den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach Radde zu denjenigen Vögeln, welche sich mit der Zeit an solche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche gepflanzt werden. Diese berührt er dann nicht nur regelmäßig auf seinem Zuge, sondern nistet auch in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach derselben streift er mit seinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieser Gelegenheit auch in die Kirsch- und Gemüsegärten herein.
Ende Oktobers oder im November beginnt er seine Wanderschaft, im März kehrt er wieder zurück; einzeln aber kommt er auch erst im Mai an: so habe ich ihn am ersten Tage des letztgenannten Monats bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.
Jm Sommer wählt sich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten Baumgärten, am liebsten in der Nähe von Kirschpflanzungen, und sucht sich hier die höchsten Bäume aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im einsamen Walde und zwar in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte sitzen.
Der Kernbeißer ist, wie sein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel. Er pflegt lange auf ein und derselben Stelle zu sitzen und regt sich, wenn es nicht sein muß, ungern, bequemt sich auch erst nach einigem Besinnen zum Auffliegen, fliegt nur mit Widerstreben weit und kehrt beharrlich zu demselben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume bewegt er sich ziemlich hurtig, auf der Erde aber ungeschickt: es fällt ihm schwer, den gewichtigen Leib vermittelst der kurzen Füße fortzuschaffen. Auch sein Flug ist schwerfällig, aber schnell und rauschend. Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und beschreibt deshalb nur seichte Bogenlinien. Vor dem Niedersetzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu schweben.
Man darf sich nicht verleiten lassen, von dem plumpen Aussehen des Vogels auf seine geistigen Eigenschaften zu schließen. Der Kernbeißer ist ein sehr vorsichtiger und listiger Gesell, welcher seine Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf seine Sicherung Bedacht nimmt. "Er fliegt ungern auf", sagt mein Vater, "wenn man sich ihm nähert, ist aber auch beim Fressen immer so auf seiner Hut, daß er jede Gefahr sogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen sucht, daß er sich in dichtes Laub verbirgt oder, wenn dieses nicht vorhanden ist, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er sich hinlänglich versteckt hat; denn dann hält er sehr lange aus, was nur selten der Fall ist, wenn er frei sitzt. Wenn die Bäume belaubt sind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu sehen bekommt. Er verbirgt sich so gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe, weil ich seiner durchaus nicht ansichtig werden konnte. Wenn er aufgescheucht wird, setzt er sich fast immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können. Mit seiner List verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend stellte ich einstmal einem Kirsch- kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenster des Wohnhaufes Kohlsamen fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; so scheu und klug war dieser Vogel. Er schien das Feuergewehr recht gut zu kennen." Wenn eine Gesellschaft Kernbeißer auf Kirschbäumen sitzt, ist sie freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorsichtig sind, sich möglichst lange lautlos verhalten und erst beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen lassen. Jn der Fremde auf dem Zuge ist der Kernbeißer ebenso scheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch- aus nicht mehr, als seinen deutschen Landsleuten.
Am liebsten verzehrt der Kirschkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verschie- dener Baumarten. "Die Kerne der verschiedenen Weiß- und Rothbuchen", sagt mein Vater, "scheint er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirsche ab, befreit den Kern von dem Fleische, welches er wegwirft, knackt ihn auf, läßt die steinige Schale fallen und verschluckt den eigentlichen Kern. Dies Alles geschieht in einer halben, höchstens ganzen Minute und mit so großer Gewalt, daß man das Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf ähnliche Weise. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiseröhre gleich in den Magen, und erst, wenn dieser voll ist, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von
Die Knacker. Sperlingsvögel. Kernbeißer.
den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach Radde zu denjenigen Vögeln, welche ſich mit der Zeit an ſolche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche gepflanzt werden. Dieſe berührt er dann nicht nur regelmäßig auf ſeinem Zuge, ſondern niſtet auch in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach derſelben ſtreift er mit ſeinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieſer Gelegenheit auch in die Kirſch- und Gemüſegärten herein.
Ende Oktobers oder im November beginnt er ſeine Wanderſchaft, im März kehrt er wieder zurück; einzeln aber kommt er auch erſt im Mai an: ſo habe ich ihn am erſten Tage des letztgenannten Monats bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.
Jm Sommer wählt ſich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten Baumgärten, am liebſten in der Nähe von Kirſchpflanzungen, und ſucht ſich hier die höchſten Bäume aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im einſamen Walde und zwar in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte ſitzen.
