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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Elstervögelchen.
in den Garten und stellte den Käfig mit den Jungen so auf, daß das Licht des dämmernden Tages
durch das Nistloch hineinfiel. Noch rührte sich kein Vogel, das Elsterweibchen aber, noch immer auf
dem Nußbaum, hatte sein altes Klagelied schon wieder angestimmt. Nicht lange währte es, doch für
meine Ungeduld viel zu lang, da stimmten die sechs Jungen den Hungerchor an, und Herr Papa mußte
sich bequemen, aus dem warmen Neste in die Morgenfrische hinaus zu treten. Er schien herrlich aus-
geruht. Wie mochte sein armes Weibchen die Nacht verbracht haben?! Mit dem ersten Ton, der aus
dem Neste erscholl, stürzte das Weibchen aus dem Nußbaumdickicht hervor und flog auf den dem Käfig
nächsten Pflaumenbaum. Das Gebauer war zu beiden Seiten der Erker mit Leimruthen gespickt.
Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Athem stand ich in Gesellschaft eines gedienten und bewähr-
ten Vogelstellers, den ich zu diesem kostbaren Fange eigens bestellt hatte, auf einige Entfernung im
Versteck. Das Männchen antwortete dem Weibchen mit süßgewohnten Tönen, und da erst schien es
Muth zu fassen, kam von seinem Baume herab und tanzte nunmehr rund um den Bauer unruhig hin
und her, jede Spalte des Gitterwerks versuchend, ob ihr der Eingang gestattet sei. Auf den Käfig
selbst und auf das Erkernest flog sie nicht. Rasch wurde der Entschluß gefaßt, die Leimruthen am
Boden des Käfigs anzubringen. Sie flüchtete bei unserer Annäherung zum nächsten Baume auf.
Kaum aber hatten wir uns wieder entfernt, so flog sie zur Erde nieder, munter zwischen den Leim-
ruthen hüpfend, ihre früheren Versuche zu erneuern. Jetzt versuchte sie aufzufliegen -- und da lag sie,
jämmerlich schreiend, an Kopf, Hals und Flügeln in ein Gewirre von Leimruthen gewickelt. Mein
Vogeltobias sprang zu, ergriff die seltene Beute, entfernte die Leimruthen, und ich eilte mit dem Käfig
ins Gartenzimmer und schloß sorgfältig hinter uns die Thür. Jetzt galt es, den Leim aus dem Ge-
fieder zu entfernen. Asche her! Vogeltobias war nicht im Stande, so zitterten die Glieder, diese
Reinigung vorzunehmen. Deutsche Vögel hatte er genug gefangen, aber das war ja ein Afrikaner!
Und wer vermöchte die spannenden Augenblicke zu beschreiben, wie der Vogel aus seinem Versteck her-
vorstürzte, an seinem Käfig niederflog und wie er, zwischen den Leimruthen hindurchtänzelnd, begierig
gerade Das erstrebte, was auch wir beabsichtigten, und eben noch zu entfliehen drohte, als sich die fei-
nen Rüthchen um sein Gefieder hefteten und ihn zitternd in seines Freundes zitternde Hand brachten.
Die Begrüßung beider Vögel war eine sehr kurze, und unter jedem andern Verhältniß würde der
Vogel sicherlich für das Wichtigste gehalten haben, sein verliedertes Federkleid in Ordnung zu bringen.
Der Mutter aber war Nichts wichtiger, als ihre Kinder zu besuchen und mit Futter zu versorgen.
Dann erst ging es an ein Putzen und Striegeln, was diesmal keine leichte Arbeit war."

"Der Gatte war nie wieder so ungestüm und ungezogen, ermöglichte aber doch, daß am 17. Sep-
tember -- noch waren die Jungen kaum so weit, daß sie allein fraßen -- das Weibchen wieder zu
legen begann. Am 5. Oktober waren vier Junge ausgeschlüpft. Am 18. November sollte das Weib-
chen das letzte Ei legen. Sie starb dabei, jedenfalls an Erschöpfung. Und mir blieb nur
übrig zu bereuen, der widernatürlichen Brütelust nicht Fesseln angelegt zu haben, dadurch vielleicht, daß
ich das Pärchen trennte. Aber die Herzinnigkeit der beiden Gatten war so groß, daß eine Trennung
mir grausam und für das Leben beider nicht minder bedenklich schien."

