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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

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Ein Blick auf das Leben der Gesammtheit.
Vögel, mit denen wir hierauf bezügliche Beobachtungen anstellen; von einer Witterung aber, wie wir
sie bei Säugethieren wahrnehmen, kann unter ihnen gewiß nicht die Rede sein. Auch der Geschmack
der Vögel steht dem der Säugethiere unzweifelhaft weit nach. Wir bemerken zwar, daß jene gewisse
Nahrungsstoffe anderen vorziehen, und schließen daraus, daß es geschehe, weil die gedachten
Stoffe für sie einen höheren Wohlgeschmack haben als andere; wenn wir uns aber erinnern, daß die
Bissen gewöhnlich unzerstückelt verschlungen werden, erleidet eine etwaige Schlußfolgerung aus jener
Wahrnahme doch eine wesentliche Beeinträchtigung. Die Zunge ist wohl mehr Werkzeug der
Empfindung als solches des Geschmackes: sie dient mehr zum Tasten als zum Schmecken. Bei nicht
wenigen Vögeln hat gerade der Tastsinn in der Zunge seinen bevorzugten Sitz: alle Spechte, alle
Kolibris, alle Zahnschnäbler untersuchen mit ihrer Hilfe die Schlupfwinkel ihrer Beute und scheiden
diese durch sie von ungenießbaren Stoffen ab. Nächst ihr wird hauptsächlich der Schnabel zum
Tasten gebraucht, so z. B. von den Schnepfen und Zahnschnäblern. Der Fuß kommt kaum in Betracht.
Der Sinn des Gefühls durch das Empfindungsvermögen scheint allgemein vorhanden und sehr aus-
gebildet zu sein: alle Vögel bekunden die größte Empfindlichkeit gegen Einwirkungen von außen,
gegen Einflüsse der Witterung sowohl als gegen Berührung.

Rücksichtlich der Fähigkeiten des Gehirns, welche wir als Verstand und Gemüth unterscheiden,
sowie hinsichtlich des Wesens oder Charakters der Vögel gilt meiner Ansicht nach Alles, was ich früher
bezüglich der Säugethiere sagte; ich wüßte wenigstens keine Geistesfähigkeit, keinen Charakterzug der
letzteren anzugeben, welcher bei den Vögeln nicht ebenfalls bemerklich würde. Man hat lange Zeit
das Gegentheil einer solchen Anschauung festgehalten und namentlich dem sogenannten Naturtrieb
oder Jnstinkt Beeinflussung des Vogels zuschreiben wollen, thut Dies wohl auch heutigentages noch,
gewiß aber nur deshalb, weil man entweder nicht beobachtet oder sich die Beobachtungen Anderer nicht
klar gemacht hat. Annahme eines sogenannten Naturtriebes ist, wie die Gebrüder Müller sehr
richtig sagen, "das begriffslose Auskunftsmittel einer Afterweisheit, welche den Jnstinkt für die
geleugnete Thierseele setzen will"; Annahme des Jnstinkts würde gleichbedeutend sein mit dem Glauben
an Offenbarung, an eine von außen her einwirkende, dem Geschöpfe nicht zum Bewußtsein kommende
Kraft, welche wohl den urtheilslos Glaubenden, nicht aber den forschend Prüfenden befriedigen mag.
"Man darf", so habe ich bereits im "Leben der Vögel" gesagt, "bei allen derartigen Fragen nicht
vergessen, daß unsere Erklärungen von gewissen Vorgängen im Thierleben kaum mehr als Annahmen
sind. Wir verstehen das Thier und sein Wesen im günstigsten Falle nur zum Theil. Von seinen
Gedanken und Schlußfolgerungen gewinnen wir zuweilen eine Vorstellung: inwieweit dieselbe aber
richtig ist, wissen wir nicht." Manches freilich erscheint uns noch räthselhaft und unerklärlich. Dahin
gehören Vorkehrungen, welche Vögel scheinbar in Voraussicht kommender Ereignisse treffen, ihr Auf-
bruch zur Wanderung, noch ehe der Mangel an Nahrung, welchen der Winter bringt, eingetreten,
Abweichungen von der sonst gewöhnlichen Art des Nestbaues oder die Fortpflanzung überhaupt,
welche sich später als zweckmäßig beweisen; hierher gehört auch, obschon mit wesentlicher Beschränkung,
die Wahrnehmung, welche wir bezüglich des sogenannten Kunsttriebes machen, und anderes mehr.
