt er &#x017F;ich ziemlich hurtig, auf der Erde aber unge&#x017F;chickt: es fällt ihm &#x017F;chwer, den gewichtigen Leib<lb/>
vermittel&#x017F;t der kurzen Füße fortzu&#x017F;chaffen. Auch &#x017F;ein Flug i&#x017F;t &#x017F;chwerfällig, aber &#x017F;chnell und rau&#x017F;chend.<lb/>
Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und be&#x017F;chreibt deshalb nur &#x017F;eichte Bogenlinien. Vor<lb/>
dem Nieder&#x017F;etzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu &#x017F;chweben.</p><lb/>
          <p>Man darf &#x017F;ich nicht verleiten la&#x017F;&#x017F;en, von dem plumpen Aus&#x017F;ehen des Vogels auf &#x017F;eine gei&#x017F;tigen<lb/>
Eigen&#x017F;chaften zu &#x017F;chließen. Der Kernbeißer i&#x017F;t ein &#x017F;ehr vor&#x017F;ichtiger und li&#x017F;tiger Ge&#x017F;ell, welcher &#x017F;eine<lb/>
Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf &#x017F;eine Sicherung Bedacht nimmt. &#x201E;Er fliegt ungern<lb/>
auf&#x201F;, &#x017F;agt mein Vater, &#x201E;wenn man &#x017F;ich ihm nähert, i&#x017F;t aber auch beim Fre&#x017F;&#x017F;en immer &#x017F;o auf &#x017F;einer<lb/>
Hut, daß er jede Gefahr &#x017F;ogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen &#x017F;ucht, daß er &#x017F;ich in dichtes<lb/>
Laub verbirgt oder, wenn die&#x017F;es nicht vorhanden i&#x017F;t, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er &#x017F;ich<lb/>
hinlänglich ver&#x017F;teckt hat; denn dann hält er &#x017F;ehr lange aus, was nur &#x017F;elten der Fall i&#x017F;t, wenn er frei<lb/>
&#x017F;itzt. Wenn die Bäume belaubt &#x017F;ind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu &#x017F;ehen<lb/>
bekommt. Er verbirgt &#x017F;ich &#x017F;o gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe,<lb/>
weil ich &#x017F;einer durchaus nicht an&#x017F;ichtig werden konnte. Wenn er aufge&#x017F;cheucht wird, &#x017F;etzt er &#x017F;ich fa&#x017F;t<lb/>
immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können.<lb/>
Mit &#x017F;einer Li&#x017F;t verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend &#x017F;tellte ich ein&#x017F;tmal einem Kir&#x017F;ch-<lb/>
kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fen&#x017F;ter des Wohnhaufes Kohl&#x017F;amen<lb/>
fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; &#x017F;o &#x017F;cheu und klug war die&#x017F;er Vogel. Er &#x017F;chien das<lb/>
Feuergewehr recht gut zu kennen.&#x201F; Wenn eine Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft Kernbeißer auf Kir&#x017F;chbäumen &#x017F;itzt, i&#x017F;t &#x017F;ie<lb/>
freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vor&#x017F;ichtig &#x017F;ind, &#x017F;ich möglich&#x017F;t lange<lb/>
lautlos verhalten und er&#x017F;t beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen la&#x017F;&#x017F;en. Jn der Fremde auf dem<lb/>
Zuge i&#x017F;t der Kernbeißer eben&#x017F;o &#x017F;cheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch-<lb/>
aus nicht mehr, als &#x017F;einen deut&#x017F;chen Landsleuten.</p><lb/>
          <p>Am lieb&#x017F;ten verzehrt der Kir&#x017F;chkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne ver&#x017F;chie-<lb/>
dener Baumarten. &#x201E;Die Kerne der ver&#x017F;chiedenen Weiß- und Rothbuchen&#x201F;, &#x017F;agt mein Vater, &#x201E;&#x017F;cheint<lb/>
er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kir&#x017F;che ab, befreit den Kern von dem Flei&#x017F;che, welches er<lb/>
wegwirft, knackt ihn auf, läßt die &#x017F;teinige Schale fallen und ver&#x017F;chluckt den eigentlichen Kern. Dies<lb/>
Alles ge&#x017F;chieht in einer halben, höch&#x017F;tens ganzen Minute und mit &#x017F;o großer Gewalt, daß man das<lb/>
Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf<lb/>
ähnliche Wei&#x017F;e. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Spei&#x017F;eröhre gleich in den<lb/>
