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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Die Fänger. Singvögel. Seidenschwänze.
Wandervogel wird. Jn allen nördlich von uns gelegenen Ländern ist er eine viel regelmäßigere
Erscheinung als in Deutschland. Schon in den russischen und polnischen Wäldern oder in den Wal-
dungen des südlichen Skandinaviens findet er sich fast in jedem Winter ein. Bei uns zu Lande
erscheint er so unregelmäßig, daß das Volk die beliebte Siebenzahl auch auf ihn angewandt hat und
behauptet, daß er nur alle sieben Jahre einmal erscheine. Jn der Regel treffen die vom nordischen
Winter vertriebenen Seidenschwänze erst in der letzten Hälfte des November bei uns ein und ver-
weilen bis zur ersten Hälfte des März; ausnahmsweise aber geschieht es, daß sie sich schon früher ein-
stellen und ebenso, daß sie noch länger bei uns sich gefallen. Dies ist denn auch der Grund
gewesen, daß man geglaubt hat, einzelne Paare hätten bei uns genistet, während wir jetzt genau wissen,
daß die Nistzeit des Seidenschwanzes erst in das Spätfrühjahr fällt.

[Abbildung] Der europäische oder gemeine Seidenschwanz (Bombycilla garrula).

Während ihres Fremdlebens in südlicheren Gegenden und also auch bei uns sind die Seiden-
schwänze stets zu mehr oder minder zahlreichen Gesellschaften vereinigt und halten sich längere oder kür-
zere Zeit in einer bestimmten Gegend auf, je nachdem dieselbe ihnen reichlichere oder spärlichere Nah-
rung gibt. Es kommt vor, daß man sie in dem einen Winter da, wo sie sonst sehr selten erscheinen,
Wochen, ja selbst Monate lang in großer Menge antrifft, und wahrscheinlich würde Dies noch viel öfter
geschehen, glaubte sich nicht jeder einfältige Bauer berechtigt, seine erbärmliche Jagdwuth oder richtiger
seine rohe Mordlust an diesen harmlosen Geschöpfen auszulassen; die Schönheit derselben erscheint,
wie man meinen möchte, dem ungebildeten, rüden Menschen so unverständlich, daß er nichts Anderes
zu thun weiß, als sie zu vernichten. Möglich ist freilich, daß die armen Vögel noch unter den
Nachwirkungen eines alten Aberglaubens zu leiden haben. Jn früheren Jahren wußte man sich
das unregelmäßige Erscheinen der Seidenschwänze nicht zu erklären, sah sie als Vorausverkündiger
schwerer Kriege, großer Theuerung, verschiedener Seuchen und anderer Landplagen an und glaubte,

Die Fänger. Singvögel. Seidenſchwänze.
Wandervogel wird. Jn allen nördlich von uns gelegenen Ländern iſt er eine viel regelmäßigere
Erſcheinung als in Deutſchland. Schon in den ruſſiſchen und polniſchen Wäldern oder in den Wal-
dungen des ſüdlichen Skandinaviens findet er ſich faſt in jedem Winter ein. Bei uns zu Lande
erſcheint er ſo unregelmäßig, daß das Volk die beliebte Siebenzahl auch auf ihn angewandt hat und
behauptet, daß er nur alle ſieben Jahre einmal erſcheine. Jn der Regel treffen die vom nordiſchen
Winter vertriebenen Seidenſchwänze erſt in der letzten Hälfte des November bei uns ein und ver-
weilen bis zur erſten Hälfte des März; ausnahmsweiſe aber geſchieht es, daß ſie ſich ſchon früher ein-
ſtellen und ebenſo, daß ſie noch länger bei uns ſich gefallen. Dies iſt denn auch der Grund
geweſen, daß man geglaubt hat, einzelne Paare hätten bei uns geniſtet, während wir jetzt genau wiſſen,
daß die Niſtzeit des Seidenſchwanzes erſt in das Spätfrühjahr fällt.

[Abbildung] Der europäiſche oder gemeine Seidenſchwanz (Bombycilla garrula).