Viel richtiger als das Bestreben, solche noch unaufgeklärte Thatsachen einseitig erklären zu wollen,
würde sein, unsere einstweilige Unkenntniß rückhaltslos einzugestehen. Weitere Forschungen werden uns
die Erklärungen dieser scheinbaren Wunder gewähren, Leugnung dieser Wunder wenigstens zu weiterem
Forschen anspornen. Es ist bequem, des Menschengeistes aber unwürdig, da, wo das Verständniß
aufhört, dem Wunderglauben irgendwelches Recht einzuräumen; denn sowie wir von Uebernatürlich-
keit zu faseln beginnen, verlieren wir eben die Natur aus den Augen. Wer den Vögeln Verstand
und zwar sehr ausgebildeten, umfangreichen Verstand absprechen will, kennt sie nicht oder will sie nicht
kennen, weil er dem Menschen die unhaltbare Stellung der Halbgöttlichkeit zu retten hofft. Er ver-
gißt die Bildungsfähigkeit der Vögel, vergißt, daß man sie abrichten, zum Aus- und Einfliegen
gewöhnen, sprechen oder meinetwegen Worte nachplaudern lehren, also Etwas thun lassen kann, welches
mit der Annahme einer von außen her wirkenden, unbegreiflichen, also auch undenkbaren Kraft voll-

Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit.
Vögel, mit denen wir hierauf bezügliche Beobachtungen anſtellen; von einer Witterung aber, wie wir
ſie bei Säugethieren wahrnehmen, kann unter ihnen gewiß nicht die Rede ſein. Auch der Geſchmack
der Vögel ſteht dem der Säugethiere unzweifelhaft weit nach. Wir bemerken zwar, daß jene gewiſſe
Nahrungsſtoffe anderen vorziehen, und ſchließen daraus, daß es geſchehe, weil die gedachten
Stoffe für ſie einen höheren Wohlgeſchmack haben als andere; wenn wir uns aber erinnern, daß die
Biſſen gewöhnlich unzerſtückelt verſchlungen werden, erleidet eine etwaige Schlußfolgerung aus jener
Wahrnahme doch eine weſentliche Beeinträchtigung. Die Zunge iſt wohl mehr Werkzeug der
Empfindung als ſolches des Geſchmackes: ſie dient mehr zum Taſten als zum Schmecken. Bei nicht
wenigen Vögeln hat gerade der Taſtſinn in der Zunge ſeinen bevorzugten Sitz: alle Spechte, alle
Kolibris, alle Zahnſchnäbler unterſuchen mit ihrer Hilfe die Schlupfwinkel ihrer Beute und ſcheiden
dieſe durch ſie von ungenießbaren Stoffen ab. Nächſt ihr wird hauptſächlich der Schnabel zum
Taſten gebraucht, ſo z. B. von den Schnepfen und Zahnſchnäblern. Der Fuß kommt kaum in Betracht.
Der Sinn des Gefühls durch das Empfindungsvermögen ſcheint allgemein vorhanden und ſehr aus-
gebildet zu ſein: alle Vögel bekunden die größte Empfindlichkeit gegen Einwirkungen von außen,
gegen Einflüſſe der Witterung ſowohl als gegen Berührung.

Rückſichtlich der Fähigkeiten des Gehirns, welche wir als Verſtand und Gemüth unterſcheiden,
ſowie hinſichtlich des Weſens oder Charakters der Vögel gilt meiner Anſicht nach Alles, was ich früher
bezüglich der Säugethiere ſagte; ich wüßte wenigſtens keine Geiſtesfähigkeit, keinen Charakterzug der
letzteren anzugeben, welcher bei den Vögeln nicht ebenfalls bemerklich würde. Man hat lange Zeit
das Gegentheil einer ſolchen Anſchauung feſtgehalten und namentlich dem ſogenannten Naturtrieb
oder Jnſtinkt Beeinfluſſung des Vogels zuſchreiben wollen, thut Dies wohl auch heutigentages noch,
gewiß aber nur deshalb, weil man entweder nicht beobachtet oder ſich die Beobachtungen Anderer nicht
klar gemacht hat. Annahme eines ſogenannten Naturtriebes iſt, wie die Gebrüder Müller ſehr
richtig ſagen, „das begriffsloſe Auskunftsmittel einer Afterweisheit, welche den Jnſtinkt für die
geleugnete Thierſeele ſetzen will“; Annahme des Jnſtinkts würde gleichbedeutend ſein mit dem Glauben
an Offenbarung, an eine von außen her einwirkende, dem Geſchöpfe nicht zum Bewußtſein kommende
Kraft, welche wohl den urtheilslos Glaubenden, nicht aber den forſchend Prüfenden befriedigen mag.
