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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Harpyie.
Europäern am Amazonenstrome gelten nach Pourlamaque Fleisch, Fett und Koth des Vogels als
geschätztes Heilmittel.

Gefangene Harpyien sind schon wiederholt nach Europa, namentlich nach London und Berlin,
gekommen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit aller Beschauer auf sich; denn sie sind, wie ich aus
eigener Anschauung versichern darf, wirklich stolze, majestätische Vögel. Ueber ihr Betragen im
Käfig liegen uns einige Berichte vor. Pöppig sagt, wohl englische Schriftsteller benutzend,
Folgendes: "Die leichtsinnigen Besucher des londoner Thiergartens fühlten eine gewisse Bangigkeit
bei Ansicht einer erwachsenen Harpyie und vergaßen die Neckereien, welche sie sich, durch Eisengitter
geschützt, wohl selbst mit Tigern erlaubten. Der aufrecht sitzende und wie eine Bildsäule unbewegliche
Vogel schreckte durch das starrende und drohende, von Kühnheit und stillem Grimm glänzende Auge
selbst den Muthigsten. Er schien jeder Anwandlung von Furcht unzugänglich und gegen Alles umher
mit gleicher Verachtung erfüllt zu sein, bot aber ein fürchterliches Schauspiel dar, wenn er, durch den
Anblick eines ihm überlassenen Thieres aufgestachelt, aus der regungslosen Ruhe auf einmal in die
heftigste Bewegung überging. Mit Wuth stürzte er sich auf sein Opfer, und niemals dauerte der
Kampf länger, als einige Augenblicke; denn ein zuerst dem Hinterkopf ertheilter Schlag der langen
Fänge betäubte selbst die stärkste Katze, und ein zweiter, die Seiten zerreißender, das Herz verletzender
Hieb war gemeiniglich tödtlich. Nie ward bei dieser Hinrichtung der Schnabel gebraucht, und gerade
die Schnelligkeit und Sicherheit derselben und die Ueberzeugung, daß einem solchen Angriffe selbst der
Mensch erliegen müsse, brachte unter den Zuschauern die größten Schrecken hervor." Von einem
Naturforscher dürfte diese Schilderung wohl kaum herrühren; denn ein solcher würde bedacht haben,
daß alle großen Raubvögel mehr oder weniger genau in derselben Weise verfahren. Daß die
Beschreibung jedoch gewissen faden Schönschriftlern, welche sich auf das Gebiet der Naturkunde verirrt
haben, noch immer nicht schauerlich genug ist, beweist Masius, welcher sie verbessert, wie folgt: "Auf
dieses Raubthier häufte die Natur in der That alle Schrecken des Blutdursts und der Gewalt. Seine
Größe übertrifft die des Kondors und des Bartgeiers (!); die Knochen, seine Läufe sind um das doppelte
dicker, die Krallen fast doppelt so lang, als am Steinadler; das ganze Knochengebäude ist gleichsam
massio und die Kraft und Schärfe seines schwarzen Schnabels so groß, daß er mit wenigen Schlägen
den Schädel eines Rehs zerschmettert. Ein eulenartiger schwarzer Zopf, den er im Zorn aufrichtet,
erhöht seine Furchtbarkeit. Schon der aufrecht sitzende und in steinerner Ruhe verharrende Vogel
flößt Bangen ein, und Niemand begegnet ohne Grausen dem starr-drohenden, weitgeöffneten Blick
des großen Auges. Nichts aber kommt dem Schauspiel gleich, wenn nun beim Anblick einer Beute
diese Statue sich plötzlich belebt und mit triumphirender Wuth herabwirft. Ein Schlag auf den
Hinterkopf, ein zweiter tief ins Herz hinein, und das Opfer athmet nicht mehr. Und diese Waffen
werden mit einer so entsetzlichen Schnelle geschwungen, treffen mit einer so unfehlbaren Sicherheit,
daß Jeder, wer es sah, überzeugt ward, einem solchen Angriffe müsse auch der Mensch erliegen. Jn
der That soll er auch öfter den einsamen Wanderer jener sonst unbewohnten Wildnisse überfallen;
doch nährt er sich meistens von Säugethieren, Rehen, Meerschweinen u. s. w." Ein Glück, daß die
Auenwälder in Leipzigs Umgebung solche Scheusale nicht beherbergen, und der empfindsame Schreiber
vorstehender Worte gegen "alle Schrecken des Blutdursts und der Gewalt" gesichert ist!