"Das Weibchen hat also 26 Junge aufgebracht, und wenn wir bei der fünfwöchentlichen Brüte-
zeit, wie höchst wahrscheinlich zutreffen wird, zwei Gelege rechnen, beinahe ein halbes Hundert Eier
gelegt, von Ende September des einen Jahres bis zu ihrem Tode Mitte November des anderen
Jahres, eigentlich ohne Unterbrechung, mit der Brut sich beschäftigt."

"Jedes Gelege zählte 4 bis 6 Eier von länglicher Form, niedlicher Größe und ohne Abzeichnung
weiß. Binnen 24 Stunden wurde ein Ei gelegt; die Brütezeit kann man vom letzten Ei an auf
12 Tage berechnen. Jhre Entwickelung schreitet vom zehnten Tag an erstaunlich vorwärts; mit
dem sechszehnten bis achtzehnten Tage verlassen sie fast vollständig befiedert das Nest und lernen schnell
allein ans Futter gehen. Die Elstervögel füttern aus dem Kropf und lieben als Zukost für ihre Kin-
der, zumal in den ersten acht Tagen, thierische Nahrung (Ameiseneier); sie müssen jedenfalls die Nacht
über auch den Jungen aus ihrem mit Vorrath versehenen Kropfe Einiges beizubringen wissen, da sie

Elſtervögelchen.
in den Garten und ſtellte den Käfig mit den Jungen ſo auf, daß das Licht des dämmernden Tages
durch das Niſtloch hineinfiel. Noch rührte ſich kein Vogel, das Elſterweibchen aber, noch immer auf
dem Nußbaum, hatte ſein altes Klagelied ſchon wieder angeſtimmt. Nicht lange währte es, doch für
meine Ungeduld viel zu lang, da ſtimmten die ſechs Jungen den Hungerchor an, und Herr Papa mußte
ſich bequemen, aus dem warmen Neſte in die Morgenfriſche hinaus zu treten. Er ſchien herrlich aus-
geruht. Wie mochte ſein armes Weibchen die Nacht verbracht haben?! Mit dem erſten Ton, der aus
dem Neſte erſcholl, ſtürzte das Weibchen aus dem Nußbaumdickicht hervor und flog auf den dem Käfig
nächſten Pflaumenbaum. Das Gebauer war zu beiden Seiten der Erker mit Leimruthen geſpickt.
Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Athem ſtand ich in Geſellſchaft eines gedienten und bewähr-
ten Vogelſtellers, den ich zu dieſem koſtbaren Fange eigens beſtellt hatte, auf einige Entfernung im
Verſteck. Das Männchen antwortete dem Weibchen mit ſüßgewohnten Tönen, und da erſt ſchien es
Muth zu faſſen, kam von ſeinem Baume herab und tanzte nunmehr rund um den Bauer unruhig hin
und her, jede Spalte des Gitterwerks verſuchend, ob ihr der Eingang geſtattet ſei. Auf den Käfig
ſelbſt und auf das Erkerneſt flog ſie nicht. Raſch wurde der Entſchluß gefaßt, die Leimruthen am
Boden des Käfigs anzubringen. Sie flüchtete bei unſerer Annäherung zum nächſten Baume auf.
Kaum aber hatten wir uns wieder entfernt, ſo flog ſie zur Erde nieder, munter zwiſchen den Leim-
ruthen hüpfend, ihre früheren Verſuche zu erneuern. Jetzt verſuchte ſie aufzufliegen — und da lag ſie,
jämmerlich ſchreiend, an Kopf, Hals und Flügeln in ein Gewirre von Leimruthen gewickelt. Mein
Vogeltobias ſprang zu, ergriff die ſeltene Beute, entfernte die Leimruthen, und ich eilte mit dem Käfig
ins Gartenzimmer und ſchloß ſorgfältig hinter uns die Thür. Jetzt galt es, den Leim aus dem Ge-
fieder zu entfernen. Aſche her! Vogeltobias war nicht im Stande, ſo zitterten die Glieder, dieſe
Reinigung vorzunehmen. Deutſche Vögel hatte er genug gefangen, aber das war ja ein Afrikaner!
Und wer vermöchte die ſpannenden Augenblicke zu beſchreiben, wie der Vogel aus ſeinem Verſteck her-
vorſtürzte, an ſeinem Käfig niederflog und wie er, zwiſchen den Leimruthen hindurchtänzelnd, begierig
gerade Das erſtrebte, was auch wir beabſichtigten, und eben noch zu entfliehen drohte, als ſich die fei-
nen Rüthchen um ſein Gefieder hefteten und ihn zitternd in ſeines Freundes zitternde Hand brachten.
Die Begrüßung beider Vögel war eine ſehr kurze, und unter jedem andern Verhältniß würde der
Vogel ſicherlich für das Wichtigſte gehalten haben, ſein verliedertes Federkleid in Ordnung zu bringen.
Der Mutter aber war Nichts wichtiger, als ihre Kinder zu beſuchen und mit Futter zu verſorgen.
Dann erſt ging es an ein Putzen und Striegeln, was diesmal keine leichte Arbeit war.‟