„Man darf“, ſo habe ich bereits im „Leben der Vögel“ geſagt, „bei allen derartigen Fragen nicht
vergeſſen, daß unſere Erklärungen von gewiſſen Vorgängen im Thierleben kaum mehr als Annahmen
ſind. Wir verſtehen das Thier und ſein Weſen im günſtigſten Falle nur zum Theil. Von ſeinen
Gedanken und Schlußfolgerungen gewinnen wir zuweilen eine Vorſtellung: inwieweit dieſelbe aber
richtig iſt, wiſſen wir nicht.“ Manches freilich erſcheint uns noch räthſelhaft und unerklärlich. Dahin
gehören Vorkehrungen, welche Vögel ſcheinbar in Vorausſicht kommender Ereigniſſe treffen, ihr Auf-
bruch zur Wanderung, noch ehe der Mangel an Nahrung, welchen der Winter bringt, eingetreten,
Abweichungen von der ſonſt gewöhnlichen Art des Neſtbaues oder die Fortpflanzung überhaupt,
welche ſich ſpäter als zweckmäßig beweiſen; hierher gehört auch, obſchon mit weſentlicher Beſchränkung,
die Wahrnehmung, welche wir bezüglich des ſogenannten Kunſttriebes machen, und anderes mehr.
Viel richtiger als das Beſtreben, ſolche noch unaufgeklärte Thatſachen einſeitig erklären zu wollen,
würde ſein, unſere einſtweilige Unkenntniß rückhaltslos einzugeſtehen. Weitere Forſchungen werden uns
die Erklärungen dieſer ſcheinbaren Wunder gewähren, Leugnung dieſer Wunder wenigſtens zu weiterem
Forſchen anſpornen. Es iſt bequem, des Menſchengeiſtes aber unwürdig, da, wo das Verſtändniß
aufhört, dem Wunderglauben irgendwelches Recht einzuräumen; denn ſowie wir von Uebernatürlich-
keit zu faſeln beginnen, verlieren wir eben die Natur aus den Augen. Wer den Vögeln Verſtand
und zwar ſehr ausgebildeten, umfangreichen Verſtand abſprechen will, kennt ſie nicht oder will ſie nicht
kennen, weil er dem Menſchen die unhaltbare Stellung der Halbgöttlichkeit zu retten hofft. Er ver-
gißt die Bildungsfähigkeit der Vögel, vergißt, daß man ſie abrichten, zum Aus- und Einfliegen
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[982/1036] Ein Blick auf das Leben der Geſammtheit. Vögel, mit denen wir hierauf bezügliche Beobachtungen anſtellen; von einer Witterung aber, wie wir ſie bei Säugethieren wahrnehmen, kann unter ihnen gewiß nicht die Rede ſein. Auch der Geſchmack der Vögel ſteht dem der Säugethiere unzweifelhaft weit nach. Wir bemerken zwar, daß jene gewiſſe Nahrungsſtoffe anderen vorziehen, und ſchließen daraus, daß es geſchehe, weil die gedachten Stoffe für ſie einen höheren Wohlgeſchmack haben als andere; wenn wir uns aber erinnern, daß die Biſſen gewöhnlich unzerſtückelt verſchlungen werden, erleidet eine etwaige Schlußfolgerung aus jener Wahrnahme doch eine weſentliche Beeinträchtigung. Die Zunge iſt wohl mehr Werkzeug der Empfindung als ſolches des Geſchmackes: ſie dient mehr zum Taſten als zum Schmecken. Bei nicht wenigen Vögeln hat gerade der Taſtſinn in der Zunge ſeinen bevorzugten Sitz: alle Spechte, alle Kolibris, alle Zahnſchnäbler unterſuchen mit ihrer Hilfe die Schlupfwinkel ihrer Beute und ſcheiden dieſe durch ſie von ungenießbaren Stoffen ab. Nächſt ihr wird hauptſächlich der Schnabel zum Taſten gebraucht, ſo z. B. von den Schnepfen und Zahnſchnäblern. Der Fuß kommt kaum in Betracht. Der Sinn des Gefühls durch das Empfindungsvermögen ſcheint allgemein vorhanden und ſehr aus- gebildet zu ſein: alle Vögel bekunden die größte Empfindlichkeit gegen Einwirkungen von außen, gegen Einflüſſe der Witterung ſowohl als gegen Berührung. Rückſichtlich