Magen, und er&#x017F;t, wenn die&#x017F;er voll i&#x017F;t, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[174/0194] Die Knacker. Sperlingsvögel. Kernbeißer. den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach Radde zu denjenigen Vögeln, welche ſich mit der Zeit an ſolche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche gepflanzt werden. Dieſe berührt er dann nicht nur regelmäßig auf ſeinem Zuge, ſondern niſtet auch in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach derſelben ſtreift er mit ſeinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieſer Gelegenheit auch in die Kirſch- und Gemüſegärten herein. Ende Oktobers oder im November beginnt er ſeine Wanderſchaft, im März kehrt er wieder zurück; einzeln aber kommt er auch erſt im Mai an: ſo habe ich ihn am erſten Tage des letztgenannten Monats bei Madrid auf dem Zuge beobachtet. Jm Sommer wählt ſich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten Baumgärten, am liebſten in der Nähe von Kirſchpflanzungen, und ſucht ſich hier die höchſten Bäume aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im einſamen Walde und zwar in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte ſitzen. Der Kernbeißer iſt, wie ſein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel. Er pflegt lange auf ein und derſelben Stelle zu ſitzen und regt ſich, wenn es nicht ſein muß, ungern, bequemt ſich auch erſt nach einigem Beſinnen zum Auffliegen, fliegt nur mit Widerſtreben weit und kehrt beharrlich zu demſelben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume bewegt er ſich ziemlich hurtig, auf der Erde aber ungeſchickt: es fällt ihm ſchwer, den gewichtigen Leib vermittelſt der kurzen Füße fortzuſchaffen. Auch ſein Flug iſt ſchwerfällig, aber ſchnell und rauſchend. Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und beſchreibt deshalb nur ſeichte Bogenlinien. Vor dem Niederſetzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu ſchweben. Man darf ſich nicht verleiten laſſen, von dem plumpen Ausſehen des Vogels auf ſeine geiſtigen Eigenſchaften zu ſchließen. Der Kernbeißer iſt ein ſehr vorſichtiger und liſtiger Geſell, welcher ſeine Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf ſeine Sicherung Bedacht nimmt. „Er fliegt ungern auf‟, ſagt mein Vater, „wenn man ſich ihm nähert, iſt aber auch beim Freſſen immer ſo auf ſeiner Hut, daß er jede Gefahr ſogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen ſucht, daß er ſich in dichtes Laub verbirgt oder, wenn dieſes nicht vorhanden iſt, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er ſich hinlänglich verſteckt hat; denn dann hält er ſehr lange aus, was nur ſelten der Fall iſt, wenn er frei ſitzt. Wenn die Bäume belaubt ſind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu ſehen bekommt. Er verbirgt ſich ſo gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe, weil ich ſeiner durchaus nicht anſichtig werden konnte. Wenn er aufgeſcheucht wird, ſetzt er ſich faſt immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können. Mit ſeiner Liſt verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend ſtellte ich einſtmal einem Kirſch- kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenſter des Wohnhaufes Kohlſamen fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; ſo ſcheu und klug war dieſer Vogel. Er ſchien das Feuergewehr recht gut zu kennen.‟ Wenn eine Geſellſchaft Kernbeißer auf Kirſchbäumen ſitzt, iſt ſie freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorſichtig ſind, ſich möglichſt lange lautlos verhalten und erſt beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen laſſen. Jn der Fremde auf dem Zuge iſt der Kernbeißer ebenſo ſcheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch- aus nicht mehr, als ſeinen deutſchen Landsleuten. Am liebſten verzehrt der Kirſchkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verſchie- dener Baumarten. „Die Kerne der verſchiedenen Weiß- und Rothbuchen‟, ſagt mein Vater, „ſcheint er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirſche ab, befreit den Kern von dem Fleiſche, welches er wegwirft, knackt ihn auf, läßt die ſteinige Schale fallen und verſchluckt den eigentlichen Kern. Dies Alles geſchieht in einer halben, höchſtens ganzen Minute und mit ſo großer Gewalt, daß man das Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf ähnliche Weiſe. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiſeröhre gleich in den Magen, und erſt, wenn dieſer voll iſt, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/194
Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/194>, abgerufen am 21.11.2024.