Wir jedoch werden wohl thun, wenn wir auch nachstehenden Bericht Pourlamaque's berück-
sichtigen. "Das Museum in Rio Janeiro erhielt eine junge Harpyie vom Amazonenstrom, welche kaum
fliegen konnte, nunmehr aber acht Jahr alt ist und einem Truthahn an Größe gleichkommt. Sie
verharrt in ihrem Käfig zuweilen in der größten Ruhe, den Kopf in die Höhe geworfen, mit den
Augen starr in dem Raum umhersehend und erscheint dann wirklich majestätisch; meistens aber läuft
sie unruhig auf den Stäben hin und her. Wenn irgend ein Vogel vorbeifliegt, wird ihr Gesichts-
ausdruck augenblicklich wild; sie bewegt sich lebhaft und schreit dabei heftig. Jn Wuth versetzt, ist sie
stark genug, die Eisenstäbe ihres Käfigs zu biegen. Ungeachtet ihrer langen Gefangenschaft ist
sie nicht zahm geworden; sie hat selbst ihrem Wärter keine Zuneigung geschenkt, ja denselben sogar

Harpyie.
Europäern am Amazonenſtrome gelten nach Pourlamaque Fleiſch, Fett und Koth des Vogels als
geſchätztes Heilmittel.

Gefangene Harpyien ſind ſchon wiederholt nach Europa, namentlich nach London und Berlin,
gekommen. Sie ziehen die Aufmerkſamkeit aller Beſchauer auf ſich; denn ſie ſind, wie ich aus
eigener Anſchauung verſichern darf, wirklich ſtolze, majeſtätiſche Vögel. Ueber ihr Betragen im
Käfig liegen uns einige Berichte vor. Pöppig ſagt, wohl engliſche Schriftſteller benutzend,
Folgendes: „Die leichtſinnigen Beſucher des londoner Thiergartens fühlten eine gewiſſe Bangigkeit
bei Anſicht einer erwachſenen Harpyie und vergaßen die Neckereien, welche ſie ſich, durch Eiſengitter
geſchützt, wohl ſelbſt mit Tigern erlaubten. Der aufrecht ſitzende und wie eine Bildſäule unbewegliche
Vogel ſchreckte durch das ſtarrende und drohende, von Kühnheit und ſtillem Grimm glänzende Auge
ſelbſt den Muthigſten. Er ſchien jeder Anwandlung von Furcht unzugänglich und gegen Alles umher
mit gleicher Verachtung erfüllt zu ſein, bot aber ein fürchterliches Schauſpiel dar, wenn er, durch den
Anblick eines ihm überlaſſenen Thieres aufgeſtachelt, aus der regungsloſen Ruhe auf einmal in die
heftigſte Bewegung überging. Mit Wuth ſtürzte er ſich auf ſein Opfer, und niemals dauerte der
Kampf länger, als einige Augenblicke; denn ein zuerſt dem Hinterkopf ertheilter Schlag der langen
Fänge betäubte ſelbſt die ſtärkſte Katze, und ein zweiter, die Seiten zerreißender, das Herz verletzender
Hieb war gemeiniglich tödtlich. Nie ward bei dieſer Hinrichtung der Schnabel gebraucht, und gerade
die Schnelligkeit und Sicherheit derſelben und die Ueberzeugung, daß einem ſolchen Angriffe ſelbſt der
Menſch erliegen müſſe, brachte unter den Zuſchauern die größten Schrecken hervor.‟ Von einem
Naturforſcher dürfte dieſe Schilderung wohl kaum herrühren; denn ein ſolcher würde bedacht haben,
daß alle großen Raubvögel mehr oder weniger genau in derſelben Weiſe verfahren. Daß die
Beſchreibung jedoch gewiſſen faden Schönſchriftlern, welche ſich auf das Gebiet der Naturkunde verirrt
haben, noch immer nicht ſchauerlich genug iſt, beweiſt Maſius, welcher ſie verbeſſert, wie folgt: „Auf
dieſes Raubthier häufte die Natur in der That alle Schrecken des Blutdurſts und der Gewalt. Seine
Größe übertrifft die des Kondors und des Bartgeiers (!); die Knochen, ſeine Läufe ſind um das doppelte
dicker, die Krallen faſt doppelt ſo lang, als am Steinadler; das ganze Knochengebäude iſt gleichſam
maſſio und die Kraft und Schärfe ſeines ſchwarzen Schnabels ſo groß, daß er mit wenigen Schlägen
den Schädel eines Rehs zerſchmettert. Ein eulenartiger ſchwarzer Zopf, den er im Zorn aufrichtet,
erhöht ſeine Furchtbarkeit. Schon der aufrecht ſitzende und in ſteinerner Ruhe verharrende Vogel
flößt Bangen ein, und Niemand begegnet ohne Grauſen dem ſtarr-drohenden, weitgeöffneten Blick
des großen Auges. Nichts aber kommt dem Schauſpiel gleich, wenn nun beim Anblick einer Beute
dieſe Statue ſich plötzlich belebt und mit triumphirender Wuth herabwirft. Ein Schlag auf den
Hinterkopf, ein zweiter tief ins Herz hinein, und das Opfer athmet nicht mehr. Und dieſe Waffen
werden mit einer ſo entſetzlichen Schnelle geſchwungen, treffen mit einer ſo unfehlbaren Sicherheit,
daß Jeder, wer es ſah, überzeugt ward, einem ſolchen Angriffe müſſe auch der Menſch erliegen. Jn
der That ſoll er auch öfter den einſamen Wanderer jener ſonſt unbewohnten Wildniſſe überfallen;
doch nährt er ſich meiſtens von Säugethieren, Rehen, Meerſchweinen u. ſ. w.‟ Ein Glück, daß die
Auenwälder in Leipzigs Umgebung ſolche Scheuſale nicht beherbergen, und der empfindſame Schreiber
vorſtehender Worte gegen „alle Schrecken des Blutdurſts und der Gewalt‟ geſichert iſt!