„Der Gatte war nie wieder ſo ungeſtüm und ungezogen, ermöglichte aber doch, daß am 17. Sep-
tember — noch waren die Jungen kaum ſo weit, daß ſie allein fraßen — das Weibchen wieder zu
legen begann. Am 5. Oktober waren vier Junge ausgeſchlüpft. Am 18. November ſollte das Weib-
chen das letzte Ei legen. Sie ſtarb dabei, jedenfalls an Erſchöpfung. Und mir blieb nur
übrig zu bereuen, der widernatürlichen Brüteluſt nicht Feſſeln angelegt zu haben, dadurch vielleicht, daß
ich das Pärchen trennte. Aber die Herzinnigkeit der beiden Gatten war ſo groß, daß eine Trennung
mir grauſam und für das Leben beider nicht minder bedenklich ſchien.‟

„Das Weibchen hat alſo 26 Junge aufgebracht, und wenn wir bei der fünfwöchentlichen Brüte-
zeit, wie höchſt wahrſcheinlich zutreffen wird, zwei Gelege rechnen, beinahe ein halbes Hundert Eier
gelegt, von Ende September des einen Jahres bis zu ihrem Tode Mitte November des anderen
Jahres, eigentlich ohne Unterbrechung, mit der Brut ſich beſchäftigt.‟

„Jedes Gelege zählte 4 bis 6 Eier von länglicher Form, niedlicher Größe und ohne Abzeichnung
weiß. Binnen 24 Stunden wurde ein Ei gelegt; die Brütezeit kann man vom letzten Ei an auf
12 Tage berechnen. Jhre Entwickelung ſchreitet vom zehnten Tag an erſtaunlich vorwärts; mit
dem ſechszehnten bis achtzehnten Tage verlaſſen ſie faſt vollſtändig befiedert das Neſt und lernen ſchnell
allein ans Futter gehen. Die Elſtervögel füttern aus dem Kropf und lieben als Zukoſt für ihre Kin-
der, zumal in den erſten acht Tagen, thieriſche Nahrung (Ameiſeneier); ſie müſſen jedenfalls die Nacht
über auch den Jungen aus ihrem mit Vorrath verſehenen Kropfe Einiges beizubringen wiſſen, da ſie