der Fähigkeiten des Gehirns, welche wir als Verſtand und Gemüth unterſcheiden, ſowie hinſichtlich des Weſens oder Charakters der Vögel gilt meiner Anſicht nach Alles, was ich früher bezüglich der Säugethiere ſagte; ich wüßte wenigſtens keine Geiſtesfähigkeit, keinen Charakterzug der letzteren anzugeben, welcher bei den Vögeln nicht ebenfalls bemerklich würde. Man hat lange Zeit das Gegentheil einer ſolchen Anſchauung feſtgehalten und namentlich dem ſogenannten Naturtrieb oder Jnſtinkt Beeinfluſſung des Vogels zuſchreiben wollen, thut Dies wohl auch heutigentages noch, gewiß aber nur deshalb, weil man entweder nicht beobachtet oder ſich die Beobachtungen Anderer nicht klar gemacht hat. Annahme eines ſogenannten Naturtriebes iſt, wie die Gebrüder Müller ſehr richtig ſagen, „das begriffsloſe Auskunftsmittel einer Afterweisheit, welche den Jnſtinkt für die geleugnete Thierſeele ſetzen will“; Annahme des Jnſtinkts würde gleichbedeutend ſein mit dem Glauben an Offenbarung, an eine von außen her einwirkende, dem Geſchöpfe nicht zum Bewußtſein kommende Kraft, welche wohl den urtheilslos Glaubenden, nicht aber den forſchend Prüfenden befriedigen mag. „Man darf“, ſo habe ich bereits im „Leben der Vögel“ geſagt, „bei allen derartigen Fragen nicht vergeſſen, daß unſere Erklärungen von gewiſſen Vorgängen im Thierleben kaum mehr als Annahmen ſind. Wir verſtehen das Thier und ſein Weſen im günſtigſten Falle nur zum Theil. Von ſeinen Gedanken und Schlußfolgerungen gewinnen wir zuweilen eine Vorſtellung: inwieweit dieſelbe aber richtig iſt, wiſſen wir nicht.“ Manches freilich erſcheint uns noch räthſelhaft und unerklärlich. Dahin gehören Vorkehrungen, welche Vögel ſcheinbar in Vorausſicht kommender Ereigniſſe treffen, ihr Auf- bruch zur Wanderung, noch ehe der Mangel an Nahrung, welchen der Winter bringt, eingetreten, Abweichungen von der ſonſt gewöhnlichen Art des Neſtbaues oder die Fortpflanzung überhaupt, welche ſich ſpäter als zweckmäßig beweiſen; hierher gehört auch, obſchon mit weſentlicher Beſchränkung, die Wahrnehmung, welche wir bezüglich des ſogenannten Kunſttriebes machen, und anderes mehr. Viel richtiger als das Beſtreben, ſolche noch unaufgeklärte Thatſachen einſeitig erklären zu wollen, würde ſein, unſere einſtweilige Unkenntniß rückhaltslos einzugeſtehen. Weitere Forſchungen werden uns die Erklärungen dieſer ſcheinbaren Wunder gewähren, Leugnung dieſer Wunder wenigſtens zu weiterem Forſchen anſpornen. Es iſt bequem, des Menſchengeiſtes aber unwürdig, da, wo das Verſtändniß aufhört, dem Wunderglauben irgendwelches Recht einzuräumen; denn ſowie wir von Uebernatürlich- keit zu faſeln beginnen, verlieren wir eben die Natur aus den Augen. Wer den Vögeln Verſtand und zwar ſehr ausgebildeten, umfangreichen Verſtand abſprechen will, kennt ſie nicht oder will ſie nicht kennen, weil er dem Menſchen die unhaltbare Stellung der Halbgöttlichkeit zu retten hofft. Er ver- gißt die Bildungsfähigkeit der Vögel, vergißt, daß man ſie abrichten, zum Aus- und Einfliegen gewöhnen, ſprechen oder meinetwegen Worte nachplaudern lehren, alſo Etwas thun laſſen kann, welches mit der Annahme einer von außen her wirkenden, unbegreiflichen, alſo auch undenkbaren Kraft voll-

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 982. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/1036>, abgerufen am 22.11.2024.