Wir jedoch werden wohl thun, wenn wir auch nachſtehenden Bericht Pourlamaque’s berück-
ſichtigen. „Das Muſeum in Rio Janeiro erhielt eine junge Harpyie vom Amazonenſtrom, welche kaum
fliegen konnte, nunmehr aber acht Jahr alt iſt und einem Truthahn an Größe gleichkommt. Sie
verharrt in ihrem Käfig zuweilen in der größten Ruhe, den Kopf in die Höhe geworfen, mit den
Augen ſtarr in dem Raum umherſehend und erſcheint dann wirklich majeſtätiſch; meiſtens aber läuft
ſie unruhig auf den Stäben hin und her. Wenn irgend ein Vogel vorbeifliegt, wird ihr Geſichts-
ausdruck augenblicklich wild; ſie bewegt ſich lebhaft und ſchreit dabei heftig. Jn Wuth verſetzt, iſt ſie
ſtark genug, die Eiſenſtäbe ihres Käfigs zu biegen. Ungeachtet ihrer langen Gefangenſchaft iſt
ſie nicht zahm geworden; ſie hat ſelbſt ihrem Wärter keine Zuneigung geſchenkt, ja denſelben ſogar

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[471/0503] Harpyie. Europäern am Amazonenſtrome gelten nach Pourlamaque Fleiſch, Fett und Koth des Vogels als geſchätztes Heilmittel. Gefangene Harpyien ſind ſchon wiederholt nach Europa, namentlich nach London und Berlin, gekommen. Sie ziehen die Aufmerkſamkeit aller Beſchauer auf ſich; denn ſie ſind, wie ich aus eigener Anſchauung verſichern darf, wirklich ſtolze, majeſtätiſche Vögel. Ueber ihr Betragen im Käfig liegen uns einige Berichte vor. Pöppig ſagt, wohl engliſche Schriftſteller benutzend, Folgendes: „Die leichtſinnigen Beſucher des londoner Thiergartens fühlten eine gewiſſe Bangigkeit bei Anſicht einer erwachſenen Harpyie und vergaßen die Neckereien, welche ſie ſich, durch Eiſengitter geſchützt, wohl ſelbſt mit Tigern erlaubten. Der aufrecht ſitzende und wie eine Bildſäule unbewegliche Vogel ſchreckte durch das ſtarrende und drohende, von Kühnheit und ſtillem Grimm glänzende Auge ſelbſt den Muthigſten. Er ſchien jeder Anwandlung von Furcht unzugänglich und gegen Alles umher mit gleicher Verachtung erfüllt zu ſein, bot aber ein fürchterliches Schauſpiel dar, wenn er, durch den Anblick eines ihm überlaſſenen Thieres aufgeſtachelt, aus der regungsloſen Ruhe auf einmal in die heftigſte Bewegung überging. Mit Wuth ſtürzte er ſich auf ſein Opfer, und niemals dauerte der Kampf länger, als einige Augenblicke; denn ein zuerſt dem Hinterkopf ertheilter Schlag der langen Fänge betäubte ſelbſt die ſtärkſte Katze, und ein zweiter, die Seiten zerreißender, das Herz verletzender Hieb war gemeiniglich tödtlich. Nie ward bei dieſer Hinrichtung der Schnabel gebraucht, und gerade die Schnelligkeit und Sicherheit derſelben und die Ueberzeugung, daß einem ſolchen Angriffe ſelbſt der Menſch erliegen müſſe, brachte unter den Zuſchauern die größten Schrecken hervor.