Während ihres Fremdlebens in ſüdlicheren Gegenden und alſo auch bei uns ſind die Seiden-
ſchwänze ſtets zu mehr oder minder zahlreichen Geſellſchaften vereinigt und halten ſich längere oder kür-
zere Zeit in einer beſtimmten Gegend auf, je nachdem dieſelbe ihnen reichlichere oder ſpärlichere Nah-
rung gibt. Es kommt vor, daß man ſie in dem einen Winter da, wo ſie ſonſt ſehr ſelten erſcheinen,
Wochen, ja ſelbſt Monate lang in großer Menge antrifft, und wahrſcheinlich würde Dies noch viel öfter
geſchehen, glaubte ſich nicht jeder einfältige Bauer berechtigt, ſeine erbärmliche Jagdwuth oder richtiger
ſeine rohe Mordluſt an dieſen harmloſen Geſchöpfen auszulaſſen; die Schönheit derſelben erſcheint,
wie man meinen möchte, dem ungebildeten, rüden Menſchen ſo unverſtändlich, daß er nichts Anderes
zu thun weiß, als ſie zu vernichten. Möglich iſt freilich, daß die armen Vögel noch unter den
Nachwirkungen eines alten Aberglaubens zu leiden haben. Jn früheren Jahren wußte man ſich
das unregelmäßige Erſcheinen der Seidenſchwänze nicht zu erklären, ſah ſie als Vorausverkündiger
ſchwerer Kriege, großer Theuerung, verſchiedener Seuchen und anderer Landplagen an und glaubte,

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[740/0784] Die Fänger. Singvögel. Seidenſchwänze. Wandervogel wird. Jn allen nördlich von uns gelegenen Ländern iſt er eine viel regelmäßigere Erſcheinung als in Deutſchland. Schon in den ruſſiſchen und polniſchen Wäldern oder in den Wal- dungen des ſüdlichen Skandinaviens findet er ſich faſt in jedem Winter ein. Bei uns zu Lande erſcheint er ſo unregelmäßig, daß das Volk die beliebte Siebenzahl auch auf ihn angewandt hat und behauptet, daß er nur alle ſieben Jahre einmal erſcheine. Jn der Regel treffen die vom nordiſchen Winter vertriebenen Seidenſchwänze erſt in der letzten Hälfte des November bei uns ein und ver- weilen bis zur erſten Hälfte des März; ausnahmsweiſe aber geſchieht es, daß ſie ſich ſchon früher ein- ſtellen und ebenſo, daß ſie noch länger bei uns ſich gefallen. Dies iſt denn auch der Grund geweſen, daß man geglaubt hat, einzelne Paare hätten bei uns geniſtet, während wir jetzt genau wiſſen, daß die Niſtzeit des Seidenſchwanzes erſt in das Spätfrühjahr fällt. [Abbildung Der europäiſche oder gemeine Seidenſchwanz (Bombycilla garrula).] Während ihres Fremdlebens in ſüdlicheren Gegenden und alſo auch bei uns ſind die Seiden- ſchwänze ſtets zu mehr oder minder zahlreichen Geſellſchaften vereinigt und halten ſich längere oder kür- zere Zeit in einer beſtimmten Gegend auf, je nachdem dieſelbe ihnen reichlichere oder ſpärlichere Nah- rung gibt. Es kommt vor, daß man ſie in dem einen Winter da, wo ſie ſonſt ſehr ſelten erſcheinen, Wochen, ja ſelbſt Monate lang in großer Menge antrifft, und wahrſcheinlich würde Dies noch viel öfter geſchehen, glaubte ſich nicht jeder einfältige Bauer berechtigt, ſeine erbärmliche Jagdwuth oder richtiger ſeine rohe Mordluſt an dieſen harmloſen Geſchöpfen auszulaſſen; die Schönheit derſelben erſcheint, wie man meinen möchte, dem ungebildeten, rüden Menſchen ſo unverſtändlich, daß er nichts Anderes zu thun weiß, als ſie zu vernichten. Möglich iſt freilich, daß die armen Vögel noch unter den Nachwirkungen eines alten Aberglaubens zu leiden haben. Jn früheren Jahren wußte man ſich das unregelmäßige Erſcheinen der Seidenſchwänze nicht zu erklären, ſah ſie als Vorausverkündiger ſchwerer Kriege, großer Theuerung, verſchiedener Seuchen und anderer Landplagen an und glaubte,

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/784>, abgerufen am 22.11.2024.