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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Allgemeines.
falt; sie gehen zwar nicht anmuthig, aber ziemlich leicht, jedenfalls besser, als die große Mehrzahl der
Falkenvögel, meist schrittweise, nicht hüpfend wie diese; sie fliegen langsam, aber mit einer ungemein
großen Ausdauer: auch sie wissen das Luftmeer in sehr vollkommener Weise zu beherrschen; nur fehlt
ihnen die Gewandtheit und die jähe Schnelligkeit der Falkenvögel. Jhre Sinne wettelfern an Schärfe
mit denen anderer gefiederten Ränber; ihr Gesicht namentlich steht gewiß nicht hinter dem der Adler
oder Edelfalken zurück: es reicht in Fernen, von denen wir uns kaum eine Vorstellung machen, welche
wir nur erreichen können, indem wir unser Auge bewaffnen. Jhr Gehör, der nächstdem am höchsten
entwickelte Sinn, ist sehr gut, ihr Geruch sicherlich schärfer, als bei andern Raubvögeln, obwohl durch-
gehends nicht so vortrefflich, wie man gefabelt hat, ihr Geschmack, ungeachtet der schmuzigen
Nahrungsstoffe, welche sie zu sich nehmen, keineswegs verkümmert und ihr Gefühl, sei es, indem wir
es als Empfindungs- oder indem wir es als Tastvermögen ausehen, nicht wegzuleugnen. Dagegen
sind ihre Geistesfähigkeiten nur gering. Sie stehen weit zurück hinter den Adlern und Edelfalken,
jedoch noch immer hoch über den Eulen, welche wir als die geistlosesten Raubvögel anzusehen haben.
Alle hohen Geistesgaben, welche wir bei den Adlern und namentlich bei den Edelfalken bemerken,
scheinen bei ihnen nur angedeutet zu sein. Sie sind dümmer, als die gedachten Verwandten, scheu,
aber selten eigentlich vorsichtig, jähzornig und heftig, aber nicht unternehmend und noch viel weniger
kühn, gesellig, jedoch auch keineswegs friedfertig; sie sind bissig und böswillig, dabei aber feig; ihr Geist
erhebt sich nicht einmal zur List. Sie lernen nach und nach gefährliche Menschen oder Thiere
von ungefährlichen unterscheiden, gewinnen aber nur selten wirkliche Anhänglichkeit an ein
anderes Geschöpf. Jmmer zeigen sie sich plump und roh in ihrem Auftreten. Eine merkwürdige
Beharrlichkeit in Dem, was sie einmal begonnen, ist ihnen eigen. Wir nennen sie träge, weil wir sie
stundenlang in größter Ruhe regungslos an ein und demselben Orte verharren sehen; wir könnten
aber von ihnen, welche den größten Theil des Tages fliegend verbringen, auch das Gegentheil
behaupten. Jhr Wesen ist ein Gemisch von den verschiedenartigsten und scheinbar sich widersprechenden
Eigenschaften. Man ist versucht, sie als ruhige und stille Vögel anzusehen, während die genauere
Beobachtung doch ergibt, daß sie zu den leidenschaftlichsten aller Raubvögel gezählt werden müssen.

Erst wenn man die Art und Weise des Nahrungserwerbs der Geier kennt, lernt man sie ver-
stehen. Der Name Raubvogel verliert bei ihnen fast seine Bedeutung. Nur wenige von ihnen, und
auch diese wahrscheinlich blos ausnahmsweise, greifen lebende Thiere an, in der Absicht, sie zu tödten,
und wenn sie es thun, geschieht es in einer durchaus eigenthümlichen Weise. Für gewöhnlich sammeln
sie einfach Das auf, was ein günstiger Zufall ihnen überlieferte. Sie bestatten die Leichen, welche sie
finden, oder räumen den Unrath weg, welchen sie erspähen. Zu dieser Arbeit brauchen sie ihre Geistes-
kräfte in keiner Weise anzustrengen; ihr Auge dient ihnen hierbei mehr als ihr Verstand. Weil aber
der Zufall nicht immer sich ihnen günstig zeigt und sie demzufolge oft tagelang Mangel leiden müssen,
geberden sie sich beim Anblick einer Beute, als müßten sie sich unter allen Umständen für gehabte
Entbehrungen entschädigen und für kommende versorgen.