Der Kernbeißer iſt, wie ſein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel. Er pflegt lange auf ein und derſelben Stelle zu ſitzen und regt ſich, wenn es nicht ſein muß, ungern, bequemt ſich auch erſt nach einigem Beſinnen zum Auffliegen, fliegt nur mit Widerſtreben weit und kehrt beharrlich zu demſelben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume bewegt er ſich ziemlich hurtig, auf der Erde aber ungeſchickt: es fällt ihm ſchwer, den gewichtigen Leib vermittelſt der kurzen Füße fortzuſchaffen. Auch ſein Flug iſt ſchwerfällig, aber ſchnell und rauſchend. Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und beſchreibt deshalb nur ſeichte Bogenlinien. Vor dem Niederſetzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu ſchweben.
Man darf ſich nicht verleiten laſſen, von dem plumpen Ausſehen des Vogels auf ſeine geiſtigen Eigenſchaften zu ſchließen. Der Kernbeißer iſt ein ſehr vorſichtiger und liſtiger Geſell, welcher ſeine Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf ſeine Sicherung Bedacht nimmt. „Er fliegt ungern auf‟, ſagt mein Vater, „wenn man ſich ihm nähert, iſt aber auch beim Freſſen immer ſo auf ſeiner Hut, daß er jede Gefahr ſogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen ſucht, daß er ſich in dichtes Laub verbirgt oder, wenn dieſes nicht vorhanden iſt, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er ſich hinlänglich verſteckt hat; denn dann hält er ſehr lange aus, was nur ſelten der Fall iſt, wenn er frei ſitzt. Wenn die Bäume belaubt ſind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu ſehen bekommt. Er verbirgt ſich ſo gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe, weil ich ſeiner durchaus nicht anſichtig werden konnte. Wenn er aufgeſcheucht wird, ſetzt er ſich faſt immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können. Mit ſeiner Liſt verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend ſtellte ich einſtmal einem Kirſch- kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenſter des Wohnhaufes Kohlſamen fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; ſo ſcheu und klug war dieſer Vogel. Er ſchien das Feuergewehr recht gut zu kennen.‟ Wenn eine Geſellſchaft Kernbeißer auf Kirſchbäumen ſitzt, iſt ſie freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorſichtig ſind, ſich möglichſt lange lautlos verhalten und erſt beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen laſſen. Jn der Fremde auf dem Zuge iſt der Kernbeißer ebenſo ſcheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch- aus nicht mehr, als ſeinen deutſchen Landsleuten.
Am liebſten verzehrt der Kirſchkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verſchie- dener Baumarten. „Die Kerne der verſchiedenen Weiß- und Rothbuchen‟, ſagt mein Vater, „ſcheint er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirſche ab, befreit den Kern von dem Fleiſche, welches er wegwirft, knackt ihn auf, läßt die ſteinige Schale fallen und verſchluckt den eigentlichen Kern. Dies Alles geſchieht in einer halben, höchſtens ganzen Minute und mit ſo großer Gewalt, daß man das Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf ähnliche Weiſe. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiſeröhre gleich in den Magen, und erſt, wenn dieſer voll iſt, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0194"n="174"/><fwplace="top"type="header">Die Knacker. Sperlingsvögel. Kernbeißer.</fw><lb/>
den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach <hirendition="#g">Radde</hi> zu denjenigen Vögeln,<lb/>
welche ſich mit der Zeit an ſolche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche<lb/>
gepflanzt werden. Dieſe berührt er dann nicht nur regelmäßig auf ſeinem Zuge, ſondern niſtet auch<lb/>
in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach<lb/>
derſelben ſtreift er mit ſeinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieſer Gelegenheit auch in die<lb/>
Kirſch- und Gemüſegärten herein.</p><lb/><p>Ende Oktobers oder im November beginnt er ſeine Wanderſchaft, im März kehrt er wieder zurück;<lb/>
einzeln aber kommt er auch erſt im Mai an: ſo habe ich ihn am erſten Tage des letztgenannten Monats<lb/>
bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.</p><lb/><p>Jm Sommer wählt ſich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten<lb/>
Baumgärten, am liebſten in der Nähe von Kirſchpflanzungen, und ſucht ſich hier die höchſten Bäume<lb/>
aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im einſamen Walde und zwar<lb/>
in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte ſitzen.</p><lb/><p>Der Kernbeißer iſt, wie ſein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel.<lb/>