‟ Von einem Naturforſcher dürfte dieſe Schilderung wohl kaum herrühren; denn ein ſolcher würde bedacht haben, daß alle großen Raubvögel mehr oder weniger genau in derſelben Weiſe verfahren. Daß die Beſchreibung jedoch gewiſſen faden Schönſchriftlern, welche ſich auf das Gebiet der Naturkunde verirrt haben, noch immer nicht ſchauerlich genug iſt, beweiſt Maſius, welcher ſie verbeſſert, wie folgt: „Auf dieſes Raubthier häufte die Natur in der That alle Schrecken des Blutdurſts und der Gewalt. Seine Größe übertrifft die des Kondors und des Bartgeiers (!); die Knochen, ſeine Läufe ſind um das doppelte dicker, die Krallen faſt doppelt ſo lang, als am Steinadler; das ganze Knochengebäude iſt gleichſam maſſio und die Kraft und Schärfe ſeines ſchwarzen Schnabels ſo groß, daß er mit wenigen Schlägen den Schädel eines Rehs zerſchmettert. Ein eulenartiger ſchwarzer Zopf, den er im Zorn aufrichtet, erhöht ſeine Furchtbarkeit. Schon der aufrecht ſitzende und in ſteinerner Ruhe verharrende Vogel flößt Bangen ein, und Niemand begegnet ohne Grauſen dem ſtarr-drohenden, weitgeöffneten Blick des großen Auges. Nichts aber kommt dem Schauſpiel gleich, wenn nun beim Anblick einer Beute dieſe Statue ſich plötzlich belebt und mit triumphirender Wuth herabwirft. Ein Schlag auf den Hinterkopf, ein zweiter tief ins Herz hinein, und das Opfer athmet nicht mehr. Und dieſe Waffen werden mit einer ſo entſetzlichen Schnelle geſchwungen, treffen mit einer ſo unfehlbaren Sicherheit, daß Jeder, wer es ſah, überzeugt ward, einem ſolchen Angriffe müſſe auch der Menſch erliegen. Jn der That ſoll er auch öfter den einſamen Wanderer jener ſonſt unbewohnten Wildniſſe überfallen; doch nährt er ſich meiſtens von Säugethieren, Rehen, Meerſchweinen u. ſ. w.‟ Ein Glück, daß die Auenwälder in Leipzigs Umgebung ſolche Scheuſale nicht beherbergen, und der empfindſame Schreiber vorſtehender Worte gegen „alle Schrecken des Blutdurſts und der Gewalt‟ geſichert iſt! Wir jedoch werden wohl thun, wenn wir auch nachſtehenden Bericht Pourlamaque’s berück- ſichtigen. „Das Muſeum in Rio Janeiro erhielt eine junge Harpyie vom Amazonenſtrom, welche kaum fliegen konnte, nunmehr aber acht Jahr alt iſt und einem Truthahn an Größe gleichkommt. Sie verharrt in ihrem Käfig zuweilen in der größten Ruhe, den Kopf in die Höhe geworfen, mit den Augen ſtarr in dem Raum umherſehend und erſcheint dann wirklich majeſtätiſch; meiſtens aber läuft ſie unruhig auf den Stäben hin und her. Wenn irgend ein Vogel vorbeifliegt, wird ihr Geſichts- ausdruck augenblicklich wild; ſie bewegt ſich lebhaft und ſchreit dabei heftig. Jn Wuth verſetzt, iſt ſie ſtark genug, die Eiſenſtäbe ihres Käfigs zu biegen. Ungeachtet ihrer langen Gefangenſchaft iſt ſie nicht zahm geworden; ſie hat ſelbſt ihrem Wärter keine Zuneigung geſchenkt, ja denſelben ſogar

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 471. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/503>, abgerufen am 22.11.2024.