Vögel, welche auf diese Weise sich ernähren, können nur in warmen oder höchstens in gemäßigten
Gürteln der Erde hausen; denn die kalten Kreise des Erdballs erfordern von allen ihren Bewohnern
fleißige Arbeit. Der reiche Süden zeigt sich freigebiger; er liefert auch den Geiern soviel, daß
sie sich ohne Sorgen durchs Leben schlagen können.

Mit Ausnahme Neuhollands beherbergen alle Erdtheile Mitglieder unserer Zunft. Die alte Welt
ist reicher an Geiern, als die neue, und die hier lebenden Arten sind außerdem noch hinsichtlich ihres
Vorkommens weit mehr beschränkt, als jene der östlichen Erdhälfte. Einige finden sich in annähernd
gleich großer Menge in Europa, Asien und Afrika oder werden hier mindestens durch sehr nahe
stehende Verwandte vertreten. Jnnerhalb ihres Verbreitungskreises sind die Geier nicht gebunden.
Man begegnet ihnen in den heißen, durchglühten Ebenen, wie über den höchsten Zinnen der höchsten
Gebirge der Erde. Sie sind es, welche, soviel bis jetzt bekannt, höher als alle andern Vögel in dem
Luftmeere emporsteigen; sie sind befähigt, die großartigsten Veränderungen des Luftdruckes ohne

Allgemeines.
falt; ſie gehen zwar nicht anmuthig, aber ziemlich leicht, jedenfalls beſſer, als die große Mehrzahl der
Falkenvögel, meiſt ſchrittweiſe, nicht hüpfend wie dieſe; ſie fliegen langſam, aber mit einer ungemein
großen Ausdauer: auch ſie wiſſen das Luftmeer in ſehr vollkommener Weiſe zu beherrſchen; nur fehlt
ihnen die Gewandtheit und die jähe Schnelligkeit der Falkenvögel. Jhre Sinne wettelfern an Schärfe
mit denen anderer gefiederten Ränber; ihr Geſicht namentlich ſteht gewiß nicht hinter dem der Adler
oder Edelfalken zurück: es reicht in Fernen, von denen wir uns kaum eine Vorſtellung machen, welche
wir nur erreichen können, indem wir unſer Auge bewaffnen. Jhr Gehör, der nächſtdem am höchſten
entwickelte Sinn, iſt ſehr gut, ihr Geruch ſicherlich ſchärfer, als bei andern Raubvögeln, obwohl durch-
gehends nicht ſo vortrefflich, wie man gefabelt hat, ihr Geſchmack, ungeachtet der ſchmuzigen
Nahrungsſtoffe, welche ſie zu ſich nehmen, keineswegs verkümmert und ihr Gefühl, ſei es, indem wir
es als Empfindungs- oder indem wir es als Taſtvermögen auſehen, nicht wegzuleugnen. Dagegen
ſind ihre Geiſtesfähigkeiten nur gering. Sie ſtehen weit zurück hinter den Adlern und Edelfalken,
jedoch noch immer hoch über den Eulen, welche wir als die geiſtloſeſten Raubvögel anzuſehen haben.
Alle hohen Geiſtesgaben, welche wir bei den Adlern und namentlich bei den Edelfalken bemerken,
ſcheinen bei ihnen nur angedeutet zu ſein. Sie ſind dümmer, als die gedachten Verwandten, ſcheu,
aber ſelten eigentlich vorſichtig, jähzornig und heftig, aber nicht unternehmend und noch viel weniger
kühn, geſellig, jedoch auch keineswegs friedfertig; ſie ſind biſſig und böswillig, dabei aber feig; ihr Geiſt
erhebt ſich nicht einmal zur Liſt. Sie lernen nach und nach gefährliche Menſchen oder Thiere
von ungefährlichen unterſcheiden, gewinnen aber nur ſelten wirkliche Anhänglichkeit an ein
anderes Geſchöpf. Jmmer zeigen ſie ſich plump und roh in ihrem Auftreten. Eine merkwürdige
Beharrlichkeit in Dem, was ſie einmal begonnen, iſt ihnen eigen. Wir nennen ſie träge, weil wir ſie
ſtundenlang in größter Ruhe regungslos an ein und demſelben Orte verharren ſehen; wir könnten
aber von ihnen, welche den größten Theil des Tages fliegend verbringen, auch das Gegentheil
behaupten. Jhr Weſen iſt ein Gemiſch von den verſchiedenartigſten und ſcheinbar ſich widerſprechenden
Eigenſchaften. Man iſt verſucht, ſie als ruhige und ſtille Vögel anzuſehen, während die genauere
Beobachtung doch ergibt, daß ſie zu den leidenſchaftlichſten aller Raubvögel gezählt werden müſſen.