Er pflegt lange auf ein und derſelben Stelle zu ſitzen und regt ſich, wenn es nicht ſein muß, ungern,<lb/>
bequemt ſich auch erſt nach einigem Beſinnen zum Auffliegen, fliegt nur mit Widerſtreben weit und<lb/>
kehrt beharrlich zu demſelben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume<lb/>
bewegt er ſich ziemlich hurtig, auf der Erde aber ungeſchickt: es fällt ihm ſchwer, den gewichtigen Leib<lb/>
vermittelſt der kurzen Füße fortzuſchaffen. Auch ſein Flug iſt ſchwerfällig, aber ſchnell und rauſchend.<lb/>
Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und beſchreibt deshalb nur ſeichte Bogenlinien. Vor<lb/>
dem Niederſetzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu ſchweben.</p><lb/><p>Man darf ſich nicht verleiten laſſen, von dem plumpen Ausſehen des Vogels auf ſeine geiſtigen<lb/>
Eigenſchaften zu ſchließen. Der Kernbeißer iſt ein ſehr vorſichtiger und liſtiger Geſell, welcher ſeine<lb/>
Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf ſeine Sicherung Bedacht nimmt. „Er fliegt ungern<lb/>
auf‟, ſagt mein Vater, „wenn man ſich ihm nähert, iſt aber auch beim Freſſen immer ſo auf ſeiner<lb/>
Hut, daß er jede Gefahr ſogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen ſucht, daß er ſich in dichtes<lb/>
Laub verbirgt oder, wenn dieſes nicht vorhanden iſt, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er ſich<lb/>
hinlänglich verſteckt hat; denn dann hält er ſehr lange aus, was nur ſelten der Fall iſt, wenn er frei<lb/>ſitzt. Wenn die Bäume belaubt ſind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu ſehen<lb/>
bekommt. Er verbirgt ſich ſo gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe,<lb/>
weil ich ſeiner durchaus nicht anſichtig werden konnte. Wenn er aufgeſcheucht wird, ſetzt er ſich faſt<lb/>
immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können.<lb/>
Mit ſeiner Liſt verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend ſtellte ich einſtmal einem Kirſch-<lb/>
kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenſter des Wohnhaufes Kohlſamen<lb/>
fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; ſo ſcheu und klug war dieſer Vogel. Er ſchien das<lb/>
Feuergewehr recht gut zu kennen.‟ Wenn eine Geſellſchaft Kernbeißer auf Kirſchbäumen ſitzt, iſt ſie<lb/>
freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorſichtig ſind, ſich möglichſt lange<lb/>
lautlos verhalten und erſt beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen laſſen. Jn der Fremde auf dem<lb/>
Zuge iſt der Kernbeißer ebenſo ſcheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch-<lb/>
aus nicht mehr, als ſeinen deutſchen Landsleuten.</p><lb/><p>Am liebſten verzehrt der Kirſchkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verſchie-<lb/>
dener Baumarten. „Die Kerne der verſchiedenen Weiß- und Rothbuchen‟, ſagt mein Vater, „ſcheint<lb/>
er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirſche ab, befreit den Kern von dem Fleiſche, welches er<lb/>
wegwirft, knackt ihn auf, läßt die ſteinige Schale fallen und verſchluckt den eigentlichen Kern. Dies<lb/>
Alles geſchieht in einer halben, höchſtens ganzen Minute und mit ſo großer Gewalt, daß man das<lb/>
Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf<lb/>
ähnliche Weiſe. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiſeröhre gleich in den<lb/>
Magen, und erſt, wenn dieſer voll iſt, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[174/0194]
Die Knacker. Sperlingsvögel. Kernbeißer.
den Nadelwald meidet er immer. Jn Südrußland gehört er nach Radde zu denjenigen Vögeln,
welche ſich mit der Zeit an ſolche Steppengegenden gewöhnen, wo nach und nach Bäume und Sträuche
gepflanzt werden. Dieſe berührt er dann nicht nur regelmäßig auf ſeinem Zuge, ſondern niſtet auch
in ihnen. Die Laubwaldungen geben ihm übrigens nur während der Brutzeit Herberge; denn nach
derſelben ſtreift er mit ſeinen Jungen im Lande umher und kommt bei dieſer Gelegenheit auch in die
Kirſch- und Gemüſegärten herein.
Ende Oktobers oder im November beginnt er ſeine Wanderſchaft, im März kehrt er wieder zurück;
einzeln aber kommt er auch erſt im Mai an: ſo habe ich ihn am erſten Tage des letztgenannten Monats
bei Madrid auf dem Zuge beobachtet.
Jm Sommer wählt ſich jedes Paar ein ziemlich großes Gebiet in Feldhölzern oder ausgedehnten
Baumgärten, am liebſten in der Nähe von Kirſchpflanzungen, und ſucht ſich hier die höchſten Bäume
aus, welche allen übrigen bevorzugt werden. Die Nachtruhe hält es im einſamen Walde und zwar
in der dichten Krone eines Baumes ab, wo beide auf einem Zweige dicht am Schafte ſitzen.