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[205/0225] Elſtervögelchen. in den Garten und ſtellte den Käfig mit den Jungen ſo auf, daß das Licht des dämmernden Tages durch das Niſtloch hineinfiel. Noch rührte ſich kein Vogel, das Elſterweibchen aber, noch immer auf dem Nußbaum, hatte ſein altes Klagelied ſchon wieder angeſtimmt. Nicht lange währte es, doch für meine Ungeduld viel zu lang, da ſtimmten die ſechs Jungen den Hungerchor an, und Herr Papa mußte ſich bequemen, aus dem warmen Neſte in die Morgenfriſche hinaus zu treten. Er ſchien herrlich aus- geruht. Wie mochte ſein armes Weibchen die Nacht verbracht haben?! Mit dem erſten Ton, der aus dem Neſte erſcholl, ſtürzte das Weibchen aus dem Nußbaumdickicht hervor und flog auf den dem Käfig nächſten Pflaumenbaum. Das Gebauer war zu beiden Seiten der Erker mit Leimruthen geſpickt. Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Athem ſtand ich in Geſellſchaft eines gedienten und bewähr- ten Vogelſtellers, den ich zu dieſem koſtbaren Fange eigens beſtellt hatte, auf einige Entfernung im Verſteck. Das Männchen antwortete dem Weibchen mit ſüßgewohnten Tönen, und da erſt ſchien es Muth zu faſſen, kam von ſeinem Baume herab und tanzte nunmehr rund um den Bauer unruhig hin und her, jede Spalte des Gitterwerks verſuchend, ob ihr der Eingang geſtattet ſei. Auf den Käfig ſelbſt und auf das Erkerneſt flog ſie nicht. Raſch wurde der Entſchluß gefaßt, die Leimruthen am Boden des Käfigs anzubringen. Sie flüchtete bei unſerer Annäherung zum nächſten Baume auf. Kaum aber hatten wir uns wieder entfernt, ſo flog ſie zur Erde nieder, munter zwiſchen den Leim- ruthen hüpfend, ihre früheren Verſuche zu erneuern. Jetzt verſuchte ſie aufzufliegen — und da lag ſie, jämmerlich ſchreiend, an Kopf, Hals und Flügeln in ein Gewirre von Leimruthen gewickelt. Mein Vogeltobias ſprang zu, ergriff die ſeltene Beute, entfernte die Leimruthen, und ich eilte mit dem Käfig ins Gartenzimmer und ſchloß ſorgfältig hinter uns die Thür. Jetzt galt es, den Leim aus dem Ge- fieder zu entfernen. Aſche her! Vogeltobias war nicht im Stande, ſo zitterten die Glieder, dieſe Reinigung vorzunehmen. Deutſche Vögel hatte er genug gefangen, aber das war ja ein Afrikaner! Und wer vermöchte die ſpannenden Augenblicke zu beſchreiben, wie der Vogel aus ſeinem Verſteck her- vorſtürzte, an ſeinem Käfig niederflog und wie er, zwiſchen den Leimruthen hindurchtänzelnd, begierig gerade Das erſtrebte, was auch wir beabſichtigten, und eben noch zu entfliehen drohte, als ſich die fei- nen Rüthchen um ſein Gefieder hefteten und ihn zitternd in ſeines Freundes zitternde Hand brachten. Die Begrüßung beider Vögel war eine ſehr kurze, und unter jedem andern Verhältniß würde der Vogel ſicherlich für das Wichtigſte gehalten haben, ſein verliedertes Federkleid in Ordnung zu bringen. Der Mutter aber war Nichts wichtiger, als ihre Kinder zu beſuchen und mit Futter zu verſorgen. Dann erſt ging es an ein Putzen und Striegeln, was diesmal keine leichte Arbeit war.‟ „Der Gatte war nie wieder ſo ungeſtüm und ungezogen, ermöglichte aber doch, daß am 17. Sep- tember — noch waren die Jungen kaum ſo weit, daß ſie allein fraßen — das Weibchen wieder zu legen begann. Am 5. Oktober waren vier Junge ausgeſchlüpft. Am 18. November ſollte das Weib- chen das letzte Ei legen. Sie ſtarb dabei, jedenfalls an Erſchöpfung. Und mir blieb nur übrig zu bereuen, der widernatürlichen Brüteluſt nicht Feſſeln angelegt zu haben, dadurch vielleicht, daß ich das Pärchen trennte. Aber die Herzinnigkeit der beiden Gatten war ſo groß, daß eine Trennung mir grauſam und für das Leben beider nicht minder bedenklich ſchien.‟ „Das Weibchen hat alſo 26 Junge aufgebracht, und wenn wir bei der fünfwöchentlichen Brüte- zeit, wie höchſt wahrſcheinlich zutreffen wird, zwei Gelege rechnen, beinahe ein halbes Hundert Eier gelegt, von Ende September des einen Jahres bis zu ihrem Tode Mitte November des anderen Jahres, eigentlich ohne Unterbrechung, mit der Brut ſich beſchäftigt.‟ „Jedes Gelege zählte 4 bis 6 Eier von länglicher Form, niedlicher Größe und ohne Abzeichnung weiß. Binnen 24 Stunden wurde ein Ei gelegt; die Brütezeit kann man vom letzten Ei an auf 12 Tage berechnen. Jhre Entwickelung ſchreitet vom zehnten Tag an erſtaunlich vorwärts; mit dem ſechszehnten bis achtzehnten Tage verlaſſen ſie faſt vollſtändig befiedert das Neſt und lernen ſchnell allein ans Futter gehen. Die Elſtervögel füttern aus dem Kropf und lieben als Zukoſt für ihre Kin- der, zumal in den erſten acht Tagen, thieriſche Nahrung (Ameiſeneier); ſie müſſen jedenfalls die Nacht über auch den Jungen aus ihrem mit Vorrath verſehenen Kropfe Einiges beizubringen wiſſen, da ſie

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/225>, abgerufen am 23.11.2024.