Erſt wenn man die Art und Weiſe des Nahrungserwerbs der Geier kennt, lernt man ſie ver-
ſtehen. Der Name Raubvogel verliert bei ihnen faſt ſeine Bedeutung. Nur wenige von ihnen, und
auch dieſe wahrſcheinlich blos ausnahmsweiſe, greifen lebende Thiere an, in der Abſicht, ſie zu tödten,
und wenn ſie es thun, geſchieht es in einer durchaus eigenthümlichen Weiſe. Für gewöhnlich ſammeln
ſie einfach Das auf, was ein günſtiger Zufall ihnen überlieferte. Sie beſtatten die Leichen, welche ſie
finden, oder räumen den Unrath weg, welchen ſie erſpähen. Zu dieſer Arbeit brauchen ſie ihre Geiſtes-
kräfte in keiner Weiſe anzuſtrengen; ihr Auge dient ihnen hierbei mehr als ihr Verſtand. Weil aber
der Zufall nicht immer ſich ihnen günſtig zeigt und ſie demzufolge oft tagelang Mangel leiden müſſen,
geberden ſie ſich beim Anblick einer Beute, als müßten ſie ſich unter allen Umſtänden für gehabte
Entbehrungen entſchädigen und für kommende verſorgen.

Vögel, welche auf dieſe Weiſe ſich ernähren, können nur in warmen oder höchſtens in gemäßigten
Gürteln der Erde hauſen; denn die kalten Kreiſe des Erdballs erfordern von allen ihren Bewohnern
fleißige Arbeit. Der reiche Süden zeigt ſich freigebiger; er liefert auch den Geiern ſoviel, daß
ſie ſich ohne Sorgen durchs Leben ſchlagen können.

Mit Ausnahme Neuhollands beherbergen alle Erdtheile Mitglieder unſerer Zunft. Die alte Welt
iſt reicher an Geiern, als die neue, und die hier lebenden Arten ſind außerdem noch hinſichtlich ihres
Vorkommens weit mehr beſchränkt, als jene der öſtlichen Erdhälfte. Einige finden ſich in annähernd
gleich großer Menge in Europa, Aſien und Afrika oder werden hier mindeſtens durch ſehr nahe
ſtehende Verwandte vertreten. Jnnerhalb ihres Verbreitungskreiſes ſind die Geier nicht gebunden.
Man begegnet ihnen in den heißen, durchglühten Ebenen, wie über den höchſten Zinnen der höchſten
Gebirge der Erde. Sie ſind es, welche, ſoviel bis jetzt bekannt, höher als alle andern Vögel in dem
Luftmeere emporſteigen; ſie ſind befähigt, die großartigſten Veränderungen des Luftdruckes ohne