Der Kernbeißer iſt, wie ſein Leibesbau vermuthen läßt, ein etwas plumper und träger Vogel.
Er pflegt lange auf ein und derſelben Stelle zu ſitzen und regt ſich, wenn es nicht ſein muß, ungern,
bequemt ſich auch erſt nach einigem Beſinnen zum Auffliegen, fliegt nur mit Widerſtreben weit und
kehrt beharrlich zu demſelben Orte zurück, von welchem er verjagt wurde. Jm Gezweig der Bäume
bewegt er ſich ziemlich hurtig, auf der Erde aber ungeſchickt: es fällt ihm ſchwer, den gewichtigen Leib
vermittelſt der kurzen Füße fortzuſchaffen. Auch ſein Flug iſt ſchwerfällig, aber ſchnell und rauſchend.
Er erfordert unaufhörliche Flügelbewegungen und beſchreibt deshalb nur ſeichte Bogenlinien. Vor
dem Niederſetzen pflegt der Kerubeißer eine kurze Strecke weit zu ſchweben.
Man darf ſich nicht verleiten laſſen, von dem plumpen Ausſehen des Vogels auf ſeine geiſtigen
Eigenſchaften zu ſchließen. Der Kernbeißer iſt ein ſehr vorſichtiger und liſtiger Geſell, welcher ſeine
Feinde bald kennen lernt und mit Schlauheit auf ſeine Sicherung Bedacht nimmt. „Er fliegt ungern
auf‟, ſagt mein Vater, „wenn man ſich ihm nähert, iſt aber auch beim Freſſen immer ſo auf ſeiner
Hut, daß er jede Gefahr ſogleich bemerkt und ihr dadurch zu entgehen ſucht, daß er ſich in dichtes
Laub verbirgt oder, wenn dieſes nicht vorhanden iſt, flüchtet. Er weiß es recht gut, wenn er ſich
hinlänglich verſteckt hat; denn dann hält er ſehr lange aus, was nur ſelten der Fall iſt, wenn er frei
ſitzt. Wenn die Bäume belaubt ſind, kann man ihn lange knacken hören, ehe man ihn zu ſehen
bekommt. Er verbirgt ſich ſo gut, daß ich zuweilen durch Steinwürfe auf andere Bäume gejagt habe,
weil ich ſeiner durchaus nicht anſichtig werden konnte. Wenn er aufgeſcheucht wird, ſetzt er ſich faſt
immer auf die Spitzen der Bäume, um jede ihm drohende Gefahr von weitem bemerken zu können.
Mit ſeiner Liſt verbindet er eine große Keckheit. Jn meiner Jugend ſtellte ich einſtmal einem Kirſch-
kernbeißer, der in den Gärten meines Vaters gleich vor dem Fenſter des Wohnhaufes Kohlſamen
fraß, acht Tage lang nach, ehe ich ihn erlegte; ſo ſcheu und klug war dieſer Vogel. Er ſchien das
Feuergewehr recht gut zu kennen.‟ Wenn eine Geſellſchaft Kernbeißer auf Kirſchbäumen ſitzt, iſt ſie
freilich leichter zu berücken, obwohl auch dann die Alten noch immer vorſichtig ſind, ſich möglichſt lange
lautlos verhalten und erſt beim Wegfliegen ihre Stimme vernehmen laſſen. Jn der Fremde auf dem
Zuge iſt der Kernbeißer ebenſo ſcheu als in der Heimat. Er traut den Spaniern und Arabern durch-
aus nicht mehr, als ſeinen deutſchen Landsleuten.
Am liebſten verzehrt der Kirſchkernbeißer die von einer harten Schale umgebenen Kerne verſchie-
dener Baumarten. „Die Kerne der verſchiedenen Weiß- und Rothbuchen‟, ſagt mein Vater, „ſcheint
er allen anderen vorzuziehen. Er beißt die Kirſche ab, befreit den Kern von dem Fleiſche, welches er
wegwirft, knackt ihn auf, läßt die ſteinige Schale fallen und verſchluckt den eigentlichen Kern. Dies
Alles geſchieht in einer halben, höchſtens ganzen Minute und mit ſo großer Gewalt, daß man das
Aufknacken auf dreißig Schritte weit hören kann. Mit dem Samen der Weißbuche verfährt er auf
ähnliche Weiſe. Die von der Schale entblößten Kerne gehen durch die Speiſeröhre gleich in den
Magen, und erſt, wenn dieſer voll iſt, wird der Kropf von ihnen angefüllt. Wenn die Bäume von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/194>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.