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[535/0567] Allgemeines. falt; ſie gehen zwar nicht anmuthig, aber ziemlich leicht, jedenfalls beſſer, als die große Mehrzahl der Falkenvögel, meiſt ſchrittweiſe, nicht hüpfend wie dieſe; ſie fliegen langſam, aber mit einer ungemein großen Ausdauer: auch ſie wiſſen das Luftmeer in ſehr vollkommener Weiſe zu beherrſchen; nur fehlt ihnen die Gewandtheit und die jähe Schnelligkeit der Falkenvögel. Jhre Sinne wettelfern an Schärfe mit denen anderer gefiederten Ränber; ihr Geſicht namentlich ſteht gewiß nicht hinter dem der Adler oder Edelfalken zurück: es reicht in Fernen, von denen wir uns kaum eine Vorſtellung machen, welche wir nur erreichen können, indem wir unſer Auge bewaffnen. Jhr Gehör, der nächſtdem am höchſten entwickelte Sinn, iſt ſehr gut, ihr Geruch ſicherlich ſchärfer, als bei andern Raubvögeln, obwohl durch- gehends nicht ſo vortrefflich, wie man gefabelt hat, ihr Geſchmack, ungeachtet der ſchmuzigen Nahrungsſtoffe, welche ſie zu ſich nehmen, keineswegs verkümmert und ihr Gefühl, ſei es, indem wir es als Empfindungs- oder indem wir es als Taſtvermögen auſehen, nicht wegzuleugnen. Dagegen ſind ihre Geiſtesfähigkeiten nur gering. Sie ſtehen weit zurück hinter den Adlern und Edelfalken, jedoch noch immer hoch über den Eulen, welche wir als die geiſtloſeſten Raubvögel anzuſehen haben. Alle hohen Geiſtesgaben, welche wir bei den Adlern und namentlich bei den Edelfalken bemerken, ſcheinen bei ihnen nur angedeutet zu ſein. Sie ſind dümmer, als die gedachten Verwandten, ſcheu, aber ſelten eigentlich vorſichtig, jähzornig und heftig, aber nicht unternehmend und noch viel weniger kühn, geſellig, jedoch auch keineswegs friedfertig; ſie ſind biſſig und böswillig, dabei aber feig; ihr Geiſt erhebt ſich nicht einmal zur Liſt. Sie lernen nach und nach gefährliche Menſchen oder Thiere von ungefährlichen unterſcheiden, gewinnen aber nur ſelten wirkliche Anhänglichkeit an ein anderes Geſchöpf. Jmmer zeigen ſie ſich plump und roh in ihrem Auftreten. Eine merkwürdige Beharrlichkeit in Dem, was ſie einmal begonnen, iſt ihnen eigen. Wir nennen ſie träge, weil wir ſie ſtundenlang in größter Ruhe regungslos an ein und demſelben Orte verharren ſehen; wir könnten aber von ihnen, welche den größten Theil des Tages fliegend verbringen, auch das Gegentheil behaupten. Jhr Weſen iſt ein Gemiſch von den verſchiedenartigſten und ſcheinbar ſich widerſprechenden Eigenſchaften. Man iſt verſucht, ſie als ruhige und ſtille Vögel anzuſehen, während die genauere Beobachtung doch ergibt, daß ſie zu den leidenſchaftlichſten aller Raubvögel gezählt werden müſſen. Erſt wenn man die Art und Weiſe des Nahrungserwerbs der Geier kennt, lernt man ſie ver- ſtehen. Der Name Raubvogel verliert bei ihnen faſt ſeine Bedeutung. Nur wenige von ihnen, und auch dieſe wahrſcheinlich blos ausnahmsweiſe, greifen lebende Thiere an, in der Abſicht, ſie zu tödten, und wenn ſie es thun, geſchieht es in einer durchaus eigenthümlichen Weiſe. Für gewöhnlich ſammeln ſie einfach Das auf, was ein günſtiger Zufall ihnen überlieferte. Sie beſtatten die Leichen, welche ſie finden, oder räumen den Unrath weg, welchen ſie erſpähen. Zu dieſer Arbeit brauchen ſie ihre Geiſtes- kräfte in keiner Weiſe anzuſtrengen; ihr Auge dient ihnen hierbei mehr als ihr Verſtand. Weil aber der Zufall nicht immer ſich ihnen günſtig zeigt und ſie demzufolge oft tagelang Mangel leiden müſſen, geberden ſie ſich beim Anblick einer Beute, als müßten ſie ſich unter allen Umſtänden für gehabte Entbehrungen entſchädigen und für kommende verſorgen. Vögel, welche auf dieſe Weiſe ſich ernähren, können nur in warmen oder höchſtens in gemäßigten Gürteln der Erde hauſen; denn die kalten Kreiſe des Erdballs erfordern von allen ihren Bewohnern fleißige Arbeit. Der reiche Süden zeigt ſich freigebiger; er liefert auch den Geiern ſoviel, daß ſie ſich ohne Sorgen durchs Leben ſchlagen können. Mit Ausnahme Neuhollands beherbergen alle Erdtheile Mitglieder unſerer Zunft. Die alte Welt iſt reicher an Geiern, als die neue, und die hier lebenden Arten ſind außerdem noch hinſichtlich ihres Vorkommens weit mehr beſchränkt, als jene der öſtlichen Erdhälfte. Einige finden ſich in annähernd gleich großer Menge in Europa, Aſien und Afrika oder werden hier mindeſtens durch ſehr nahe ſtehende Verwandte vertreten. Jnnerhalb ihres Verbreitungskreiſes ſind die Geier nicht gebunden. Man begegnet ihnen in den heißen, durchglühten Ebenen, wie über den höchſten Zinnen der höchſten Gebirge der Erde. Sie ſind es, welche, ſoviel bis jetzt bekannt, höher als alle andern Vögel in dem Luftmeere emporſteigen; ſie ſind befähigt, die großartigſten Veränderungen des Luftdruckes ohne

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/567>, abgerufen am 22.11.2024.